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Aufwachsen im Aargau

Was bleibt sind prügelnde Nazis, vollgekotzte Nachtbusse und auch ein paar schöne Erinnerungen.
Foto zur Verfügung gestellt vom KiFF

Vor ein paar Monaten sass ich morgens um 01:30 Uhr im Fumoir einer Bar und habe dort nur jemanden gekannt. Dieser Jemand hat mich Leuten vorgestellt und erzählt, dass sie Aargauer seien. Mit diesen Leuten habe ich mich dann gefühlte drei Stunden darüber unterhalten, was es bedeutet, im Aargau aufzuwachsen. Die (Ex-)Aargauer-Verbundenheit, die ich immer wieder erlebe, ist absurd, denn der Aargau hat keinen eigenen Dialekt, keine grosse Stadt, keine mythisch-historische Vergangenheit, keinen grossen Berg, keinen Nationalpark. Der Aargau hat vier Flüsse über die gefühlte tausend Auto- und Eisenbahnbrücken führen. Trotzdem haben viele das Bedürfnis, sich über die „gemeinsame" Jugend in der zersiedelten Endlos-Agglo auszutauschen.

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Was der Aargau hat, sind mit Zofingen und Brugg zwei Gemeinden, die polit-demografisch dem Schweizer Durchschnitt am nächsten kommen. Der Aargau ist ein Durchschnitt, der selbst nicht so ganz bei sich ist, denn: Wer in Baden oder Wohlen wohnt, ist für mich—Wynen-/Seetaler—ein Zürcher, wer im Fricktal wohnt, ein Basler. Wer in Zofingen wohnt, hat mit Oltnern mehr gemeinsam als mit Leuten aus Muri. Und Muri … Muri ist ein ewiges Maisfeld vor Luzern.

Foto von Dimelina; Wikimedia Commons; CC BY-SA 3.0

Die Abwesenheit von Identität macht den Aargauer aus. Die einen treibt er zur glücklichen Geschmacklosigkeit von Schaumpartys und dem Argovia-Fäscht, die anderen flüchten sich in Städte mit Kultur und Geschichte.

Nazis & die Wynen-Suhrental-Bahn

Meine Kindheit spielte sich zwischen Beinwil am See—Böju!—und Reinach ab. Das Leben da ist unaufgeregt. Im Bezirk gibt es seit 40 Jahren immer weniger Arbeitsplätze, weshalb die knapp 40.000 Einwohner irgendwohin pendeln. Ich wurde viel verprügelt—hab auch mal zurückgeschlagen, aber war meistens schwächer. Geprügelt hat mich das ganze Spektrum von Nazis über serbische Nazis bis zu Albanern. Ein Lichtblick meiner frühen Jugend war, dass der—eigentlich gutbürgerliche—Saalbau Reinach einmal im Jahr mit Dosenbier und Joints gefüllt wurde, immer zur „Ska- und Punknight" im Dezember. Als ich zum ersten Mal da war, in der siebten Klasse, sah ich die bis heute grössten Joints meines Lebens. (Obwohl es für mich bei einem Schluck Bier blieb und noch fünf, sechs Jahre vergingen, bis ich selbst zum ersten Mal an einem Joint gezogen habe.)

Mit 12 oder 13 kam dann die Erkenntnis dazu, dass mit dem Open-Air Gränichen ja ein Festival, das meinem Subkultur-Gusto entsprach, „nur" 30 Minuten WSB (Wynen- und Suhrentalbahn)-Fahrt weg war. Yeah.

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So ab der achten Klasse wurde ich mehr von Nazis als von anderen Menschengruppen verprügelt, was mitunter auch an meinem Indymedia-„Artikel" über die NPD-Schulhof-CDs, die in der Region verteilt wurden, lag. Die letzten blauen Flecken im Gesicht und Schritt verschafften mir aber zwei Brüder mit Migrationshintergrund beim Töffli-Abstellplatz hinter dem christlichen Jugendtreff. Obwohl meine Hoden wie die Hölle schmerzten, konnten mein Kumpel und ich danach aber noch lachen, da der Typ, der mich festhielt, über meinen Kumpel sagte: „Dä isch süess. Dä lömmer in Rueh."

Screenshot von meinem einzigen Indymedia-„Artikel"

Das Leben im Wynental war also immer auch Kampf und das blieb so bis ich in die Kanti kam und täglich 40 Minuten Zug in eine neue Welt fahren konnte: Aarau! Aaarau!—was für eine Grosstadt, Aarau. Immerhin war es mal die Bundeshauptstadt, wenn auch nur für sechs Monate. Dem Wynental blieb ich über Politik (so viele Höchstwerte: Dürrenäsch stimmte mit 80 Prozent für die Ausschaffungsinitiative, der ganze Bezirk stimmte mit 77,8 Prozent für die Minarettinitiative) und ein paar wunderbare Plätze zum intim-freundschaftlichen Halbtottrinken verbunden.

Pendelalltag & verkotzte Nachtbusse

Der Aargau ist die beste Schule für Pendler. An meine Zivildienststelle im Jugendkulturhaus Piccadilly Brugg pendelte ich eine Stunde. An die Kanti tuckerte ich mit der WSB, einem „besseren Tram" und wann immer ich die Strecke mit dem Velo zurücklegte, brauchte ich für die 24 Kilometer nur zehn Minuten länger. Als ich nach einer Geburtstagsparty am Ostersonntag besoffen vergessen hatte, dass eben Ostersonntag war und drum kein Zug mehr fuhr, bin ich halt bis fünf Uhr früh durch die Nacht gelaufen. (Genauso vergass ich—bis mir jemand davon erzählte—dass ich mit jemandem, mit dem ich das nicht wollte, für ein Bier geknutscht habe. Oh, das war damals noch schlimm.)

Okay, ich bin nicht die ganze Strecke gelaufen, denn in Unterkulm stand ein Kindervelo am Strassenrand und damit bin ich bis Oberkulm gefahren, aber das ist nur ein kurzes Teilstück. Heimlaufen war auch gar keine allzu schlechte Idee, denn die Nachtbusse waren eigentlich jedes Mal vollgekotzt. Dank der Heizung verteilte sich der Duft und unvergessen ist die Höllenfahrt, als sich ein Primarschul-Kumpel (aus Privatschule geflogen, aus Kanti geflogen, jetzt Fitnesstrainer) neben mich setzte, lautstark verkündete, wie sehr wir zusammengehören und dann während der ganzen Stunde im Nachtbus Frauen und Securitas belästigte. (Natürlich kann man auch in Züge kotzen—schuldig.)

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Dere Aare nah … : Die Natur

Blick auf das AKW Leibstadt, Foto von František Matouš

Die Natur wär eigentlich schön—schade sieht man fast überall entweder eine Autobahnbrücke oder ein Kernkraftwerk. Gösgen, Beznau I & II (die beiden gehören zu den ältesten AKWs der Welt!) oder Leibstadt. Es ist typisch für den Kanton, dass die Anti-AKW-Demos von „MenschenSTROM gegen Atom" zu den schönsten Wanderungen gehörten, die ich im Aargau gemacht hatte. Und ich bin viel gewandert: Mein allererster Kuss war am Hallwilersee, andere erste Küsse waren auf dem Homberg oder an der Aare. Ich hab wohl das Konzept von „An Partys rummachen" nicht verstanden. Fällt mir grad auf.

Garage—Leuchtturm der Weisheit

Das KiFF (Kultur in der Futterfabrik) mit seinen ultrasteilen Treppen wird mein Leben lang die Location bleiben, in der ich am meisten Greis-Konzerte geschaut habe. Was auch daran liegt, dass man irgendwann in ein Alter kommt, in dem man höchstens aus Sehnsucht nach seinem 17-jährigen Ich auf Greis-Konzerte geht. Das KiFF … jeden Freitagabend erjammerten wir uns billigeren Eintritt (funktionierte besser, wenn eine Frau dabei war) und sassen morgens um 4 in wunderbar gemütlichen Hippiekinder-Gruppen davor. Aber dieser mythischen Ort verliert irgendwann seine Anziehungskraft.

Altes Foto vom KiFF-Vorplatz von Morad Ghezouani

Was aber immer und ewiglich ein wunderbarer Ort bleiben wird, ist die „Garage" am Kirchenplatz Aarau. Eigentlich einfach eine Bar mit etwas Biobürger-Einschlag, aber diese Tendenz wird davon torpediert, dass sich die Angestellten—Boris, Yolanda, Manuel …!—dort verhalten wie im Wohnzimmer und es ein abgefucktes Durcheinander ist, aber weder das „abgefuckte" noch das „Durcheinander" daran ist designt oder störend.

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Foto von Benjamin von Wyl

Und wenn die Bedienung wieder mal in der neuen Ausgabe des Comic-Magazins Strapazin vertieft ist, wartet man halt fünf bis zehn Minuten. In der Garage kann man an Glückstagen Dinge wie „Zimtsuppe mit Selleriechips" essen, es gibt Köhler-Bier (früher noch Mustang! Das einzige Bier, für das wir im Freundeskreis eine Gedenkfeier veranstaltet hatten) und in der Garage waren früher jeden Tag fünf bis sechs und jeden Freitag 15 bis 20 Leute, die man/sich oder irgendjemanden kannten. Und in der Garage lernte man dann die Leute auch gleich noch kennen.

Foto von Benjamin von Wyl

Ausserdem sind in der Garage einfach schon so viele unfassbare Dinge passiert. Wer hat zum Beispiel schon mal einem gealterten Industrial-Sänger dabei zugesehen, wie er eine Vinylplatte verspeist? Oder welche andere Bar kennt einen Stadtparlamentarier, der für sie den Antrag für einen 60-Quadratmeter-Sandkasten auf dem Kirchenplatz stellt?

Alles anders, alle weg

Obwohl der Aargau auch positive Seiten hat, gehen alle weg: Studieren, Arbeiten, Leben. Den meisten werden die fünf, sechs Aarauer Altstadtgassen zu wenig. Irgendwann ist es leider nicht mehr so, dass du in der Garage jeden Freitag 15 bis 20 Leute triffst, sondern vier oder fünf verstreute. Irgendwann kennst du dann niemanden mehr. Die Gäste, die dann kommen, sind dir fremd. Sie sehen anders aus, sind wahlweise Biedergrüne, Hipster, Lohas, Outdoor-Extremisten … Einfach Menschengruppen, in denen man sich nicht wiedererkennt. Anders war es nicht in der Krone, die vor drei Monaten zugegangen ist—Ruhen soll die Krone und mit ihr die Twister-Frites! Und bis zum Boiler kommt man alleine halt gar nicht mehr. Aber dass alle in Aarau Verbliebenen plötzlich diesen beschissen überteuerten Old Fashioned in der Tuchlaube trinken, kann ich mir nur mit dem Faktor „Langeweile" erklären.

Alles in allem gehen alle irgendwann weg. Vielleicht kommen sie irgendwann zurück, aber für mich persönlich gliedern sich meine Jugenderfahrungen im Aargau in einen doppelten Abnabelungsprozess: Als ich in die Kanti kam, offenbarte sich mir der Aargau ausserhalb des Wynentals. Als ich mit der Uni anfing, offenbarte sich mir die Schweiz ausserhalb des Aargaus. Und die Restschweiz bietet mehr: Mehr Orte mit Identität, mehr Natur, vor allem nicht zugebaute, mehr Ausgang, mehr Bildung, mehr Kultur, mehr Abwechslung, mehr Altstadt, mehr Vielfalt … Sogar grössere Flüsse. Die, die neu kommen, kommen wegen zahlbaren Wohnungen. Zürich-Pendler, die billig wohnen wollen und nicht wissen, was sie erwartet.

Ewig-Aargauer Benj auf Twitter: @biofrontsau

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