Armut in Zürich: Überleben zwischen Sozialhilfe, Depressionen und Existenzängsten
Illustration von Luigi Olivadoti

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Armut in Zürich: Überleben zwischen Sozialhilfe, Depressionen und Existenzängsten

Armut ist in der Schweiz ein Tabuthema. Wir haben mit Betroffenen darüber gesprochen, wie sie in die Armut gerutscht sind und wie sie ihren Alltag meistern.

Über mehrere Wochen haben wir uns mit der Armut in Zürich beschäftigt. Wir haben Menschen getroffen, die aus verschiedensten Gründen von Armut betroffen sind und auf verschiedenste Arten damit umgehen. Für manche ist das Leben am Rande der Gesellschaft eine enorme psychische Belastung, für andere, wie den ehemaligen Obdachlosen Ewald, ist es das, was sie bewusst gewählt haben. Wir geben in mehreren Artikeln einen Einblick in ihren Alltag.

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"Eigentlich wollte ich nie hier einkaufen gehen, ich habe immer gedacht, das sei für die armen Leute", verrät mir Ibrahim, ein etwa 50-jähriger Mann in gebrochenem Deutsch. Wir sitzen zusammen vor dem Caritas-Markt in Oerlikon, in dem ich Ibrahim erst vor wenigen Minuten kennengelernt habe. Als ich mich im Sozialmarkt umgesehen und Kunden gefragt habe, ob sie bereit wären, ein Gespräch mit mir zu führen, hat er mich angelächelt und ohne lange zu überlegen zugesagt. Wobei: Wirklich kennen tue ich ihn nicht. Ibrahim heisst weder Ibrahim noch weiss ich, wie alt er genau ist oder welche Muttersprache seinem Deutsch diesen harten Akzent verleiht. Ihm ist wichtig, dass seine Geschichte in diesem Text ohne seine Person auskommt.

"Heute ist mir egal, was die Leute denken. Im Moment ist alles egal", bringt er ohne Umschweife seine Verzweiflung, die ihn zu einem gewissen Mass an Pragmatismus zwingt, zum Ausdruck. Heute ist erst das zweite Mal, dass er als einer der täglich rund 250 Besucher in die Kundenstatistik des Caritas-Marktes einfliessen wird. Die Sechserpackung Cola Zero in der durchsichtigen Plastiktüte neben ihm ist bislang das einzige, was er auf das Förderband der Kasse des Ladens gelegt hat.

Ibrahim hat sich selbst überwunden, um über die Runden zu kommen. "Im Coop und der Migros kann ich mir den Einkauf nicht leisten," sagt er und fügt an, noch andere Menschen zu kennen, denen es genauso gehe. Oftmals würden sie sich schämen, auf das im Durchschnitt 30 Prozent günstigere Angebot des Caritas-Marktes angewiesen zu sein.

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Yann Bochsler kennt dasselbe Problem aus einer anderen Perspektive, er ist Armutsforscher an der Fachhochschule Nordwestschweiz. "Die Stigmatisierung von Armut ist in der Schweiz ein grosses Problem", sagt er und fügt an, man spreche wenig über Armut. "Arm zu sein, gilt als peinlich, es wird als persönliches Scheitern wahrgenommen." Dabei kenne das Leben am unteren Ende der gesellschaftlichen Leiter oftmals Gründe, auf die der einzelne Mensch wenig Einfluss habe. Es hänge etwa vom Gesundheitszustand, von den Sozialleistungen im Wohnkanton oder vom Bildungsstand ab, wie gefährdet jemand ist, in die Armut abzurutschen.

"Es ist erwiesen, dass Menschen, die in sozio-ökonomisch benachteiligten Familien aufwachsen, eine höhere Chance haben, später selbst von Armut betroffen zu sein", erklärt Yann Bochsler. Müssten die Eltern etwa mehr arbeiten, um über die Runden zu kommen, hätten sie schlicht weniger Zeit, ihre Kinder zu Hause zu fördern, ihnen etwa bei den Hausaufgaben zu helfen. So vererben die Eltern, ohne eine andere Möglichkeit zu haben, in manchen Fällen ihren Kindern quasi das Dasein am Existenzminimum.

Laut Bundesamt für Statistik waren im Jahr 2014 über eine halbe Million Menschen in der Schweiz von Einkommensarmut betroffen. Rund doppelt so viele, immerhin jeder achte Einwohner, war gefährdet, in die Armut abzurutschen. Deckend mit den Ausführungen von Yann Bochsler, sind die meisten dieser Menschen alleinerziehend, verfügen nur über eine tiefe schulische Bildung oder leben in einem Haushalt mit geringem Arbeitspensum.

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Jeder dritte Angestellte im Caritas-Markt schafft den Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt | Alle Fotos vom Autor

Im Kanton Zürich waren gemäss dem Sozialbericht des Kantons aus demselben Jahr 45.500 Menschen auf Sozialhilfe angewiesen, fast ein Drittel davon Kinder und Jugendliche. Die tatsächliche Zahl an Armutsbetroffenen dürfte jedoch bedeutend höher liegen—bis zu drei Mal so hoch legen Studien nahe. Viele der Betroffenen verweigern den Gang zum Sozialdepartement, meist aus Angst vor Stigmatisierung, dem Wunsch nach Unabhängigkeit oder Stolz, wie eine Studie der Universität Fribourg feststellte.

Armut ist ein weit verbreitetes Phänomen. Trotzdem wird öffentlich kaum über sie gesprochen—und wenn doch, geschehe dies oft auf eine wenig konstruktive Art, meint Yann Bochsler, etwa wenn von Ferrari fahrenden Sozialhilfebeziehern die Rede ist. "Anstatt über strukturelle Armut wird in den Medien über irgendwelche Einzelfälle berichtet, die das System ausnützen", findet der sonst sehr sanft formulierende Wissenschaftler klare Worte. "Der schmarotzende Sozialhilfebeziehende ist extrem weit von der Realität entfernt." Schliesslich beziehe jeder sechste Haushalt von Alleinerziehenden Sozialhilfe und mache damit lediglich von einem Recht Gebrauch, das durch die Bundesverfassung gesichert werde.

Ibrahim lebt seit fast 30 Jahren in der Schweiz, arbeitete gut 20 davon als Pizzaiolo—bis er seinen Job wegen gesundheitlicher Probleme aufgeben musste. Seine Gesundheit und sein Alter hätten dann auch die Suche nach einem neuen Job erschwert. Ibrahim ist verzweifelt, sein Vertrauen in das Sozialdepartement hat er verloren. "Wenn ich zum Sozialdepartement gehe und sage, ich habe nichts zu Essen und zu Trinken, geben sie mir für den Notfall einen Gutschein für den Coop. Aber dort ist das Einkaufen viel zu teuer. Wieso machen sie die Situation der Leute nur schlimmer, statt ihnen zu helfen?" Menschen wie er bräuchten nicht nur Geld, sondern auch eine Beratung, wie sie ihre Situation hinter sich lassen könnten.

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Was willst du machen? Willst du klauen? Willst du Scheiss machen? Ich kann das nicht.

Inwiefern diese Vorwürfe stimmen, kann ich trotz einer Nachfrage beim Sozialdepartement nicht endgültig klären. Jedoch zeigen sie auf, welcher psychischen Belastung Armutsbetroffene ausgesetzt sein können.

Die zwei Caritas-Märkte in der Stadt Zürich helfen dabei, diese Belastung zu mindern. Seit zehn Jahren in Oerlikon und seit gut zwei Jahren im Kreis 4 bieten sie Menschen, die von Armut betroffen sind oder drohen, in diese abzurutschen, eine günstigere Alternative für den alltäglichen Einkauf. Neben den Kunden helfen die Caritas-Märkte aber auch ihren Angestellten, allesamt Armutsbetroffene, die vom Sozialdepartement vermittelt werden. Ihnen bieten sie die Möglichkeit, einen ersten Schritt zum Einstieg in den Arbeitsmarkt zu nehmen. Von den 150 Mitarbeitern, die seit der Eröffnung der Filiale in Oerlikon dort gearbeitet haben, hat nach Angaben des Marktes jeder Dritte diesen Sprung geschafft.

Der Caritas-Markt bietet zwischen 400 und 500 Produkte an

Andres ist einer dieser Angestellten, er hofft allerdings noch auf eine solche Entwicklung in seiner Biografie. Auch er möchte anonym bleiben und seine Vergangenheit aus Selbstschutz nicht im Detail aufrollen. Zur Zeit kämpft er sich aus einer tiefen Depression, die vor einigen Jahren in einem Selbstmordversuch gipfelte. Diese Abwärtsspirale nahm damals komplett unerwartet ihren Anfang. Im einen Moment stand er noch fest im Leben, hatte einen guten Job in einer Speditionsfirma, eine Ehefrau und zwei Kinder. Im nächsten Moment wurde ihm der Job gekündigt, während die Scheidung von seiner Ehefrau bereits lief.

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Plötzlich stand er vor einer scheinbar unüberwindbaren Hürde: Ohne Einkommen sollte er nicht nur für die eigenen Lebenskosten aufkommen, sondern zusätzlich die Alimente für seine beiden Kinder zahlen. Er fiel in ein Loch und sah keine Möglichkeit mehr, die Zukunft zu bewältigen.

"Ab einer gewissen Schuldsumme hat man in der Schweiz einen schwierigen Stand", führt Yann Bochsler aus. Die Schweiz kenne etwa kein Restschuldbefreiungsverfahren, wie es in den meisten europäischen Ländern existiere. Hinter dem bürokratischen Begriff versteckt sich simpel gesagt ein privater Schuldenschnitt. Wenn nach mehreren Jahren des Lebens in Schulden klar ist, dass diese nicht zurückbezahlt werden können, kann der Schuldner von seinem Minus auf dem Konto befreit werden. Ein Mittel, um Verschuldeten einen Neustart zu ermöglichen.

Andres sah sich dazu gezwungen, Monat für Monat mehr Schulden anzuhäufen und wurde irgendwann betrieben. Er fiel in ein Loch und sah keine Möglichkeit mehr, die Zukunft zu bewältigen. Heute kämpft sich Andres mit psychologischer Hilfe Stufe für Stufe aus diesem Loch heraus—"ans Licht", wie er mir gegenüber sagt. Eine dieser Stufen ist sein derzeitiger Job im Caritas-Markt—sein erster seit er in die Abwärtsspirale aus Arbeitslosigkeit, Schulden und Depressionen gerutscht ist.

Ich habe den Job sofort zugesagt. Nichts zu tun, das ist kein Leben.

Wegen guter Leistungen in einem einmonatigen Arbeitsprojekt des Sozialdepartements hat er vergangenen Herbst das Angebot bekommen, für ein Jahr im Caritas-Markt zu arbeiten. "Bei der Chance musste ich nicht lange überlegen", erinnert er sich. "Ich habe sofort zugesagt. Nichts zu tun, das ist kein Leben." Seither arbeitet er als einer der rund 30 Angestellten der Stadtzürcher Caritas-Märkte vier bis fünf Tage die Woche in einer Filiale, räumt dort Regale ein, sitzt an der Kasse und berät Kunden.

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Täglich 200 bis 250, beziffert Marco Callegari, der Leiter der zwei Stadtzürcher Caritas-Märkte, die Kundenzahl. Vor zehn Jahren seien es pro Tag gerade einmal 10 Kunden gewesen. Seitdem habe die Bekanntheit aber deutlich zugenommen und auch die Hemmschwelle, bei einem Einkauf im Caritas-Markt stigmatisiert zu werden, sei zurückgegangen. "Die Leute wollen zum Teil verstecken, dass sie vom Sozialdepartement abhängig sind." Wer aber in den Caritas-Markt einkaufen geht, outet sich sozusagen für jeden ersichtlich als armutsbetroffen.

Die Kunden müssen beim ersten Einkauf einen Nachweis über ihre finanzielle Situation erbringen—etwa in Form einer Sozialhilfe-Bestätigung, einer AHV-Verfügung oder eines Stipendienentscheids. Dann erhalten sie eine Einkaufskarte, die für ein Jahr gültig ist. Mit dieser können sie von Milch über Deo bis zum Waschmittel alles einkaufen, was sie im Alltag benötigen. "Unser Ziel ist es, dass wir das ganze Sortiment an Produkten abdecken können", sagt Marco Callegari. Der grösste Unterschied zu einem üblichen Supermarkt sei, dass es von jedem Produkt nur eine Sorte gebe—und dass die Produkte um einiges günstiger seien.

Marco Callegari, der Leiter der Stadtzürcher Caritas-Märkte

In zehn Jahren hätten die Kunden in Oerlikon so bereits 3.7 Millionen Franken gespart. "Es ist unglaublich, was man bewirken kann. Man denkt, es ist etwas Kleines, wenn man bei jedem Einkauf nur fünf oder auch mal zehn Franken spart. Aber wenn man regelmässiger Kunde ist, kommt einiges zusammen."

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"Der Caritas-Markt ist aber nicht nur ein Einkaufsladen, er hat eine wichtige soziale Funktion", kommt Marco Callegari auf einen weiteren Aspekt seiner Arbeit zu sprechen. Armutsbetroffene fänden im Markt Menschen, die sich durch eine ähnliche Situation kämpfen müssen. "Es gibt auch Leute, die sehr einsam sind und einfach hierherkommen, um mit jemandem zu reden."

Andres hofft, dank der guten Referenzen zu jenem Drittel der Mitarbeiter im Caritas-Markt in Oerlikon zu gehören, das nach dem Ende der befristeten Anstellung den Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt schafft: "Ich schaue ständig im Internet, ob irgendwo ein Job frei ist." Für seine berufliche Zukunft musste er einiges ändern, seinen Fokus ausweiten. Andres bewirbt sich nicht nur für Jobs im Verkauf, sondern auch für solche im Aussendienst und der Logistik. "Auf den Bau oder ins Handwerk kann ich nicht, ich bin nicht der Typ dafür." Doch die Jobsuche ist schwierig. "Du bekommst Absage um Absage. Aber ich bin einer, der immer kämpft. Das Leben geht weiter."

Ibrahim blickt bedeutend weniger optimistisch in die Zukunft. "Ich bin froh, wenn ich aus diesem Land gehen kann. Hier habe ich keine Chance zu überleben—aber ich weiss nicht, wohin ich gehen soll." Er sei fast sein ganzes Leben lang in der Schweiz. Hier habe er sein Geld verloren, hier habe er seine Gesundheit verloren, hier habe er sein Kind aus den Augen verloren—"Alles habe ich hier verloren."

Als Alleinstehender bekommt Ibrahim monatlich den von der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe festgelegten Betrag von 986 Franken Sozialhilfe plus die Mietkosten und die Krankenkasse ausbezahlt, 150 Franken davon würden ihm monatlich wegen seinen Schulden abgezogen. Er bekomme viel zu wenig, meint Ibrahim. "Was willst du machen? Willst du klauen? Willst du Scheiss machen? Ich kann das nicht."

Armut ist für viele Menschen eine grosse psychische Belastung. Institutionen wie die Caritas-Märkte helfen Menschen, die bereits von Armut betroffen sind, ihren Weg zurück in einen Beruf zu finden oder ihren Alltag finanziell zu meistern. Trotzdem leiden diese Menschen vielfach unter der Stigmatisierung von Armut. Es hängt dabei auch von uns ab, wie Armut wahrgenommen wird und welche Hilfe Armutsbetroffene von der Stadt, dem Kanton und dem Staat bekommen.

"Wir leben in einer Zeit, in der wir mehr sparen und weniger solidarisch sind als auch schon. Die Prämienverbilligungen werden gekürzt, die Sozialhilfe gerät unter Druck—teilweise kapieren die Menschen nicht, dass das reale Konsequenzen hat", fasst Yann Bochsler diesen Einfluss aus der Vogelperspektive des Forschers zusammen. Wenn wir uns bemühen, offen und ohne Wertung über Armut zu sprechen, könnte sich das vielleicht ändern—und vielleicht würden wir sogar die richtigen Namen der Armutsbetroffenen aus diesem Text erfahren.

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