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Als mir ein Flüchtling per WhatsApp schrieb, dass er Selbstmord begehen will

Psychische Probleme unter Flüchtlingen sind eine Realität, die von vielen Seiten vernachlässigt wird—und die sich dadurch nur verschlimmert.
Foto: VICE Media

In den letzten Wochen habe ich mich mit einem Flüchtling aus Syrien angefreundet. Ich hatte ihn kennengelernt, als ich ein Flüchtlingsheim in Oberösterreich für ein Interview besucht hatte. Sagen wir einfach, sein Name ist Sami—ein sympathischer, junger Kerl, etwa in meinem Alter. Nachdem ich mit den Interviews fertig war, haben Sami und ich uns lange unterhalten. Er erzählte mir, dass er vor einem knappen Jahr aus Syrien geflohen war, nachdem die IS ihm mit Mord drohte, weil er auf seinem YouTube-Kanal negativ über sie berichtete.

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Sami sprach mit mir noch eine Stunde lang über seiner Flucht, seinen negativen Erfahrungen in Österreich, und davon, wie frustrierend seine Situation für ihn ist, solange noch nicht einmal feststeht, ob ihm hier überhaupt Asyl gewährt wird oder nicht. Sein Englisch war nicht perfekt, aber es reichte, um uns zu verständigen. Am Ende fragte er mich nach meiner Telefonnummer (ja, er ist einer dieser berüchtigten Flüchtlinge, die es wagen, ein Handy zu besitzen). Ich gab sie ihm. Ein paar Tage später schrieb Sami mir auf WhatsApp. Er bedankte sich für meinen Besuch und meinte, dass er gerne noch viel mehr von seinen Erlebnissen erzählen würde—er wisse aus persönlicher Erfahrung viele Dinge über den Krieg in Syrien, die er gerne für einen Artikel zusammentragen würde. Ich besuchte ihn einige Wochen später noch einmal im Flüchtlingsheim und wir vereinbarten, dass wir uns noch ein weiteres Mal treffen würden, um seine Erfahrungen zusammenzuschreiben.

Immer wieder bekam ich Nachrichten von ihm—meistens erklärte er mir, wie unglaublich frustriert und wütend er über seine Situation war. Dann schrieb er, dass er zusammen mit anderen Flüchtlingen plant, zu Fuß von dem Flüchtlingsheim zum zuständigen Asylgerichtshof nach Linz zu marschieren—immerhin 100 Kilometer—, um dort auszuharren, bis feststeht, ob er Asylstatus bekommt oder nicht. So wollte er auf seine Situation aufmerksam machen.

Alle paar Tage bekam ich Bilder und kurze Texte zugesandt— manches davon beschäftige sich mit dem Krieg in Syrien, anderes mit der fremdenfeindlichen Haltung mancher Menschen in Europa. Einmal schickte er mir Fotos von deutschen Pegida-Demonstranten mit islamfeindlichen Transparenten in der Hand, ein anderes Mal von Schildern, die er selbst gebastelt und vor seinem Flüchtlingsheim aufgestellt hatte.

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Vor einiger Zeit saß ich spätabends in Wien in der Straßenbahn, als ich wieder eine WhatsApp-Nachricht von Sami bekam: „Hey Tori, Ich habe Nachrichten für dich. Wir sind zwei Leute, und wir wollen Selbstmord begehen."

Für einen Moment fiel mir das Herz in Hose. Ich überlegte, ob er mir so etwas womöglich einfach schrieb, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen. Aber bis zu diesem Zeitpunkt war jedes Anliegen, mit dem er sich an mich gewandt hatte, absolut ernst gemeint gewesen.

Ziemlich überfordert schrieb ihm das zurück, was mir als ersten in den Sinn kam. „Ist das dein Ernst? Falls nicht, ist das nicht lustig. Du bist ein kluger, großartiger Bursche, der mit Sicherheit eine gute Zukunft vor sich hat. Auch wenn du dir das gerade vielleicht nicht vorstellen kannst." Er antwortete: „Ich meine es vollkommen ernst. Wir sind zu Hause, wir trinken gerade, und nachher werden wir es tun. Das ist kein lebenswertes Leben. Die beste Lösung ist, dieses Leben zu beenden. Danke mein Freund, ich wollte dir nur Bescheid sagen."

Zu diesem Zeitpunkt bekam ich ernsthaft Schiss. Ich konnte noch immer nicht wirklich einschätzen, was bei Sami gerade vor sich ging. Aber nichts unternehmen konnte ich eben auch nicht. Ich überlegte, was die sinnvollste Reaktion war. Das Flüchtlingsheim, in dem er lebt, war 300 Kilometer von Wien entfernt. Und die einzige Person, zu der ich im Heim außer Sami einen Kontakt hatte, war eine der Betreuerinnen.

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Ich versuchte, sie anzurufen, aber es war fast Mitternacht und wie erwartet hob sie nicht ab. Als nächstes probierte ich es bei der regionalen Stelle der Caritas, die das Heim betreibt, aber auch dort war um diese Uhrzeit niemand mehr erreichbar. Währenddessen schrieb Sami mir weitere beunruhigende Nachrichten.

Das Letzte, was ich eigentlich wollte, war die Polizei zu rufen und mitten in der Nacht einen Einsatz in einem Flüchtlingsheim, mitten in einem kleinen Ort, auszulösen, in dem sich ohnehin jedes noch so unspektakuläre Ereignis herumspricht. Aber mir war auch klar, dass mir eigentlich gar nichts anderes übrig blieb. Letztendlich rief ich also schweren Herzens bei der örtlichen Polizei an und versuchte dem Beamten am Telefon die Situation so unaufgeregt wie möglich zu erklären.

Nachdem die Beamten mich nach den Details fragten, schickten sie einen Streifenwagen zum Heim. Etwas später läutete das Telefon wieder, und der Streifenpolizist erklärte mir, dass Sami nicht dort wäre. Die anderen Bewohner des Heimes hätten gemeint, dass er abends meistens irgendwo im Nachbarort unterwegs sei, wo er trinke, und dass Sami heute negative Nachrichten bezüglich seines Asylverfahrens erhalten habe. Aber solange die Polizei nicht wisse, wo genau Sami ist, könne sie leider kaum etwas tun.

Also schrieb ich Sami noch einmal: „Wo bist du?" Er beantwortete mir die Frage nicht. Stattdessen schrieb er: „Warum rufst du die Polizei?". Offensichtlich hatte ihn bereits jemand informiert. „Naja, weil ich nicht einfach zuschauen kann, wie du Selbstmord begehst."

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Ich versuchte weiterhin herauszufinden, wo er war, aber er sagte es mir nicht. Wer und ob wirklich noch jemand bei ihm war, der auch Selbstmord begehen wollte, fand ich auch nicht heraus. Stattdessen wiederholte Sami seine Selbstmordpläne. Ich versuchte, ihn anzurufen, doch er war nur über WhatsApp erreichbar. Mittlerweile war es tief in der Nacht. Ich versuchte ihm das Versprechen abzulocken, dass er zumindest heute Nacht nicht versuchen würde, sich umzubringen, und sagte ihm, dass wir morgen noch einmal in aller Ruhe reden könnten. Er antwortete: „Ich werde es versuchen, aber ich kann nichts versprechen. Gute Nacht." Nach einer unglaublich beschissenen und ziemlich schlaflosen Nacht, meldete sich frühmorgens ein Betreuer der Caritas bei mir. Er erklärte mir, dass man dort von Samis psychischen Problemen wisse. Er habe ein starkes Alkoholproblem und immer wieder Phasen, in denen sein Zustand schlechter würde. Und es sei nicht das erste Mal gewesen, dass es so einen Zwischenfall gab.

Sami selbst meldete sich am nächsten Tag nicht bei mir, was mir zusätzliche Bauchschmerzen bereitete, weil ich nicht wusste, was später tatsächlich noch passiert war. Ich rief die Betreuer nachmittags noch einmal an, aber sie sagten, dass Sami nicht heimgekommen war, und so verbrachte ich auch den nächsten Tag mit einem sehr unguten Gefühl. Letztendlich meldete Sami sich aber—fast 48 Stunden nachdem er mir von seinen Selbstmord-Plänen berichtet hatte.

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Dass Samis Situation für ihn kaum auszuhalten ist, macht mich persönlich zwar traurig. Es verwundert mich aber nicht wirklich—selbst wenn er in einem Flüchtlingsheim Zuflucht gefunden hat, in dem „nur" zwei dutzend Leute leben und in dem er die Unterstützung von professionellen Betreuern der Caritas hat. Aber wer würde kein Trauma davontragen, wenn sein Heimatland dem Erdboden gleichgemacht wird, und er seine Familie, seine Freunde und seine komplette Existenz hinter sich lassen muss, um sich in einem völlig fremden Land in Sicherheit zu bringen—und dann dazu noch permanent in der Angst leben muss, in dieses Chaos zurückgeschickt zu werden?

Vor allem hat mich dieses Erlebnis aber auf ein Problem aufmerksam gemacht, über das ich bis dahin nur am Rand nachgedacht hatte: Ein extrem großer Teil der Flüchtlinge, die aus Kriegsregionen zu uns kommen, hat nicht es nur mit einem Kampf um die Sicherung der eignen Existenz, sondern auch mit psychisch fast unerträglichen Bedingungen zu tun.

Die Österreichische Gesellschaft für Psychologie und Psychiatrie nannte den Umgang mit asylsuchenden Menschen in Österreich vor Kurzem „menschenverachtend und gesundheitsschädigend" und machte darauf aufmerksam, dass die Situation, der die Flüchtlinge in Zeltlagern oder in Traiskirchen ausgesetzt sind, das Risiko für körperlich als auch psychische Erkrankungen enorm erhöhe.

Für tausende Flüchtlinge stehen in Traiskirchen genau drei Psychologen zur Verfügung. Laut einem Bericht der Initiative Freedom Not Frontex: Vienna soll es in dem Erstauffanglager alleine in den letzten Monaten zwei Selbstmorde und zwei Selbstmordversuche gegeben haben, die der Öffentlichkeit von Seiten der Lagerleitung aber verschwiegen worden sein sollen.

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Aber auch wenn die Situation für den Großteil der Flüchtlinge mit psychischen Problemen miserabel ist, gibt es zumindest in einem beschränkten Ausmaß Anlaufstellen. Daniel Ritter ist erfahrener Psychotherapeut und Projektleiter von SINTEM, einem Projekt der Caritas Wien, das sich der Therapie von Flüchtlingen widmet. Sechs Psychotherapeuten behandeln dort mit Unterstützung von Dolmetschern in etwa 120 Flüchtlinge jährlich. Nach meinem Erlebnis mit Sami habe ich mich mit ihm unterhalten.

„Die psychischen Probleme, unter denen ein großer Teil der Flüchtlinge leidet, fassen wir gerne unter der Diagnose ,Posttraumatische Belastungsstörung' zusammen", erklärt Ritter. „Darunter verstehen wir eine Vielzahl an Symptomen—Anpassungsstörungen, Depressionen, Schlafstörungen, auch psychosomatische Erkrankungen wie Schmerzen. Und klassischen Symptome wie die sogenannten Flashbacks, aber auch Konzentrationsstörungen, die bis hin zu Vergesslichkeit führen können. Eigentlich ist es eben am einfachsten, das alles als posttraumatische Belastungsstörung zusammenzufassen."

Was bei Flüchtlingen laut Ritter aber besonders stark hineinwirke, ist die Situation, zusätzlich zu dem Kriegstrauma auch noch in einem fremden Land zu sein. „Das ist ganz prinzipiell belastend: Die Unsicherheit der Situation, in der viele Flüchtlinge sich befinden, die Schwierigkeiten sich einzugliedern, das Problem, die Sprache nicht zu sprechen—das könnte schon bei ,normalen' Migranten Störungen hervorrufen." Die Fluchterlebnisse belasten im Nachhinein zusätzlich. „Dazu muss man nicht einmal die schlimmsten traumatischen Erlebnisse in dem Land gehabt haben, aus dem man geflüchtet ist. Die Situation hier reicht oft schon völlig aus."

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Schätzungen zufolge benötigt jeder zweite Flüchtling psychologische oder psychotherapeutische Hilfe—eine Zahl, die Ritter durchaus für realistisch hält. „Einfach, weil die Belastungssituation eine dermaßen starke ist, dass es mich sogar wundern würde, wenn es nur jeder Zweite ist. Andererseits sind die Bewältigungsmechanismen von vielen dieser Menschen sehr stark, das darf man wirklich nicht unterschätzen."

Insgesamt sei aber ein extrem hoher Bedarf an psychologischer oder psychotherapeutischer Betreuung für Flüchtlinge vorhanden. „Wir haben sehr lange Wartelisten. Wenn sich jemand bei uns anmeldet, dann können wir frühestens nach einem halben Jahr einen Platz versprechen. Und das ist natürlich eine sehr lange Zeit, wenn man in einer akuten Krise steckt. Und bei unseren Schwesternvereinen ist die Situation genau so. Teilweise gibt es da sogar noch längere Wartezeiten."

Was Ritter mir über die Rolle von Alkoholmissbrauch unter Flüchtlingen erzählt, erinnert stark an Samis persönliche Situation. „Alkohol ist in den Herkunftsländern—wenn es muslimische Länder wie Syrien sind—ein absolutes Tabu. Viele der Flüchtlinge würden nie zu Alkohol greifen. Vor allem bei jüngeren Männern kommt Alkoholmissbrauch aber durchaus vor. Und das hat dann quasi immer etwas extrem Selbstzerstörerisches an sich."

Anfangs würde Alkohol oft zur Selbstmedikation und als Beruhigungsmittel eingesetzt—auch, weil die Probleme der Betroffenen häufig mit starken Aggressionen einhergehen. „Sie beruhigen mit Hilfe von Alkohol auch diese Wut in sich. Aber das entgleist natürlich sehr schnell—so wie das letztendlich bei jedem Alkoholiker der Fall ist." Auch Selbstmordgefahr sei etwas, mit dem man in der Arbeit mit Flüchtlingen immer wieder konfrontiert wird.

„Aus Erfahrung kann ich jedenfalls sagen, dass das Autodestruktive, also das Selbstzerstörerische, vor allem bei Männern eine gewichtige Rolle spielt." Das ist besonders dann der Fall, wenn sie keine Zukunft sehen, keinen sozialen Anschluss haben und sich überhaupt nicht verwirklichen können. „Die Arbeitslosigkeit, das Sich-völlig-nutzlos-fühlen und zusätzlich noch all die belastenden vorgegangen Erfahrungen—das macht einen ungemeinen Druck."

Am Schlimmsten sei für die Betroffenen aber meist das ständige Gefühl der Ungewissheit, darüber, wie es weitergehen wird. „Das zermürbt so sehr, dass es oft ins Selbstzerstörerische und in die Suizidalität geht". Selbstmordgefahr sei letztendlich auch ein Faktor in laufenden Asylverfahren. „Da gab es zum Beispiel den Fall der Familie Zogaj, wo die Tochter Arigona ja auch mit Selbstmord gedroht hat— wie weit das in den einzelnen Fällen glaubwürdig ist, ist wieder eine andere Frage. Aber natürlich sollten die Behörden das grundsätzlich ernst nehmen. Wenn es sich um eine akute lebensbedrohliche Situation handelt, dann sollte auf jeden Fall keine Abschiebung erfolgen dürfen."

Sami scheint laut seinen Betreuern mittlerweile übrigens wieder in einer vergleichsweise guten Phase angekommen zu sein. Allerdings erst, nachdem er wegen einem ganz ähnlichen Vorfall, bei dem er kurz davor war, Selbstmord zu begehen, ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Vor einigen Tagen hat er mir jedenfalls geschrieben, dass es ihm besser geht und sich dafür bedankt, dass ich mir Sorgen um ihn gemacht habe.

Seine Betreuerin versicherte mir, dass von ihrer Seite alles getan werde, damit Sami in Zukunft psychologische oder psychotherapeutische Hilfe bekommt. Trotzdem fehlen aktuell die Ressourcen, um alle Flüchtlinge mit psychischen Problemen ausreichend zu betreuen. Die nächsten WhatsApp-Nachrichten sind nur eine Frage der Zeit—wer auch immer sie dann zugeschickt bekommen mag.

Folgt Tori auf Twitter: @TorisNest