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Angstforscher Borwin Bandelow über die Macht von Pfefferspray und die Angst vor den Ängstlichen

„Bevor man den Elektroschocker nun öfter aus der Handtasche gefummelt hat, hat der Täter einem den Arm auf den Rücken gedreht."
Foto: Imago/Ralph Lueger

Rief man ein paar Tage nach dem Bekanntwerden der Übergriffe am Kölner Hauptbahnhof die Amazon-Bestseller Sport & Freizeit auf, fanden sich auf den ersten zehn Plätzen neun verschiedene Sorten an Pfeffersprays—und eine Massagerolle. Eine derartige Zunahme am Wunsch zur Selbstverteidigung kennt man sonst nur aus den USA. Verwandeln wir uns nun auch in ein Volk voller Freizeitverteidiger? Wird die private Hochrüstung bald Volkssport?

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Das Problem liegt auf der Hand: Solche Spitzen der Verängstigung verbergen oft noch einen ganzen Eisberg an Bürgern, die um das eigene Wohl besorgt sind. Man muss sich immer öfter die Frage stellen, wie sehr man derartige Panikattacken der deutschen Bevölkerung ernst nehmen muss. Die Masse an Wutbürgern ist nicht mehr klar von einer opportunistischen Mitte zu trennen. Über rechte Parteien und Bürgerwehr-Anhänger hinaus scheint sich die Stimmung gerade langfristig zu ändern.

Die Angst ist ein gefährlicher und äußerst lästiger Gefährte. Es macht sich ein Unwohlsein im Bauch breit, wenn immer mehr Bekannte über Facebook europakritische Beiträge teilen und andere sich für Selbstverteidungskurse interessieren. Man selber ertappt sich immer öfter dabei, dass eigene Gespräche hoffnungsloser werden und man keine konkreten Erklärungen mehr für das breite Spektrum von besorgten Bürger findet.

Der Generation der heute 20- bis 30-Jährigen wurde bislang gerne eine gewisse Sorglosigkeit zugeschrieben. Ob diese angesichts dem Anwachsen der Probleme in der Mitte der Gesellschaft bleibt, ist fraglich. Denn wer sich mit Pfefferspray durch der Welt bewegt, kann nicht mehr als sorglos bezeichnet werden.

Noch vor kurzer Zeit konnte man die Gesellschaft in klare, politische Lager einteilen— das scheint heute nur noch schwer möglich. Man ist fast froh, wenn man wieder Artikel über rechte Aufmärsche lesen kann und sich keine Sorgen um seine Freunde und sein Umfeld machen muss, wenn Teile von ihnen schleichend, aber deutlich populistische Meinungen übernehmen.

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Versuchen wir, das Stimmungsbild anhand Amazons Bestseller-Kategorie Sport & Freizeit zu messen. Schaut man heute auf die Seite, scheint sich die Lage schon wieder beruhigt zu haben. Neben Fitnesstrackern scheinen vor allem Massagebänder wieder zu den Topsellern zu gehören. Eine Yogamatte gesellt sich dazu, vielleicht ein Anzeichen der bitter nötigen Entspannung nach den vergangenen Ereignissen—dennoch bleiben am heutigen Tag vier verschiedene Modelle an Pfeffersprays unter den Top 20, die vorher nicht dort aufgetaucht sind.

Passiert da gerade was mit uns und den Menschen um uns herum? Stehen wir inmitten einer gesellschaftlichen Veränderung—hin zu breiterer, längerer Beunruhigung? Bei einem Telefonat mit dem Psychologen Borwin Bandelow, der Experte auf dem Gebiet der Angststörungen ist, erklärte er VICE unter anderem seine Vier-Wochen-Hypothese. Ein Gespräch über unsere momentanen Ängste und die Situation in Deutschland nach Köln.

Foto: Borwin Bandelow

VICE: Hallo Herr Bandelow, eine klärende Frage zu Beginn, damit wir auf Augenhöhe sind: Was ist Angst?
Borwin Bandelow: Man muss die Angst des Menschen in zwei Kategorien einteilen. Auf der einen Seite steht die Xenophobie, eine Urangst, die uns vor hunderttausend Jahren einen Überlebensvorteil verschafft hat. Früher waren wir in Stämmen organisiert—wer den eigenen Stamm verteidigt und die anderen angegriffen hat, hatte eine höhere Überlebenschance. Die Xenophobie ist heute nicht mehr überlebenswichtig, genau wie eine Spinnenphobie heute überflüssig ist, denn die deutschen Spinnen tun uns nichts. Diesen Urängste kann man aber nicht mit vernünftigen Überlegungen beikommen. Auf der anderen Seite steht die reale Angst—diese ist stark subjektiv gefärbt und durch aktuelle Fakten begründbar. Wenn man liest, dass die Terroristen, die die Anschläge in Berlin geplant haben, über den Flüchtlingsstrom nach Deutschland gekommen sind, schaltet sich bei Einigen die reale Angst ein. Das führt dazu, dass nicht nur Rechtsradikale sich Pegida anschließen, sondern auch der früher liberale Bürger mitläuft.

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Was geht in einem liberal denkenden Menschen vor, der sich dazu entscheidet, Pfefferspray zu kaufen?
Wenn neue und unbeherrschbar erscheinende Gefahren auftauchen, sind die Menschen erstmal besonders ängstlich. Taucht ein neuer Virus auf und findete eine Terroranschlag statt, wird zunächst die statistische Wahrscheinlichkeit extrem überschätzt, dass man das nächste Opfer sein könnte. Das kann zu solchen Übersprungshandlungen führen, sich auf einmal selber verteidigen zu wollen.

Schafft ein Verbund wie Pegida ein Sicherheitsgefühl innerhalb der Teilnehmer? Ich bin mir nicht sicher, ob dieser Zusammenschluss die Angst von Befürwortern eher lindert oder verstärkt?
Solche Zusammenschlüsse passen zum Stammesdenken der Xenophobie. Es wird eine Scheinsicherheit der Beteiligten suggeriert, weil man sich einem größeren Rudel angeschlossen hat.

Vordergründig besteht also ein Sicherheitsgefühl, eigentlich verstärkt es aber die Angst?
Ja, denn im Pegida-Rudel wird ja noch weiter proklamiert, dass man Angst haben muss. Solche Demagogen nutzen die Urangst des Menschen aus, indem sie martialische Bilder und Wörter einsetzen.

Geben Meldungen wie die Vereitlung von Terroranschlägen wieder Vertrauen in das deutsche Sicherheitssystem?
Mich hat das eher verunsichert. Das ist eher ein Zeichen, dass es noch Terrorpläne gibt, von denen die Polizei noch nichts weiß. Wenn man in der Zeitung davon liest, dass gerade acht Tonnen Kokain gefunden wurden, ist das für mich auch eher ein Ausdruck, dass eben sehr viel Kokain unterwegs ist—nicht etwa, dass die Polizei besser arbeitet als früher.

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Was bedeutet das für die Gesellschaft, wenn unpolitische Privatpersonen damit beginnen, Anti-Terror-Trainings absolvieren?
Das ist natürlich eine trügerische Sicherheit. Wenn man dort mit jemandem zusammentrifft, der sich sowieso jeden Tag prügelt, kann das gefährlich werden. Bevor man den Elektroschocker nun öfter aus der Handtasche gefummelt hat, hat der Täter einem den Arm auf den Rücken gedreht und setzt das Gerät gegen einen selbst ein. Ich halte solche Maßnahmen für eine Überreaktion, die am Anfang von extremen Situationen stattfindet. Diese Überreaktion dauert dann einen Monat an, beruhigt sich aber auch wieder. Auch die Beitritte zu Kampfsportvereinen normalisieren sich nach und nach.

Gibt es also einen kreislaufhaften Wandlungsprozess von Angst?
Ich hab da eine Vier-Wochen-Regel aufgestellt. Wenn ein einschneidendes Ereignis eine Gesellschaft in Hysterie versetzt, flacht diese in der Regel in der heutigen Zeit nach vier Wochen wieder ab. Nach den Anschlägen in Paris hatten alle Angst vor Weihnachtsmärkten und Fußballstadien. Kurze Zeit später war davon nichts mehr zu spüren. Denn selbst wenn die Gefahr noch besteht, legt sich die Angst der Menschen wieder. Das ist weltweit zu beobachten—so haben sich die Menschen nach der Fukushima-Katastrophe auch nach vier Wochen beruhigt, obwohl von dem Atomkraftwerk nach wie vor eine Gefahr ausging. Auch im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs sind die Menschen trotz erhöhter Gefahr beim wiederholten Verlassen des Hauses irgendwann wieder zu ihrem Bäcker gegangen, weil sie morgens Brötchen essen wollten. Wir Menschen adaptieren Umstände schneller, als wir es vielleicht selber für möglich halten.

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Können denn einschneidende Ereignisse eine Gesellschaft nicht auch dauerhaft verändern?
Auch wenn wir uns nach vier Wochen wieder von einer größeren Angst befreit haben, macht das natürlich etwas mit uns, wenn neue Sicherheitsvorkehrungen beschlossen werden und rechte Hetze beständig sichtbar bleibt. Wir passen uns an, aber bei gesellschaftlichem Wandel bleibt immer etwas hängen. Das passiert sanft und wir bekommen meistens selber wenig davon mit. Das kann sich schon so äußern, dass man sich auf dem Heimweg öfter mal umschaut.

In welchem Stadium der Angst befinden sich die Deutschen nach Köln gerade?
Die aktuelle Ängstlichkeit sollte man immer im Kontext der letzten Geschehnisse betrachten. Die deutsche Gesellschaft fühlt sich nicht überfallen von Angst— Unwohlsein im Allgemeinen kann man nicht beobachten. Wenn man morgens in der Zeitung von Terroranschlägen liest, dann grummelt es im Magen, aber man wird nicht krank vor Angst und geht zum Psychiater. Das Netz erweckt zudem oft den Eindruck, dass extreme Meinungen zunehmen. Das liegt daran, dass die schweigende Mehrheit sich nicht die Mühe macht, ihre Meinung ins Netz zu stellen, währen die extremen Meinungen sich Gehör verschaffen—weg vom Stammtisch und hinein ins Internet.

Meines Erachtens gibt es auch viele, die sich stammtisch-ähnlich an Schock-Nachrichten ergötzen wollen.
Merkwürdigerweise haben wir eine erhöhte Endorphinausschüttung, wenn man von einem Unfall liest, bei dem man selber aber nicht betroffen war. Das beruhigt dann auf eine Weise. Das macht ja für viele auch das Boulevard so interessant …

Eine letzte Frage. Mir geht es auch um die Sorge vor der Verunsicherung der Anderen—und finde auch an mir immer wieder eine Form der Angst vor den Ängstlichen. Was sagen Sie, wie kann ich damit umgehen?
Man redet aktuell schon von einer Progromstimmung in Deutschland. Man kann den Menschen die Angst natürlich nicht nehmen—zum Beispiel jungen Frauen, die Abends alleine unterwegs sind. Als Psychiater kann ich hier aber nur bedingt weiterhelfen. Ich kann nur sagen: Lass die Angst zu. Versuche, die Angst dadurch abzubauen, indem du dich mit Flüchtlingen triffst. Versuche, Verunsicherte von ihren Sorgen zu befreien. Setze dich mit dem Thema auseinander.


Titelbild: Imago/Ralph Lueger