Viel mehr Gründe, warum Wien die beschissenste Stadt der Welt ist

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Viel mehr Gründe, warum Wien die beschissenste Stadt der Welt ist

Weil die Kaffeehaus-Kultur so echt ist wie Disney-Land, die Wiener Unfreundlichkeit mit Charakter verwechseln und es mehr Regeln als Einwohner gibt. Herzlich willkommen, Gschissener.

Foto von Tanja Malle, mit freundlicher Genehmigung

Wien gilt als Geburtsort des Schnitzels, Wiege der Hochkultur und Stadt mit der höchsten Lebensqualität. Das klingt so weit ziemlich sensationell, bis man die eine Sache tut, die Wiener am wenigsten ausstehen können: nämlich ihre Postkarten-Idylle hinterfragen.

Dann bemerkt man ziemlich schnell, dass das Schnitzel eigentlich aus Mailand kommt, die Hochkultur hier nur noch im Museum existiert und die Daten zur Lebensqualität von einem Personalunternehmen erhoben werden, das alljährlich gut situierte Auslandsmitarbeiter befragt, in welcher Stadt man sich mit viel Taschengeld am besten vor der rauen Realität des 21. Jahrhunderts verstecken kann.

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Das alles habe ich ansatzweise schon 2014 mal gesagt—und zwar in einem Artikel mit dem Titel "Gründe, warum Wien die beschissenste Stadt der Welt ist". Die Reaktionen darauf waren ein buntes Potpourri aus Hass-Mails und aufschlussreichen Kommentaren wie zum Beispiel: "Geh nach München und mach einen auf Haiti-Taiti-Gesellschaft, du HuSo!" und ließen mir keine andere Wahl, als die Sache richtigzustellen—und zwar mit einem zweiten Artikel namens "Mehr Gründe, warum Wien wirklich die beschissenste Stadt der Welt ist".

Irgendwann reichte dann aber auch das längste Online-Listicle der Welt nicht mehr, um wirklich alle Gründe und jeden Hasskommentar gebührend zu feiern und ich habe das einzig Logische gemacht, was man als zugezogener Wiener, der anderen Wienern mit ihrem Städte-Grant auf die Sprünge helfen will, machen kann: Ich habe ein Buch über das Thema geschrieben. Es heißt 111 Gründe, Wien zu hassen, ist bei Schwarzkopf & Schwarzkopf in Berlin erschienen und soll ein für alle Mal zeigen, wie die Stadt wirklich ist.

Nämlich ein Ort des charmanten, walzertanzenden Selbstbetrugs und der weltbürgerlichen Verlogenheit. Hinter jedem "Küss die Hand" lauert ein "Heast, Gschissener", hinter jedem Minderwertigkeitskomplex ein bisschen Größenwahn—und hinter fast jeder Ecke ein Haufen Hundescheiße.

VICE präsentiert am 2. November ab 19:00 Uhr eine Lesung aus dem Buch im Wiener Schikaneder. Hier geht's zum Facebook-Event. Hier könnt ihr das Buch bestellen. Und hier sind schon mal ein paar Gründe zur Einstimmung:

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Wegen Roland Düringer und dem Wutbürgertum

Auf eine unfreiwillige (und deshalb auch sehr österreichische) Art lustig ist der Ex-Kabarettist Roland Düringer, der seinen Verstand irgendwann im letzten Jahrzehnt gegen Perleneinsätze in seinem Kinnbart getauscht hat und seither der prominenteste Proponent der Chemtrails-Fraktion in der österreichischen Öffentlichkeit geworden ist. Begonnen haben dürfte die Metamorphose mit Düringers Brandrede in der Sendung Dorfers Donnerstalk , mit der er in etwa zur Zeit der Pegida-Formierung in nur dreieinhalb Minuten das österreichische "Wutbürgertum" aus dem Boden stampfte (von wo es sich dann auch nicht sonderlich weit erhob und gemeinsam mit Düringers fachlichem Flatlining zwischen Weltwirtschaftskritik, Lügenpresse und KenFM-Apologie herum grundelte). Kafka hätte die Verwandlung vielleicht so beschrieben: "Als Roland Düringer eines Morgens aus einer unpolitischen Karriere erwachte, fand er sich in einer TV-Sendung zu einem ungeheueren Wutbürger verwandelt."

Denn es war, wie so oft bei Veränderungen, ein Umschwung ins radikale Gegenteil. Zuvor war Düringer nämlich als Haus- und Hofprolet der Wiener Kabarettisten-Riege bekannt. Seine Programme hießen Benzinbrüder, 250 ccm/Die Viertelliterklasse, Hinterholzacht und Superbolic und kreisten um so apolitische Themen wie Autos, Motorräder oder Hausbau-Wahnsinn—immer mit dem nötigen distanziert-österreichischen Twist, der offen ließ, ob er das, was er spielte, auch wirklich verkörperte oder nicht vielleicht doch nur einen klugen Gesellschaftskommentar auf die porträtierte Klasse abgab. In der Serie Kaisermühlen Blues legte er mit der Rolle des "Joschi" Täubler einen Hochstapler und Ex-Knasti hin, über den man nur lachen wollte, weil Düringer so liebevoll nah an der Figur dran war und man so den Vorwurf des Sozialpornografischen ein bisschen abstreifen konnte.

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Dass Düringer vom Belächelten zum, naja, noch mehr Belächelten wurde, ist aber gar nicht so lustig, sondern steht eher exemplarisch für die Metamorphose vieler, die ausgerechnet aus dem Gefühl heraus, verarscht worden zu sein, den nächsten Verarschern ins Netz gehen, die mit mindestens genauso einfachen Antworten und Welterklärungsmodellen locken wie man es dem kapitalistischen Konsumsystem mit seiner gefügigen Lügenpresse gerne unterstellt. Es ist ein Paradebeispiel dafür, was passiert, wenn man zu viele Fragen hat und sich mit zu wenigen Antworten zufrieden gibt.

Wer an allem zweifelt, was die großen Systemmedien veröffentlichen, aber kein bisschen skeptisch wird, wenn ein einzelner Blogger die Wahrheit ohne Quellenangaben für sich beansprucht, der geht nur den halben Weg zum aufgeklärten Bürger – und lässt sich die restliche Strecke von Mama oder Ken Jebsen an einen Zielort fahren, den man sich, wie jedes Kind, nicht wirklich bewusst aussucht. Im Extremfall bleibt man dort dann sogar als Erwachsener wohnen und wird selbst zu einem dieser Blogger, die andere (mit den besten Absichten, aber nicht den saubersten Methoden) von den eigenen Ansichten überzeugen, indem man die Dinge glättet, Zusammenhänge vereinfacht und mit parawissenschaftlichen Einsprengseln (sei es aus dem Feld Psychologie, Wirtschaft oder, sehr beliebt, Quantenphysik) durchsetzt.

Zumindest physisch wohnt Roland Düringer nicht mehr im Hotel Mama. Er lebt vielmehr als Selbstversorger—und wer seine etwas mäandernden Videos und Pegida-Befürwortungen kennt, möchte vielleicht meinen: auch geistig. Inzwischen hat Düringer für seine total "edgy" Weltsicht jedenfalls auch eine Fernsehsendung bekommen, in der er Leute auf ihre Aluhut-Kompatibilität testet. Was die geneigten Wutbürgertums-Fans dabei nicht vergessen sollten: Auch Wutbürgertum ist immer noch Bürgertum und Fan kommt eben von Fanatiker.

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Weil Wien der Welt immer noch um Jahre hinterherhinkt

Gustav Mahler sagte mal vor längerem: "Wenn die Welt einmal untergehen sollte, ziehe ich nach Wien, denn dort passiert alles 50 Jahre später." Aus heutiger Sicht sind 50 Jahre eine ziemlich lange Zeit. Allerdings braucht man das Gustav Mahler nicht erzählen, der erstens in einer Epoche lebte, in der die durchschnittliche Lebenserwartung 35,6 Jahre betrug—und der zweitens selbst im Alter von 50 Jahren gestorben ist. Und zwar in Wien. Das ist zwar nicht im engeren Sinne ironisch, aber irgendwie doch zumindest typisch wienerisch: Da lässt man sich einmal zu einer konkreten Aussage hinreißen und schon kassiert man vom Schicksal die Abfuhr. Der Wiener würde wohl sagen: "Naja. Zumindest das Sterben dauert nicht 50 Jahre länger. 100 ist der Mahler ja nicht geworden."

Alleine schon deshalb werde ich mich hüten, die Zeitverzögerung zwischen Wien und dem Rest der Welt mit einer konkreten Jahreszahl zu beziffern. Stattdessen sage ich nur: Wien kann durchaus wie Berlin sein—aber eben wie das Berlin der frühen 00er-Jahre. Seit zirka 2014 haben die ersten Wiener auch verstanden, dass es eine Zielgruppe für teures Essen in billiger Kantinenatmosphäre gibt und Bioprodukte manchmal sogar wirklich nach Natur aussehen dürfen. Heute haben manche Bars sogar Slow Gin und ein paar Cafés schenken tatsächlich Chai Latte aus, obwohl man es "Chai mit Milch" nennt.

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Um den leichten zeitlichen Lag auszugleichen, hat das Bundesumweltamt inzwischen gefordert, Österreich zumindest verkehrstechnisch einen Öko-Boost zu verpassen und bis 2020 vollständig auf Elektroautos umzustellen. Und das in einem Land, dass es bis heute nicht geschafft hat, ein halbwegs stringentes Nichtrauchergesetz für Gastronomiebetriebe zu verabschieden. Ich möchte mich wie gesagt auf keine Jahreszahl festlegen. Lasst mich nur sagen: Wir halten uns für New York, aber in Wahrheit sind wir New Jersey. Und dort wollte nicht nur Gustav Mahler nicht sterben.

Weil es nirgendwo sonst den Meiselmarkt gibt

Es gibt Architektur, die Touristen anzieht. Und es gibt den Meiselmarkt. Viele würden auf die Frage nach dem hässlichsten Platz der Stadt wahrscheinlich den Mexikoplatz, das Neue Institutsgebäude der Uni Wien oder ein x-beliebiges Stück Industriegebiet an der Gudrunstraße nennen, aber das wäre zu kurz gedacht. Der Meiselmarkt ist das ästhetische Zuendedenken all dieser Plätze.

Würde Rainer Werner Fassbinder heute noch leben, wäre dieser Platz wahrscheinlich der Ort, an dem er einen Science-Fiction-Film über kettenrauchende Roboter mit sehr gebrochenen Seelen drehen würde. Er würde "Meta-Statis Meisel" heißen, dreieinhalb Stunden dauern und großteils mit den Lichtbrechungen im Obstabwasser spielen.

Der Meiselmarkt ist von außen nicht besonders schön und sieht von innen aus wie die Gänge einer Grundschule, die für eine Themenwoche zu "Lebensmittel aus aller Welt" umdekoriert wurde. Er liegt im 15. Wiener Gemeindebezirk—an einer Kreuzung, die ihre Blütezeit erlebte, als es in der Nähe noch Gras-Lokale gab—und versprüht das vibrierende Flair jener Gegenden in GTA, in denen man nur landet, wenn man zehn Minuten lang auf seinem Controller eingeschlafen ist. In dem hypnotischen Treiben aus Funktionalität und Fadesse können sich Blicke regelrecht verlieren, werden für ihr Verharren aber in der Regel mit einem pitoresken Eyecatcher in Gestalt einer schlaffen Österreichflagge belohnt—quasi die Cocktailkirsche unter den Meiselmarkt-Attraktionen.

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Oder um es mit dem berühmten österreichischen Musikjournalisten und regionalen Abgrundforscher Christian Schachinger zu sagen, der dem Markt ein eigenes Facebook-Album widmete: "Sechs Mal Meiselmarkt unter den ersten fünf Plätzen".

Weil wir uns am liebsten aus Prinzip aufregen

Foto von David Bogner, VICE Media

Wien ist sicher. Wien ist sauber. Wien ist so aufgeräumt und zurechtgezupft, dass es sich auf den ersten Blick kaum von seinem Kartenabbild auf Google Maps unterscheidet (abgesehen von den Tierexkrementen, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis Google Streetview in Wien den Blickwinkel eines scheißenden Hundes anbietet und auch diese letzte Diskrepanz beseitigt ist). In Wien gibt es keine Müllberge, keine ausgeschlachteten Autokarossen, keine wirklich verwahrlosten Gegenden. Wien ist wie eine Filmkulisse oder ein Adventure-Spiel: Es gibt keine Zufälle und jeder Gegenstand, der irgendwo herumsteht, tut dies mit voller Absicht und aus sehr gutem Grund.

Deshalb ist es auch kein Wunder, dass Wiener über die Zeit gelernt haben, sich bei jedem Objekt, das aus dem perfekt manikürten und gestreamlineten Stadtbild heraussticht, zu fragen, was es damit auf sich hat und was das bitteschön soll. Der Instinkt sagt uns: Wenn ein Mülleimer schiefsteht, liegt vielleicht mehr im Argen. Wo ein Auto parkt, obwohl es nicht darf, dort ist der bewaffnete Banküberfall nur den Wimpernschlag einer schnell blinzelnden Dame, die vom Balkon aus nach Alltagstragödien Ausschau hält, entfernt. Wien bildet gemeinsam mit Zürich und Luxemburg die Eckpunkte eines Bermudadreiecks, in dem nicht Schiffe, sondern Verunreinigungen und statistische Ausreißer verschwinden. Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es auf so wenig Platz so viele der saubersten Städte der Welt (Stand 2015) wie in diesem zentraleuropäischen Dreieck der Biederkeit.

Und weil wir unter keinen Umständen riskieren wollen, dass sich daran etwas ändert, sind wir besonders achtsam, wenn es darum geht, darauf hinzuweisen, dass sich manche Dinge nicht so gehören oder gefälligst anders zu sein hätten. Da ist es nur Recht, kopfschüttelnd neben jemandem stehen zu bleiben, der augenscheinlich zu viel Spaß hat (er könnte ja seine Umwelt mit hineinziehen) oder auch wild zu hupen, wenn jemand eine Straße wenige Zentimeter neben dem Zebrastreifen (und dann vielleicht auch noch leicht schräg statt in aller gebotenen Unterordnung gegenüber der städteplanerischen 90-Grad-Geometrie) überquert. Wenn dann auch noch jemand bei Rot über die Straße geht, kann man sich sicher sein, dass die Person von anderen Fußgehern aufs Schärfste verurteilt und ermahnt wird; vorzugsweise nicht in der direkten Ansprache, sondern über den Umweg der Kommunikation mit dem eigenen Kind oder Hund: "Schau, Waldi/Angelika, das ist ein schlimmer Mensch, der bei Rot über die Straße geht und keinen Respekt vor seinem Leben hat."

Dass meistens weit und breit kein Auto kommt, tut nichts zur Sache. Es geht eben nicht um reelle Gefahren, es geht ums Prinzip. Man macht gewisse Dinge einfach nicht, sonst könnte ja jeder kommen und alles machen. Das beginnt vielleicht beim Überqueren einer Kreuzung, aber es endet damit, dass Menschen zu Wilden degenerieren und auf offener Straße defäkieren.

In der Medienpsychologie gibt es den Grundsatz: Je näher etwas passiert, umso betroffener ist man auch emotional davon. In Wien gibt es das Motto: Je weniger betroffen man ist, umso besser lässt es sich darüber aufregen. Aus Prinzip. Weil sonst ja jeder kommen könnte.

Markus auf Twitter: @wurstzombie