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„Weil er ein Mörder ist“: 45.000 Menschen demonstrierten in Köln gegen Erdogan

Aleviten, Kurden, Türken und Kölner demonstrierten gemeinsam gegen Erdogans Besuch in Köln. Die Wut über das Minen-Unglück in Soma ist auch in Deutschland angekommen.

Fotos: Benjamin Weber

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan hat den Zeitpunkt für seinen Besuch in Köln nicht wirklich clever ausgesucht, weil in der Türkei gerade Menschen sterben. Während der landesweiten Proteste gegen die Regierung nach dem Grubenunglück in Soma mit mehr als 300 Toten wurden zwei Tage vor seinem großen Auftritt zwei Männer von Polizeikugeln getötet.

Dass man unter solchen Umständen vielleicht eher nicht ins Ausland fährt, sondern zu Hause erstmal alles in Ordnung bringt, politische Verantwortung übernehmen und so, klingt einleuchtend. Selbst der Kölner Oberbürgermeister Jürgen Roters, der in der alten Stadt am Rhein eigentlich nur als grinsender Grußonkel auftritt, hatte Erdoğan öffentlich abgeraten, herzukommen.

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Doch weil Recep Tayyip Erdoğan ein Dickkopf ist, kommt er trotzdem. „Sollen wir jedes Mal eine Zeremonie veranstalten, wenn es einen Toten gibt?“, fragte er kürzlich. Er kann schließlich Wahlkampf in Deutschland machen. Die Lanxess-Arena ist mit 15.000 Plätzen ausverkauft (Miley Cyrus schafft das nicht). Erdoğan will im August Präsident der Türkei werden, das ist klar, er hat es nur noch nicht offiziell verkündet. Bei der Wahl zählen zum ersten Mal auch die Stimmen von Türken im Ausland. Also kommt er nach Köln.

Der Tag beginnt vor dem Bahnhof in Köln-Deutz. Nur ein paar hundert Meter von der Lanxess-Arena entfernt, in der Erdoğan sprechen wird, will der rechte Haufen von den Bürgerbewegungen Pro NRW und Pro Köln zusammen protestieren. Als Erstes taucht Pro-Köln-Ratschef Jörg Uckermann alleine auf und stellt sich demonstrativ mitten in das leere, abgesperrte Gebiet hinein. Niemand interessiert sich für ihn, nicht mal die Journalisten, denn gerade knattert zwanzig Meter weiter die Motorrad-Demonstration „Biker gegen Intoleranz im Straßenverkehr“ vorbei. Eine ganz schöne Menge an Harley Davidsons mit dickbäuchigen vollbärtigen Bikern in Lederwesten brettert vorbei und verdrängt den wegen bandenmäßigem Betrugs vor Gericht stehenden Rechten aus dem Fokus.

Irgendwann sind seine fremdenfeindlichen Kollegen da und es geht los: Uckermann schimpft und hetzt mit rechten Parolen und extrem billigen Argumenten (zum Beispiel seien es ja die Türken gewesen, die im vergangenen Jahrhundert als Erste einen Völkermord (an den Armenieren) begangen hätten!). Es ist ganz kurz lustig, weil so absurd, doch dann wird wieder klar, dass die da ganz schlimme braune Scheiße von sich geben. Zum Glück hört kaum einer zu: Außer ein paar Journalisten sind vielleicht vier oder fünf Gegendemonstranten gekommen und sieben bis acht türkische Männer mit schlecht sitzenden schwarzen Anzügen, schmierigen Frisuren und Knöpfen in den Ohren. Die gehören zu Erdoğans eigenem Sicherheitsdienst und sind in der Stadt ausgeschwärmt, um die Gegendemos abzuchecken. Der Polizist mit dem dicken weißen Schnäuzer erzählt, dass er sie im Auge hat. Doch bis auf eine kurze Schreierei zwischen Gegendemonstranten und Rechten bleibt es ruhig in Deutz.

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Zeitgleich formiert sich auf der anderen Seite des Rheins am Ebertplatz die große Gegendemo. Optimistisch hatte man 30.000 Demonstranten erwartet, letztendlich sind es insgesamt wohl eher 45.000 oder noch mehr, sagt mir die Polizei hinterher. Die Biker gegen Intoleranz kommen auf ihrer Protestroute auch hier vorbei und hupen freundlich.

Die Stimmung auf der Demo gegen Erdoğan ist gut, aber nicht aggressiv, obwohl sie vorher teilweise mit „Welcome To Hell, Erdoğan“ beworben wurde und deswegen eigentlich alle Journalisten erstmal nach den Brandherden suchen. Es gibt aber keine.

Also entscheide ich mich, mir die Demonstranten genauer anzuschauen. Die dominierende Sprache ist Türkisch. Aus Solidarität mit den Bergarbeitern in der Unglücksgrube Soma tragen viele Demonstranten gelbe Helme und rußschwarze Farbe im Gesicht. Ganz vorne fährt ein kleiner, weißer Lastwagen mit Ladefläche voran, von der hinunter auf Türkisch und Deutsch skandiert wird. Hinterher zieht sich der allein durch seine Massivität extrem beeindruckende Demonstrationszug.

„Die Rechnung für Soma wird kommen, Heuchler“

Wer hier genau demonstriert, ist schwer zu durchschauen. Die Alevitische Gemeinde Deutschlands hat die Demo organisiert. Die Aleviten sind eine islamische Glaubensrichtung, die den Schiiten nahe steht. In der sunnitisch geprägten Türkei wurden sie früher verfolgt, heute gelten sie offiziell noch immer nicht als Minderheit. Die Aleviten in Deutschland sind in Vereinen organisiert, und das erstaunlich gut: Mit Bussen sind die Demonstranten selbst aus den kleinsten Dörfern nach Köln gekommen, und auch aus der Schweiz, aus Belgien, Holland und Frankreich, also ist ihr Anteil am Demonstrationszug sehr hoch. Kemalisten laufen mit, linke türkische Gruppierungen, die schweren Jungs von Çarşı aus Beşiktaş in Istanbul sind dabei, und eine Fahne der IG Metall konnte ich entdecken. Doch es wehen auch Fahnen mit dem Bild von Abdullah Öcalan, dem Chef der kurdischen Untergrundorganisation PKK. Öcalan ist in der Türkei wegen Hochverrats und Terror verurteilt worden und sitzt auf einer Gefängnisinsel im Marmarameer im Knast.

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Jade ist Ende zwanzig, hat türkische Wurzeln und bezeichnet sich als „passive Demonstrantin“, denn sie ist immer kritisch, sagt sie. Sie erklärt mir, dass die einzelnen Strömungen, die in der Demonstration mitlaufen, sich untereinander normalerweise nicht immer mögen. „Aber in diesem Fall ist das anders. Wenn es gegen Erdogan geht, haben alle zusammen einen Feind. Auch wenn sie eigentlich untereinander verfeindet sind.“

Mittlerweile scheint die Sonne, und der Demonstrationszug kommt ganz gut voran. Von Gewaltexzessen oder aufgebrachten Erdoğan-Anhängern ist nichts zu sehn. Die Polizei läuft in einigem Abstand mit, hat aber nichts zu tun. Kampfmontur umsonst angezogen.

Marcus und Derya

Marcus ist der erste Kölner, den ich treffe. „Ich bin hier, weil ich das scheiße finde, dass Erdoğan hier seine Wahlkampfveranstaltung abhalten kann. Weil ich seine Politik als furchtbar, verachtenswert und menschenunwürdig empfinde. Und weil ich einige alevitische, türkische und kurdische Freunde habe und ich denke, da kann man auch mal auf die Straße gehen und bekennen: ,Nee, ich will diesen Kerl nicht hier haben.'“ Er ist mit Derya unterwegs, sie ist Ärztin hier und findet es cool, dass so viele Menschen Flagge zeigen gegen Erdoğan, den sie einen Dikator nennt, und sie will noch mehr erzählen, doch dann fängt die ganze Menschenmenge an zu hüpfen, also hüpft sie mit und ist weg.

Ich gerate in eine Gruppe türkischer Mädels. Die, die am lautesten schreit, hat ein Megaphon, heißt Beste und natürlich lässt sie es sich nicht nehmen, den Kalauer des Tages zu machen: „Ich bin die Beste“. Haha. Ihre Freundin und Mit-Megaphonistin Funda und sie sind schon ein bisschen heiser, denn sie schreien schon seit 12 Uhr mittags. „Die Demo ist bisher super“, sagen sie, und das Wichtigste sei, dass sie hier überhaupt demonstrieren dürfen. „Wenn man das in der Türkei jetzt machen würde, wird man erschossen“, sagt Beste, und sie glaubt, dass einer der beiden Toten von letzter Woche nur erschossen wurde, „weil er Alevit ist und in seinem Gebetshaus war. Die haben einfach was gegen uns. So lange wir können, werden wir demonstrieren!“

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Funda und Beste

Die Demo hat mittlerweile ihr Ziel erreicht: die Abschlusskundgebung im Grüngürtel zwischen Aachener und Vogelsanger Straße. Immer noch ist alles ruhig. Unter den Bäumen am Rande der Wiese werden Sandwiches und Tee verkauft. Und T-Shirts: neben Shirts mit dem heiligen Ali, der sogleich Cousin und Schwiegersohn des Propheten Mohammed war, hängt Che Guevara. Ein Merchandising-Potpourri politischer Popstars.

Ich laufe einer Öcalan-Fahne in die Arme. Die siebzehnjährige Kurdin will mir ihren Namen nicht verraten, spricht aber mit mir: „Ich bin gegen Erdoğan. Unsere kurdischen Geschwister drüben werden umgebracht, das wird in den Medien nicht gezeigt. Wir wollen, dass die Leute davon wissen. Die PKK ist keine Terrorgruppe, sondern eine Gruppe für Frieden und Freiheit. Die Leute denken, dass die Kurden an allem Schuld sind, das ist aber gar nicht so!“

Inhaltlich bleibt mir das ein Rätsel, doch Gözde Sahin aus Österreich, auch sie ist mit einem Bus gekommen, erklärt mir, dass es für sie ein Segen ist, dass hier so viele unterschiedliche Strömungen gemeinsam demonstrieren dürfen. „Ich war letztes Jahr bei den Gezi Park-Protesten in Istanbul und habe gesehen, wie Polizisten Unbeteiligte angegriffen haben“, erzählt sie.

Gözde

Während sie das erzählt, läuft die Aufwärm-Musik für die Kundgebung. Der letzte Song ist eine brachiale Rockversion von „Alles nur geklaut“ von den Prinzen – was auch immer das zu bedeuten hat. Dann beginnt die Kundgebung der Alevitischen Gemeinde Deutschlands. Auf der Bühne wird Helm getragen und krakeelt. Politische Reden auf türkisch sind lauter, schriller und viel, viel emotionsgeladener. Die deutschen hingegen taktisch: nach einer gefühlten Ewigkeit türkischer Reden sprechen Heribert Hirte von der CDU, Volker Beck und Reinhard Bütikofer von den Grünen und Sevdim Dagdelen von Die Linke zu den immer noch ausharrenden Demonstranten. Die vier deutschen Politiker sind sich nicht zu schade, hier auf Stimmenfang für die Europawahl zu gehen. Es ist ekelhaft. Vor allem Sevdim Dagdelen verwirrt: von Erdoğan über deutsche Rüstungsexporte argumentiert sie sich schreiend zum Syrien-Krieg, sodass selbst die durchaus klatschfreundlichen Zuschauer nicht mehr wissen, was das soll.

Vor der Lanxess-Arena, in der Erdoğan gerade spricht, ist kaum etwas los. Ein paar Anhänger ohne Ticket stehen hier noch herum und schauen sich die Rede im Live-Stream auf dem Smartphone an. Sie wollen so nah wie möglich dran sein, wenn Erdoğan gegen die deutschen Medien, Terroristen und Marionetten internationaler Kreise hetzt. Die Polizei hat die circa zehn versprengten Gegendemonstranten im Blick, aber auch die sind in der Abendsonne viel zu müde, um auf Konfrontationskurs zu gehen. Der Tag, der das Potenzial für echten Ärger in Köln gehabt hätte, geht richtig klischeebeladen seinem Ende entgegen: in der Abendsonne posieren die AKP-Anhänger mit einer übergroßen Türkeifahne für Erinnerungsfotos.