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Weihnachten im Amazonasgebiet—so läuft's da wirklich ab

Ich habe auch mal bei Amazon als Aushilfe im Lager gearbeitet. War es schlimm? Es war interessant. Die ARD-Kamera kam nur bis zum Werkszaun. Aber ich war zehn Tage lang drin und hab auch ganz gut abkassiert.

Illustration von Nathaniel Benitah

Amazon bekommt in den Medien zur Zeit viel Kritik ab. Im Weihnachtsgeschäft 2011 - also eine Saison vor dem ARD-Beitrag - war ich auch Aushilfe im Lager. Viel geändert hat sich seitdem nichts. War es schlimm? Es war interessant. Die ARD-Kamera kam nur bis zum Werkszaun.

Aber ich war drin. Zehn Tage lang:

0. Tag

Beim Vorstellungstermin wurde mir in einer kleinen Gruppe zunächst der Unternehmensphilosophie näher gebracht. „Wir sagen hier alle Du“, erklärte die freundliche Frau. Das haben wir dann einen Moment lang passiv geübt, indem sie uns nun häufiger und betonter mit „Du“ ansprach, während sie uns in die beiden möglichen Arbeitsfelder einführte: Picken oder Packen!? Picker sammeln die Waren im Lager ein, Packer verpacken sie am Band in die allseits bekannte Kartonage. Zum Abschluss wurden wir dann mit den motivierenden Worten „Wenn du dich richtig anstrengst, dann klappt es auch mit dem Festvertrag!“ in einen Sicherheitsparcour mit hohem theoretischen Anteil entlassen. Hier mussten z.B. Warnschilder der Sorte „Hand mit Feuer“, „Hand mit Säure“ oder „Hand in Maschine“ nach gefährlich oder gefahrlos zugeordnet werden. Ansonsten gab es die üblichen Finde-den-Fehler-Aufgaben. Vom Ehrgeiz des Festvertrages gepackt liefen hier manche zu Höchstform auf, andere verzweifelten. Ich werde picken.

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1. Tag

Die einstündige Busfahrt zur Spätschicht (14-22Uhr) verlief unauffällig. Bis auf mich und einem Studenten aus dem Sudan waren alles Leiharbeiter, die sich von verschiedenen Firmen her schon kannten. An einem Tag helfen sie auf Großbaustellen, an einem anderen Tag montieren sie Leitplanken auf der Autobahn. Sie freuten sich auf den trockenen Arbeitsplatz.

Zur Arbeitskleidung gehören Kilo schwere Sicherheitsschuhe und eine Leuchtweste. Zu meiner Überraschung dürfen keine eigenen Wasserflaschen mitgenommen werden, sie müssen von Amazon einmalig gekauft werden und können dann nachgefüllt werden. Ich möchte nichts extra kaufen, außerdem sind sie gerade ausverkauft.

Nach der elektronischen Kontrolle und dem Einscannen zum Schichtbeginn mit Hilfe einer Plastikkarte (Busverspätung ist privates Pech) versammeln sich alle zum morgendlichen Appell. Der Cheflogistiker begrüßt alle lautstark mit dem Slogan „Rock & Roll FRA3“, der sich auch über dem Eingang zum Arbeitsbereich befindet. Der Satz amerikanischer Unternehmenskultur wirkt deplaziert. Leicht schlecht gelaunt spricht er nun über die Masse an Ware, die heute noch raus muss, und setzt uns in die Pflicht: „Denken Sie an die Kinder, die Sie zu Weihnachten glücklich machen können.“ Dann folgt der Safetytipp des Tages: „Trinken Sie Wasser!“ Dann rufen alle „Rock & Roll FRA3“ und eilen zu ihren Stationen.

Ein Kollege arbeitet mich ein. Ich bekomme einen Scanner und mir wird beigebracht, wie man die Artikel richtig einscannt. Knapp 100 Teile sind ungefähr pro Stunde gefordert, heißt es. Jeder Scanner ist personalisiert und erstellt somit ein Profil der Arbeitskraft. Darüber spricht aber niemand.

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Den Rest des Tages verliere ich mich im so genannten Pick-Tower, einem vierstöckigen Areal, jede Ebene so groß wie ein Fußballfeld. Endlose Regale reihen sich aneinander und manchmal sieht man das Ende nicht mehr.

2. Tag

Ich spüre mein Füße nicht mehr. Die Metalleinsätze in den Schuhen sind völlig überflüssig. An manchen Tagen läuft man 15-20 Kilometer, heißt es. Ich habe darüber lieber nicht mehr weiter nachgedacht, im Tower verliert man eh jegliches Raum- und Zeitgefühl.

Die Chefansprache am zweiten Tag war noch etwas schlechter gelaunter als am Ersten. Es gab wohl einen Unfall am Vormittag. „Das brauche ich nicht, das braucht ihr nicht!“, heißt es aus Logistikers Mund. Diesen Satz wiederholt er nun fast täglich. Er wirkt übergeschult. Der Safetytipp des Tages lautet daher: „Nicht auf den Wegen der Staplerfahrer laufen!“ Dann noch mal „Rock & Roll“ und natürlich die Kinder nicht vergessen …

3. Tag

Ich bin total übermüdet. Der Bus ist auf der Rückfahrt am Abend vorher verspätet losgefahren. Es hatte „überraschend“ geschneit. Die Stimmung ist daher bei allen mau bis genervt.

Nach der üblichen Appelltortur geht die Monotonie wieder von vorne los. Ich scanne Artikel A110 und muss dann drei Ebenen höher, um Artikel C440 einzusammeln. Dann geht es wieder runter und wieder rauf und nach links, endlos gerade aus und so weiter …

… den ganzen Tag lang.

Zu allem Übel wird mir heute zum ersten Mal der Aberwitz der Pause bewusst. Eigentlich soll sie eine halbe Stunde umfassen. Der Weg vom Arbeitsplatz zum Pausenraum dauert aber mitunter zehn Minuten, die man natürlich auch wieder zurücklaufen muss. Das Ein- und Auschecken zum Pausenraum dauert aber auch seine Zeit. Mindestens 500 Arbeiter müssen gleichzeitig nach möglichen mitgenommenen Gegenständen kontrolliert werden. Effektiv hat man dann oft nur fünf bis zehn Minuten Pause. Ein völliger Irrsinn. Einige versuchen, das zu überlisten, indem sie sich früher von ihrem Arbeitsplatz entfernen und in der Nähe des Ausgangs verstecken. Irgendwo hinter Waschmaschinen, anderen größeren Gegenständen und Zwischentüren. Das fliegt natürlich auf, denn die leitenden Angestellten wissen um ihre „Weihnachtshändchen". Sie schreiben sie auf eine Liste und ermahnen sie im Oberlehrerton. Der Verlust des Arbeitsplatzes wird angedroht. Mich macht das wütend und für einen Moment keimt der Wunsch nach einem aufgebrachten Mob auf, der einen klassischen Arbeiteraufstand organisiert. Es passiert aber nichts.

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4. Tag

Den vierten Tag erlebte ich als Zeit des Stillstandes. Plötzlich war der Server ausgefallen und keiner der Scanner ging mehr. Stundenlanges warten, begleitet vom endlosen Ein- und Ausschalten des Artikelscanners. Ich frage, was los ist und erfahre, dass der zuständige Programmierer in Indien sitzt und es etwas dauert, bis er die technischen Probleme gelöst hat. In der Warteschleife fange ich an, mir die Artikel genauer anzusehen. Plastikspielzeug, Bücher, Ramsch, braune Beate-Uhse-Tüten, unzählige DVDs, Star Wars-Lego, hässliche Puppen, noch mehr Ramsch und das wahrscheinlich größte Archiv an deutscher Volks- und Schlagermusik liegen hier herum. „Wer braucht das alles"?, denke ich und merke, dass ich missmutig geworden bin. Mir fehlt etwas, das ich aus den noch so dreckigen, verölten, schmierfettigen und heißen Werkshallen der Autofirmen kenne. Eine respektvolle Arbeitsstimmung. Kein Schikanieren, keine Babysprache der Vorgesetzten, die einen wohl für restlos dumm halten müssen. Und dumm ist hier bestimmt niemand. Es sind meistens ehemalige Handwerker, die aus dem Arbeitskreislauf rausgefallen sind und nun ihr Leiharbeiterdasein fristen. Ich bewundere ihren Zweckoptimismus und denke mir nicht zum letzten Mal während meiner Zeit: „Warum kann das nicht eine Maschine machen!?“

Zu allem Überfluss wurde auch dauernd betont, dass ein anderes Haus in Deutschland viel mehr Artikel raus sendet als wir. „Mach DU es doch selber, wenn DU es so viel besser kannst, du Logistiker“, denke ich.

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5. bis 10. Tag

In diesem Rhythmus ziehen die weiteren Tage dahin. Scannen - Laufen - Abbiegen - Ramsch - halbe Pause - kaputte Füße - Serverausfall - Rettung aus Indien - Rock & Roll - lange Busfahrt - nervige Kontrollen und ein nimmermüder Logistiker, der über irgendwelche „fast tracks“ und „open units“ doziert …

10. Tag 

Heute gibt es ein besonderes Geschenk am Ende der Schicht. Jeder Angestellte soll einen kleinen Weihnachtsstollen bekommen. Ich freue mich darauf. Wenigstens meine Rückfahrt wird versüßt. Als ich aber zu der Ausgabestelle komme, sind die Stollen alle. Die in ein Weihnachtsmannkostüm gekleideten Amazonier drücken mir als Ersatz einen Bierkrug mit Amazongravur in die Hand.

Auf der Rückfahrt fällt mir etwas auf: Was ich erlebt habe, war etwas Altes. Ich habe erfahren, was Arbeit ist, Arbeit in ihrer Ur-Form: Arbeit und sonst nichts. Hier zählen keine Soft Skills, Fremdsprachen oder ob man ein netter Typ ist—das hier ist Arbeit. Immerhin habe ich 1.000 Euro verdient. Was haben aber die anderen verdient. „Das braucht ihr nicht, das brauche ich nicht!“

Im Januar bekomme ich noch einen Dankesbrief. Es könnte etwas werden mit dem Festvertrag …