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10 Stunden Hive – für Konfetti, Trockenficken und Einhörner

Wenn um 06:30 jemand schreit „MDMA für Afrika!", war die Vornacht gut.
Alle Fotos zur Verfügung gestellt von Extraleben

Die Gespräche mit dem Türsteher vom Hive waren letzten Samstag anders als sonst: „Chan ich iegoh? I bi nur wägem Theaterstück do."—„Nur wägem Theaterstück—nochher widr go?" Heute tritt Extraleben mit „A Lovely Piece of Shit" im Hive auf.

„A Lovely Piece of Shit" ist ein Club-Theaterstück. Extraleben tourt damit durch die Clubs der Deutschschweiz, heizt in einer ersten Tranche vor dem Ausgang ein—im Hive um 22:30 Uhr—und zwingt die Theatergänger dann dazu, die ganze Nacht durchzutanzen, denn die zweite Konfettikanonen-Salve, die zweite Hälfte des Stücks („Scheisse"), wird am frühen—nicht mehr ganz so frühen—Morgen aufgeführt.

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„A Lovely Piece of Shit" steigt am Anfang ein und zwar ganz am Anfang: Mit Babyotter-Geräuschen und „My little Pony"-Augen quiekt sich ein Spieler durch die Geschichte des Universums. Damit beginnt das Stück; Extraleben gibt Gas, als hätten sie grad alle einen Fressanfall von Pilzen in Mario Kart hinter sich. Die Dauerpointe „Existenzängste?!"—„Champagner!" zieht jedes Mal, Schwanzvergleiche werden mit Konfettikanonen aller Kaliber ausgetragen und bald finden wir uns in einer Glitterdemo mit Fahnen und Schildern. Auf den letzteren steht: „Wo ist das Einhorn?" Das Einhorn, das uns im Programmtext versprochen wurde. Wo ist das Einhorn?

Foto von Ana Hofmann

„Willkommen im Wummerland!"—„Willkommen im Wummerland!" Die Demo trifft im Keller des Hives ein. Wer nicht zu den Demonstranten gehört, ist noch verschämt, denn es ist zu früh und die Leute sind zu nüchtern. Aber die mit Extraleben gedopte Wummerland-Gemeinschaft geht aus dem Demofeeling direkt in den Tanz über. Die Wummerland-Gemeinschaft muss nicht auf die kritische Masse Clubbesucher warten, bevor sie sich bewegen kann.

Da sich die Glitter-Demonstranten nach und nach mit den normalen Ausgängern vermischen, wird Alkohol und anderes wichtiger. Ich trinke Bier, denn Existenzängste habe ich keine, sonst würde ich mir Champagner leisten. Wenn ich mir Champagner leisten würde, hätte ich Existenzängste. Champagner und Existenzängste scheinen jedenfalls eng verknüpft zu sein. Etwa so wie Club und Theater, denn obwohl Extraleben die Spassgesellschaft kritisieren wollen, heizt die erste Stückhälfte für das Selbstvergessen und Bass anbeten im Ausgang ein.

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Extraleben erholt sich aber nicht auf einer Backstage-Pritsche, sondern schockiert die normalen, vielleicht von Drogen, aber nicht von Hochkultur degenerierten Menschen die ganze Nacht lang mit Wummerland-Erfahrungen: Ein Astronaut und ein Hybrid aus Affe, Transvestit und mexikanischem Wrestler schmieren alle mit Glitzer voll; am liebsten schmieren sie es dir in die Augen.

Morgens um 2:00 Uhr verabschiedet sich meine Begleitung. Sie kann sich aus dem Rausch zurückziehen, aber ich habe noch 4,5 Stunden vor mir. Irgendwann klopft mir Alex Flach vor den Klos auf den Bauch: „Riss dich eifach es bitzli zäme, Benj!" Irgendwann rempelt mich im Zwischenstock eine Blondine an: „Hesch du ächt MDMA? Nüm? Und kennsch au niemer, wo hed?" Morgens um 5:00 Uhr treffe ich die beste Freundin meines besten Freundes und bin schockiert, dass sie vollkommen nüchtern ist. Ich sage zwar, ihre Pupillen seien gross, aber glaube ihr, dass sie nur auf Red Bull ist. Die Minigrip-Säckli auf dem Boden werden mehr, die Nacht wird länger.

Alle 30 Minuten wechsle ich den Floor, jede volle Stunde geh ich rauchen. Ausgang als Dauerlauf—ich stosse gleich viel Endorphine aus, wie wenn ich einen Halbmarathon renne. Ich empfinde dasselbe Glück wie sich selbst geisselnde Opus Dei-Jünger empfinden. Ich fühl mich wohl, natürlich auch dank Substanzen. Die Regeln meiner Religion für die Nacht schreibt der Bass.

Um 06:30 Uhr sitze ich unten im Hive auf einem Sofa. Neben mir dreht sich einer einen Joint und fragt, ob es in Friedas Büxe noch mehr abgehe. Der Transvestiten-Affe dreht Runden über den Dancefloor und spricht: „Ein—Ein—horn—lebt—im—Wummer—land." Ein anderer Spieler ergänzt: „Es liebt den Bass. Es liebt den Bass." Der DJ spricht ins Mikro: „Guten Morgen und herzlich willkommen bei Radio Wummerland!" Es wird nach Ketamin geschrien und der Austronaut von vorhin erklärt in einer Art TED-Talk, weshalb sein Handyakku unnütze Opfer habe: Die Familie, die bei der Produktion des Akkus gestorben ist, hätte es verdient, dass die Akkulaufzeit wenigstens etwas länger wäre. Das neue Entwicklungshilfe-Projekt „MDMA für Afrika!" wird vorgestellt und die besorgten Bürger von „Patriotische Einhörner gegen das Ende des Abends" schliessen sich zusammen. (Übrigens sind wir jetzt alle Einhörner, spitzen Partyhüten sei dank.)

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Die, die das schauen wollen, schauen gebannt. Aber zwischendurch verirren sich auch Partypeople von oben in die Vorstellung: Hinter den Spielern lässt sich ein Pärchen beim Rummachen nicht stören; eine andere kommt von oben runter, steht vor die Spieler, zeigt ihnen den Mittelfinger und geht wieder hoch. Auch die, die das Stück („Scheisse") sehen wollen, sind aktiv. Leute rufen rein: „Frodo, i ha de Ring!" Eine kurzhaarige Blondine ist völlig fertig und ruft: „Hesch es öppe mit dine Predigte?" Und ja—ja: Ich werde trockengefickt. Als ich realisiere, was der Spieler will, kauere ich mich als Embryo zusammen und lasse es über mich ergehen.

Foto von Ana Hofmann

Nach einer Nacht Hive ist mein Kopf derart Matsch, dass sich der ganze Glitter, die ernstgemeinte Hedonismus-Kritik und die Pointen zu einem wundersamen Willy Wonka-Wummerland-Ganzen vermengen. Es war wunderbar—ein Ausflug in das Gehirn des unehelichen Kinds von Terry Gilliam und Tim Burton. Als ich oben bei der Garderobe meinen Mantel hole, sehe ich die tanzende Meute in der Morgensonne. Als ich rausgehe, ist eine lange Schlange vor der Geroldchuchi. Burger um 8:30, so weit ist es schon.

Ausgelaugter Benj auf Twitter: @biofrontsau

Vice Switzerland auf Twitter: @ViceSwitzerland

Die nächsten Vorstellungen von „A Lovely Piece of Shit" sind am 21.3, Mehrspur Zürich / 10.4, Hinterhof Basel / 20.6 Südpol bei Luzern