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Sport

72 Stunden mit Hools in der "englischen Stadt" im Hafen von Marseille

Unser französischer Autor hielt sich in der Nähe des Hafens auf. Dort besetzten Engländer Cafés und Bars. Gegen die gezielten Angriffe der russischen Hooligans konnten sie sich nicht wehren.

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Dieser Artikel ist zuerst bei VICE Sports erschienen.

35 Verletzte, davon ein Schwerverletzter: Das ist die Bilanz der Ausschreitungen rund um das Spiel England gegen Russland am Samstag in Marseille. Innerhalb von drei Tagen hat die Stadt in Südfrankreich die schönsten wie auch die hässlichsten Seiten des Fußballs erlebt. Erst das Fan-Fest und dann der Fan-Krieg. Die letzten englischen und russischen Fans haben gestern Marseille verlassen. Einige stolz, die meisten traurig und beschämt. Einige werden dort aber noch ein paar Monate verbringen—und zwar im Baumettes-Gefängnis.

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Am Montagnachmittag steht Alexander Booth zum ersten Mal in seinem Leben als Angeklagter in einem Gerichtssaal. Der junge Koch aus England war nach Marseille gekommen, um hier seinen 20. Geburtstag zu feiern—und natürlich, um die Three Lions anzufeuern. Irgendwie sei er dann in die Zusammenstöße zwischen England-, Russland- und Marseille-Fans sowie der französischen Polizei geraten. Er tritt vor den Richter in einem Trikot der englischen Nationalmannschaft. Doch die Leidenschaft eines echten Fans ist einem angespannten Gesichtsausdruck gewichen. Trotz seiner Dolmetscherin scheint er der Debatte nicht folgen zu können, nur eben, dass reichlich Ärger droht. Der leitende Staatsanwalt der Region, Brice Robin, hatte zuvor Haftstrafen für all jene gefordert, die die Polizei bei den Straßenkämpfen festgenommen hatte. Nach Alexander warten noch neun andere auf eine Verurteilung. Im Vergleich zu den anderen wirkt Alexander fast wie ein Gentleman. Er gesteht, einen Plastikbecher Richtung Polizei geworfen und außerdem den Mittelfinger gezeigt zu haben. Mit dabei im Getümmel, genauso wie jetzt im Gerichtssaal, ist sein Vater. "Ich entschuldige mich bei den Menschen von Marseille und der Polizei. Truly, truly sorry… Ich war zur falschen Zeit am falschen Ort." Und das mit rund zwei Promille im Blut. Die Strafe wird verkündet, doch sein Vater hat sie nicht verstanden. Alexander, völlig aufgelöst, stammelt in dessen Richtung : "Zwei Monate…" Sein Vater antwortet bestürzt: "Was? Zwei Monate?!" Er zeigt einen erhobenen Daumen in Richtung Filius, wohl um ihm zu sagen: "Halte durch, ich hole dich ab." Zusätzlich zur zweimonatigen Haftstrafe darf Alexander zwei Jahre lang nicht mehr nach Frankreich einreisen.

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Alles für die Three Lions

Queen Victoria, O'Malley, Temple und Out Back. Vier Pubs Seite an Seite am Alten Hafen von Marseille. Hier haben die englischen Fans seit Donnerstagabend ihr Lager aufgeschlagen. Überall hängen der Union Jack oder England-Fahnen, ergänzt durch die Herkunftsstadt der Fans. Einer von ihnen ist Dan, 30 Jahre alt und aus Norwich, wie seine Flagge verrät. Er will sich mit 50 anderen Fans Richtung Kai aufmachen. Die Pubs platzen aus allen Nähten und sind das Epizentrum von dem, was Dan als "englische Stadt" bezeichnet. Insgesamt sollen rund 50.000 Engländer in Marseille unterwegs sein, erzählt mir eine Polizistin: "Wir sind noch gelassen, bisher gab es keine Provokationen, aber wenn man sich anschaut, mit welchem Tempo die hier trinken, kann sich das schnell ändern. Dieses Gebiet wird als Fight-Zone angesehen."

Das Hauptquartiert der englischen Fans. Und ein Polizist, der weiß, dass es gleich ungemütlich wird

Die Stimmung ist ausgelassen. Am Abend zuvor gab es kleinere Zusammenstöße mit der Polizei, die ersten englischen Fans hatten für Negativschlagzeilen gesorgt. Harry kommt aus Leicester. Er erklärt mir, wie er den Vorfall gesehen hat, während er sich im O'Malley noch ein Bier bestellt. Auf seinem Smartphone zeigt er mir einen Artikel, in dem das Verhalten der Engländer verurteilt wird. Auf einem der Fotos: Harry. "Meine Freundin hat mich sofort angerufen, als sie den Artikel gelesen hat. Sie konnte nicht verstehen, warum ich mich inmitten des Chaos aufgehalten habe. Schließlich bin ich ja auch sonst kein rauflustiger Typ. Dabei waren es die Leute von hier, die Stress gesucht haben. Wir haben uns nur verteidigt." Anthony Heraud, der Besitzer des Pubs, kommt zu uns rüber und erklärt mir: "Ich habe Videomaterial, das zeigt, dass die Engländer angegriffen wurden. Jetzt will die Stadt alle in die Fan-Zone schicken, aber die Engländer fühlen sich hier, unter sich, am wohlsten."

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Vor den Pubs singen und tanzen englische Fans zu Ehren ihrer Three Lions. Der Fan-Song "Vardy's on fire!" dröhnt aus einem der Lautsprecher. Das bringt die Menge zum Kochen, lässt aber auch die Zugangswege verstopfen. Irgendwann schreitet dann die französische Polizei ein. Erst mit Samthandschuhen, dann mit Tränengas. Die Menge rennt auseinander. Nach nur einer Minute ist die Straße komplett leergefegt, auch die vier Pubs erinnern an verlassene Western-Saloons.

Mit Tränengas werden die englischen Fans auseinander getrieben

Aber die Engländer sind noch in der Gegend—und auf 180. Wir finden sie schließlich, weiter unten am Kai, Auge in Auge mit den Ordnungskräften. Zwischen die beiden Fronten mischt sich auch noch ein Dutzend Russen, die mit Sicherheit der Lärm angelockt hat. Ein paar Festnahmen später herrscht wieder Ruhe. Hier hält sich der Schaden in Grenzen.

Uns laufen vier russische Fans über den Weg, die sich Richtung Hafen bewegen. Einer von ihnen verteilt Sticker, auf denen ein Typ mit großer Zahnlücke zu sehen ist. Der Russe grinst mich an. Ohne Zweifel ist er das auf dem Foto. Alle zehn Meter klebt er diese subtile Drohung an Hauswände oder Ampeln. Und dann erklärt er mir noch auf Englisch: "Frenchs gays, Englishs gays, tomorrow you see!"

Der besagte Grusel-Sticker: Alles außer alle Zähne an Bord

Und am Samstag haben wir das auch gesehen—als die Situation am Alten Hafen völlig außer Kontrolle geriet. Schon am frühen Nachmittag muss ein englischer Fan wiederbelebt werden. Gegen 18 Uhr wird die Gegend in Opernnähe zum blutigen Schlachtfeld. Bewohner Marseilles gegen Engländer, Russen gegen alle und mittendrin die Polizei. Überall fliegen Bierflaschen. Einer zerstört die Fensterscheibe einer Brasserie, andere verletzen mehrere Umstehende.

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Russische Hools mit Lokomotive-Moskau-Shirts

Wer hat angefangen? Wer hat wen angegriffen? Keiner kann es mit Sicherheit sagen. Die meisten englischen Fans geben an, nur reagiert zu haben. Einerseits auf Angriffe vonseiten russischer Hooligans, die Staatsanwalt Brice Robin wie folgt beschreibt: "Rund 150 Personen, die gekommen sind, um sich zu prügeln. Sie sind so schnell vorgegangen, dass wir sie weder identifizieren noch festnehmen konnten."

Andererseits auf Angriffe von Marseiller Jugendlichen, deren Motivation nicht wirklich klar ist. Manche sprechen von Rache für die Auseinandersetzungen bei der WM 1998. Andere sind augenscheinlich aus anderen Gründen gewalttätig geworden, wie mir ein Jugendlicher berichtet: "Wir mussten ihnen zeigen, wer hier das Sagen hat. Ich habe ein englisches Trikot erobert. Das ist eine Trophäe. Der Typ hat es mir nicht gerne gegeben. Darum ist es auch zerrissen…"

Ein englischer Fan wird festgenommen

Insgesamt müssen 590 Feuerwehrleute ausrücken, während mehr als 1.000 Polizisten kamen.

Erst als das Spiel näherrückt, beruhigt sich die Stadt. Das Spiel selbst verläuft friedlich. Bis zum Abpfiff. Da entscheiden sich russische "Fans", das späte Tor ihrer Mannschaft mit einem Sturm des englischen Blocks und fliegenden Fäusten zu feiern. Mal zur Abwechslung ein bisschen Fangewalt.