2016, du hast meinen politischen Optimismus zerstört
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2016, du hast meinen politischen Optimismus zerstört

Die Menschen tun nicht mehr so, wie man es von ihnen erwartet, sondern wählen Trump, Hofer oder Brexit. Was ist da los?

Am 10. Oktober 2015 ging ich gegen 01:15 Uhr ins Bett und ich hatte ein gutes Gefühl dabei. Im Vorfeld der Wien-Wahl, die am nächsten Tag stattfinden würde, hatten zwar auch viele Kollegen und Meinungsforscher—zumindest privat—befürchtet, dass Straches FPÖ die Häupl-SPÖ überholen könnte. Aber ich nicht wirklich. Nicht, weil ich so ein toller Vorhersage-Hecht bin, sondern weil ich meinem Grundgefühl vertraut habe. Zusätzlich zu allen inhaltlichen und demografischen Diskussionen hat mir einfach mein Bauch gesagt: Das geht sich aus. Knapp 17 Stunden später war klar: Mein Bauch lag richtig.

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Am 23. Juni diesen Jahres ging ich ebenfalls gegen 01:30 Uhr in Bett, und ich hatte wieder ein gutes Gefühl dabei. Die ersten Umfragen hatten für das Brexit-Referendum einen Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU vorausgesagt. Ich wusste zwar, dass das aussageschwache Online-Polls und die ersten Ergebnisse eher LEAVE-freundlich waren, aber mein Bauch sagte mir: Das wird schon. Ich wachte auf, und Europa lag im Chaos.

Ich bin alles andere als ein unverbesserlicher Optimist, aber auch kein haltloser Zyniker. Ich hab mein ganzes Leben lang ein politisches Grundvertrauen darin gehabt, dass der Worst Case ausbleiben wird. Dass es in der Wahlbevölkerung immer eine halbwegs solide Mehrheit für die Vernunft geben würde. Und dass sich immer genug Menschen am Ende doch dafür entscheiden würden, nicht offenen Auges ins Messer zu laufen. Und das hat sich immer bewahrheitet.

Ich wünschte, ich könnte etwas anderes sagen, aber das Jahr 2016 hat dieses Grundvertrauen entschieden angeknackst.

Es ist ein seltsames Jahr. Gar nicht nur, weil man fassungslos dabei zuschauen kann, wie sich am Rand von Europa mit der Türkei gerade eine Demokratie im Zeitraffer in eine Diktatur verwandeln könnte. Sondern auch, weil Menschen kollektiv Entscheidungen treffen, die sie eigentlich nach der politischen Logik nicht treffen sollten. Nur zur Klarstellung: Ich rede hier wirklich vom schlimmsten möglichen Fall. Es geht nicht darum, dass die Leute das wählen sollen, was ich wähle oder glauben müssen, was ich glaube. Ob jemand SPÖ, ÖVP oder Neos wählt, für oder gegen die Obergrenze ist, die Mindestsicherung ausbauen oder kürzen will—das sind alles politische Fragen und Entscheidungen, für die es mehr oder minder gute Argumente gibt und die jeder für sich treffen muss. Um die soll es hier nicht gehen.

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Es geht um fundamentale Fragen, in denen sich die Experten überwiegend einig sind. Im Vereinigten Königreich hatten neun von zehn Ökonomen, Gewerkschaften und Industrielle dieselbe Position: Der Brexit schadet dem Land. Ex-Politiker, Schauspieler, Musiker, Sportler, sie alle engagierten sich für die REMAIN-Kampagne. Die einzigen prominenten Fürsprecher für einen Austritt aus dem Kulturbereich waren Mick Jagger und Michael Caine, danach ging es schon mit Leuten wie Elisabeth Hurley weiter, deren Stern jetzt unbestritten nicht mehr in der vordersten Reihe leuchtet. Alles sprach gegen einen Brexit. Das Ergebnis ist bekannt.

Nicht ganz in derselben Intensität, aber grundsätzlich nicht unähnlich, war die Lage im Vorfeld des zweiten Durchgangs bei der Bundespräsidentschaftswahl in Österreich. Das Team Alexander Van der Bellen hatte letztlich eine doch beeindruckende Unterstützungsbewegung aufgestellt. Die Medien schlugen sich weitgehend auf die Seite des Professors, ebenso wie Prominente, die gesammelte Kulturszene und viele aktive und inaktive Politiker. Und wer nicht dabei war, blieb zumindest still. Die öffentlichen Unterstützer von Nobert Hofer außerhalb der FPÖ konnte man wahrscheinlich an zwei Händen abzählen.

Und doch gelang Hofer beinah etwas, was lange Zeit niemand für möglich gehalten hätte: Mehr als 50 Prozent für eine rechtspopulistische Partei bei einer landesweiten Wahl einzufahren. Auch wenn die angebliche "gläserne Decke", welche die FPÖ angeblich gar nicht durchstoßen könnte, mit den Jahren immer weiter nach oben geschoben wurde, sprach nach der politischen Logik viel dagegen. Rechtspopulistische Parteien sprechen zu wenig Frauen und zu wenig Gebildete an, um über die 50 Prozent zu rutschen. Und in einer Stichwahl würde sich das ganze Land wie damals beim alten Le Pen und Chirac um den bürgerlichen Kandidaten scharen. Damit beruhigten wir uns, und es klang einleuchtend. Doch Hofer gelang der virtuelle Gleichstand. Man wird sehen, was der Oktober bringt.

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Irgendwas passiert da gerade. Und dieser weiße, bürgerliche, akademisch gebildete Journalist sitzt in Wien ein bisschen fassungslos auf seiner Couch. Und es gefällt ihm nicht.

Ich darf mit meiner Stimme machen, was ich will. Zum Beispiel etwas völlig Irrationales tun.

Die freie, demokratische Wahl ist im Grunde etwas Radikales. Die Wahl ist gleich: ein Mensch, eine Stimme, sei es die Bundeskanzlerin oder der Installateur. Die Wahl ist frei: Ich darf mit meiner Stimme machen was ich will. Ich darf sie jedem geben, ich darf sie verschwenden, ich darf weiß wählen. Und natürlich darf ich mich auch irrational entscheiden.

Vielleicht auch, weil man sich nicht mehr von Politikern im Fernsehen oder Journalisten auf der Couch definieren lassen will, was "rational" ist. Nichts ist würdeloser als den eigenen Bedeutungsverlust zu beweinen. Deshalb soll das an dieser Stelle auch nicht passieren. Medien und die so genannte "Meinungselite" haben sich vieles von dem, was da gerade passiert, selbst eingebrockt. Das war keine höhere Gewalt. Und wenn es eine Rebellion ist, dann ist es auch eine Rebellion gegen solche Texte hier.

Man muss natürlich vorsichtig sein. Solche Thesen entwickeln sich ja gerne aus einem conformation bias heraus. Einfacher gesagt: Ich erinnere mich eher an die Wahlen und Entscheidungen, wo es schief gegangen ist. Aber gehen wir mal von der schwer quantifizierbaren Arbeitshypthese aus, dass wir in einer Welt leben, in der Wähler in zunehmenden Ausmaß ihre Stimme irrational verwenden. Warum wählen sie Trump oder treten aus der EU aus, obwohl ihnen doch alle sagen, dass das eine ziemlich schlechte Idee ist? Dafür muss es Gründe geben.

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These 1: Die Kluft ist größer geworden

Anfang Juni war Michael Gove, prominenter Kopf der LEAVE-Kampagne, der später auch kurz als Kandidat für Camerons Nachfolge gehandelt wurde, Gast in einer TV-Diskussion. Dort wurde gefragt, ob er einen Ökonomen nennen könne, der den Brexit befürworte. Statt einen der wenigen zu nennen, sagte Gove zum Moderator : "Ich glaube, die Leute in diesem Land haben genug von den Experten."

Ein Affront. Ein unglaublich dummer, dreister und wahrscheinlich wahrer Satz. Tatsächlich scheint die Kluft zwischen den Eliten und den Bürgern heute größer zu sein als früher. Die ideelle, aber auch die räumliche. Niemand hat Hofers Sieg im ersten Wahlgang vorausgesehen. Warum auch? Wien, wo sich die Journalisten und Bundespolitiker bewegen, war Van-der-Bellen-Land. Wenn sogar der türkischstämmige Taxler VdB wählt, braucht man daran ja nicht zu zweifeln. Und die Meinungsforscher haben auch wieder daneben gelegen.

Das Land ist nicht gespalten, aber es gibt Bruchlinien, die manchmal gar nicht dort liegen, wo es am auffälligsten ist. Ja, es gibt das Österreich, das Felix Baumgartner auf Facebook zujubelt, wenn er einer seiner wirren Rants postet. Aber es gibt eben auch das ältere Ehepaar am Land, das eigentlich nichts gegen Flüchtlinge, sondern Angst vor dem Gefühl des Kontrollverlusts hat. Das waren die Leute, die Hofer den zusätzlichen Boost über das letzte FPÖ-Ergebnis hinaus gegeben haben. Und mit denen hat man vielleicht zu wenig geredet in den letzten Jahren. Schon allein aus Selbstschutz. Man wird sie noch brauchen.

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These 2: Die Wahrheit ist am Ende

Das aktuelle Steckenpferd des Longread-Journalismus ist die Behauptung, wir hätten nach dem "Postdemokratie"- jetzt auch das "Post-Wahrheit"- oder "Post-Fakten"-Zeitalter erreicht. Darüber konnte man schon in deutschen, britischen und amerikanischen Medien lesen. Man muss bei solchen einfachen Urteilen immer aufpassen, weil sie oft denselben Fehler machen wie Generationenporträts: Einer aktuellen Beobachtung wird eine simplifizierte Sicht auf die Vergangenheit gegenübergestellt, damit die These passt. In zwei Ländern gibt es aktuell Politiker, die auffällig oft lügen? Das war doch gefühlt früher nicht so!

Natürlich war das früher auch so. Politiker, Journalisten und die restlichen Eliten haben es mit der Wahrheit oft nicht so genau genommen. Ebenso wenig, wie die Öffentlichkeit früher charismatischen Politikern wie Berlusconi übel genommen hat, wenn sie sich nicht mehr für ihr Geschwätz von gestern interessiert haben.

Wir leben nicht in einer Welt der Post-Wahrheit, sondern in einer Welt der vielen Wahrheiten.

Wahrscheinlich ist es nicht so, dass wir in einer Welt der Post-Wahrheit leben, sondern in einer Welt der vielen Wahrheiten. Die Wege der Desinformation haben sich geändert. Politiker haben heute die Möglichkeit, ihre Botschaften ungefiltert über Facebook an ihre Anhänger zu bringen. Jörg Haider schaffte es 1994, die "Blutschokolade" und das "Schildlausjoghurt" in der öffentlichen Debatte zu verankern. Aber diese Debatte lief letztlich doch noch durch einen Medienfilter. Nicht, dass Zeitungen nicht über obskure Thesen berichteten, aber sie ordneten sie zumindest ein. Und das half. Nicht immer und überall, aber oft genug, um die öffentliche Diskussion weitgehend über der Gürtellinie zu halten.

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Heute gibt es diese Filter immer weniger. Strache kann auf Facebook schalten und walten, wie er will. Wenn er eine gerichtlich erzwungene Gegendarstellung postet, gratulieren ihm seine Fans zum mutigen Schritt. Wenn er eine Grafik der Zeitung Österreich postet, die klar einen Rückgang der Kriminalität zeigt, aber dazu schreibt, dass die Kriminalität weiter explodiert, sieht jeder nur das, was er sehen will. Damit entsteht eine weitgehend dem gesellschaftlichen Diskurs entrückte Gegenöffentlichkeit, in der die Methodik, mit der sich die Gesellschaft früher entschieden hat, was ein "Fakt" ist, nichts mehr zählt. Eine Gegenöffentlichkeit, die sich ihre eigenen Fakten schafft. Das wäre ja nicht so gefährlich, wenn diese Öffentlichkeit nicht so groß wäre.

Medien sind heute keine Gatekeeper mehr. Denn zum Gatekeeper-Dasein gehört auch die Fähigkeit dazu, Nachrichten nach Prüfung nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Das ist heute nicht mehr möglich. Wenn ich ein interessantes Gerücht über einen Politiker habe, das ich bei keinem Medium unterkriege, kann ich es sofort in die sozialen Netzwerke jagen oder mir in 30 Minuten einen Blog anlegen. Medien können sensationelle Nachrichten heute maximal verstärken. Sie sind keine Schleusen, nur noch potentielle Trichter. Es können noch so viele Journalisten versichern, dass sie einem unguten Gerücht über Landeshauptmann Pröll nachgespürt und nichts gefunden haben—es hält sich trotzdem in jedem Forum hartnäckig.

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These 3: schlechte Alternativen sind besser als keine

Ich glaube grundsätzlich, dass der Mensch ein vernunftbegabtes Wesen ist. Zusätzlich zur Vernunft glaube ich aber auch an einen weitere Kraft im Menschen: die Angst vor dem Neuen. Meiner Erfahrung nach beschäftigt sich der Mensch einfach lieber mit den Teufeln, die er bereits kennt. Aus diesem Grund war ich auch so überrascht von der britischen Entscheidung. Dass sich über 17 Millionen Menschen finden, die aktiv aus einer vielleicht ungeliebten, aber funktionierenden Beziehung mit anderen europäischen Staaten ausbrechen und ins große Unbekannte segeln wollen—das ist doch sehr beachtlich.

Ramesh Ponnuru vom konservativen US-Magazin National Review vertrat vor ein paar Monaten auf einer Veranstaltung in Wien eine interessante These über sein Heimatland. Amerikaner wünschten sich auch heute keine Lösungen, die "Big Government" benötigen. Aber sie würde diese vermehrt gar keinen Lösungen vorziehen. Vielleicht lässt sich analog sagen: Wenn man nur unzufrieden genug ist, kann eine Alternative noch so vage und/oder düster sein—sie wird aber immerhin als Alternative empfunden.

Ein Freund von mir hat an dieser Stelle beschrieben, warum die irrationale Wahlentscheidung in einer Welt, die nicht mehr klar in rechts und links, sondern nach dem auch oben beschriebenden Eliten-Peripherie-Schema aufgeteilt ist, eine sehr demokratische sein kann. In Zeiten der alternativlosen Politik wähle ich eine Alternative. Man muss diese These nicht teilen. Aber dass die zunehmende Technisierung und Entpolitisierung der politischen Entscheidungen gefährlich ist, kann man schwer bestreiten. Wenn die Menschen das Gefühl haben, die Politik hätte keine Spielräume und es sei eh wurscht, welche Entscheidungen sie an der Wahlurne treffen, braucht man sich nicht wundern, wenn diese Entscheidungen immer radikaler ausfallen.

Eine Grundzuversicht ist notwenig, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

Als wären die vergangenen Monate nicht schon seltsam genug gewesen, stehen im nächsten Jahr gleich eine ganze Reihe von Entscheidungen an. Anfang November wählen die USA. Im Oktober wählt Österreich ein drittes Mal. Ungarn wird ein Referendum über die Verteilung von Flüchtlingen über die gesamte EU abhalten. 2017 finden in Frankreich Präsidentschaftswahlen statt. Und wie es mit der EU weitergeht, sollte sich auch irgendwann mal abzeichnen.

Früher hätte mir das alles keine Bauchschmerzen bereitet. Heute schon. Vielleicht ist eine gesunde Position Realismus eh eine bessere Herangehensweise. Aber auf der anderen Seite besteht ohne Zuversicht die Gefahr, dass man sich nicht mehr dafür einsetzt, die Welt zu einem besseren oder zumindest vernünftigeren Ort zu machen.

Die Welt im Jahr 2016 konnte den Optimismus vielleicht kurzzeitig dämpfen, aber bis jetzt noch nicht komplett zerstören. Für den Moment beruhige ich mich mit dem Kopf. Ich glaube immer noch, dass Hillary Clinton Präsidentin wird. Dass ein Sieg Van der Bellens auch bei der wiederholten Stichwahl möglich ist. Dass Erdoğans Macht in der Türkei auch zukünftig nicht endlos sein wird. Dass sich das alles irgendwie ausgehen wird.

All das glaube ich, weil ich die Argumente dafür kenne. Nur der Bauch flattert dabei.

Jonas auf Twitter: @L4ndvogt