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Als ich zum ersten Mal mit einer Rakete beschossen wurde

Manche stehen mehr auf Sprengladungen, ich bin eher der Raketen-Typ. Meine erste war eine heiße Kurzstreckenrakete aus dem Irak.

Ein von der Terrororganisation Hisbollah mit Raketen beschossenes Haus in Haifa in Israel | Foto: imago | Xinhua

_Mit 14 Jahren verließ Shahak Shapira _gemeinsam mit seiner Mutter und seinem jüngerem Bruder_ Israel und landete in einer gottverlassenen NPD-Hochburg in Sachsen-Anhalt. 2015 wurde Shahak für 2,5 Minuten bekannt, nachdem er in der Berliner U-Bahn antisemitische Gesänge filmte und dafür von einer Horde junger Männer angegriffen wurde. Ein Mediengewitter war die Folge, PEGIDA solidarisierte sich, aus Israel kam die Empfehlung, in die Heimat zurückzukehren. Dann bot ihm ein skrupelloser Verlag an, für lächerlich viel Geld ein Buch zu schreiben. Er stimmte aus purer … ähm … "Leidenschaft" … zu. Nun schreibt er über seine Jugend als einziger Jude im tiefsten Sachsen-Anhalt und über seine Familie. Seine Botschaft: Jeder entscheidet selbst, ob er ein rassistisches Arschloch ist oder nicht._

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_Dies ist ein Auszug aus dem Kapitel "From Saddam with Love" aus Shahaks Buch DAS WIRD MAN JA WOHL NOCH SCHREIBEN DÜRFEN!_

Genau wie die Erinnerung an den ersten Kuss haben viele Israelis die Erinnerung an die erste Bombe, in der sie in nostalgischen Stunden schwelgen. Manche stehen mehr auf Sprengladungen, ich bin eher der Raketen-Typ. Meine erste war eine heiße Kurzstreckenrakete aus dem Irak. "Scud", das war ihr Name. Hochballistisch, aber down to earth—genau, wie ich sie mag. Ich habe dieses scharfe Geschoss in einer warmen Sommernacht kennengelernt, während des Zweiten Golfkriegs 1991. In Israel machte sich damals die Angst vor Angriffen mit chemischen und biologischen Waffen breit, vor allem vor Senfgas, das der Irak einige Jahre zuvor schon gegen den Iran eingesetzt hatte. Ein farb- und geruchloses Gift, das leicht über die Haut aufgenommen wird, aber nicht sofort Wirkung zeigt. Nach und nach entstehen Hautrötungen, danach bilden sich Blasen, und die Haut löst sich ab. Die Augen brennen, die Hornhaut wird beschädigt, die Lungen füllen sich mit Schleim, die Bronchien werden zerstört. Ich selbst war gerade mal drei Jahre alt und blickte der Dijon-Bedrohung dementsprechend entspannt entgegen, doch der Gedanke, mit Gas angegriffen zu werden, löste insbesondere bei den Holocaust-Überlebenden Panik aus.

Trotz seiner Drohungen war Saddam Hussein das gute Senfgas für uns aber dann doch zu schade. Er entschied sich für die billigen Scud-Raketen, die jeder Möchtegern-Terrorist im Nahen Osten ohne größere Probleme auftreiben kann. Das konnte man in Israel allerdings nicht wissen, und so wurden an alle Bürger Gasmasken und Gegengift ausgehändigt. Die Gasmaske nahm man überallhin mit, es gab sogar Designertaschen, um sie elegant und stilsicher auf den Catwalks zum Bombenkeller zu tragen. Die Familien wurden angewiesen, sich bei einem Angriff nicht in die Bunker zu begeben (fast jedes Haus in Israel hat einen Bunker), sondern stattdessen den am höchsten gelegenen Raum im Haus zu verbarrikadieren, da Senfgas aufgrund seiner hohen Dichte nah am Erdboden bleibt.

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Mein Zimmer wurde also abgedichtet, meine Mutter hatte sogar ein Zelt mitten im Raum aufgestellt. Ein Zelt. Als Schutz vor Raketen. Aber hey, sicher ist sicher! Das mit dem hoch gelegenen Zimmer ist in der Theorie eine gute Idee, allerdings bringt die frische Luft auch nichts, wenn eine Rakete das ganze Haus in seine Einzelteile zerlegt. Hat sich meine Mutter auch gedacht, als die erste Rakete 1991 einschlug und das ganze Haus zum Beben brachte.

Shahak in in seinem früheren Zuhause in Israel

"Giftschlange! Giftschlange!", tönte es einige Minuten später aus dem Radio—das Codewort für einen Raketenangriff. Es war zwei Uhr morgens, meine Mutter war alleine mit mir zu Hause. Sie weckte mich und sagte mit zittriger Stimme:

"Shahakuli, wir spielen jetzt ein Spiel!"

"Was für ein Spiel denn?" Ich kletterte mit leuchtenden Augen aus dem Bett.

"Wir spielen Astronaut und Elefant!", sagte meine Mutter, packte mich und trug mich hinunter in den Bombenkeller.

"Das Spiel kenn ich aber nicht. Lass uns lieber Verstecken spielen!"

"Das Spiel hier ist tausendmal lustiger als Verstecken", antwortete sie und verriegelte die massive Metalltür. Der kleine Raum mit Wänden aus Beton war vollgerümpelt mit Turnmatten und anderem Kram, den meine Mutter für die Choreographien ihrer Tanzgruppe benutzte. "Wir ziehen dir jetzt deinen Astronauten-Anzug an!"

Für Kinder von drei bis acht gab es eine spezielle Gasmaske. Es war nicht wirklich eine Maske, sondern tatsächlich fast ein kompletter Anzug. Eine knallgelbe Abzugshaube mit transparenter Kapuze, die den kompletten Kopf und die Schultern umhüllte, wie eine Art Tüte, die man sich über den Kopf zieht. Aus einem blauen Filter, den man mit einem Gürtel an der Hüfte trug, führte ein Schlauch saubere Luft in die Haube. Eine weitere kleine Öffnung fasste eine Art Strohhalm, aus dem ich Orangensaft getrunken habe. Denn Astronauten trinken immer Orangensaft!

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Shahak mit Mutter und Großvater in der Negev-Wüste in Israel

"Jetzt bin ich dran!", sagte meine Mutter und zog sich ihre eigene schwarze Gummimaske an, die sie mit vier Bändern um ihren Kopf befestigte. Zwei große Löcher für die Augen, drunter ein runder, grauer Filter. Ich hatte in dem kleinen, dunklen Raum etwas Angst vor der schwarzen Maske, aber ich war nun ein Astronaut und konnte mir solche kindischen Empfindsamkeiten nicht leisten.

"Schau! Ich bin ein Elefant!", sagte der Elefant mit dumpfer Stimme und atmete dazu in Darth-Vader-Manier hörbar ein und aus. Das Spiel vom Astronauten und Elefanten ging noch einige Minuten, dann bin ich in meinem Anzug eingeschlafen.

Es folgten weitere Raketen, weitere Angriffe und viel mehr Orangensaft, um meinen Mut als Bunkerastronaut zu belohnen. An mehr kann ich mich nicht erinnern. Genau wie Sprengladungen und Selbstmordattentäter waren die Raketen ein ganz normaler Teil unseres Alltags in Israel. Heute gibt es sogar Apps, die dich informieren, sobald ein heißes Geschoss in deiner Nähe ist. Also genau wie Tinder.

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