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Aufwachsen im Zürcher Oberland

Eine Ode ans Leben als Agglo-Kid.
Foto: Martin Sauter

„Woher kommst du?" „ Aus Illnau." Nachdenklicher Blick. „Das gehört zu Effretikon." Ein suchender Blick ins Nichts, begleitet von leichtem Kopfschütteln. „Das liegt zwischen Zürich und Winterthur." „Ahhh jetzt!" Als Zürcher Agglo-Kid wächst man mit einer ganz natürlichen Hass-Liebe gegenüber seinem Heimatort und der Stadt Zürich auf. Wenn du noch nie nach einer durchzechten Nacht, bei Minustemperaturen 90 Minuten lang auf den morgendlichen Zug warten musstest, dann wirst du nicht verstehen, worum es hier geht.

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Ich bin auf dem Land aufgewachsen. Oder irgendwo zwischen Wildnis und Zivilisation. Ach verdammt, schon da beginnt das Identifikationsproblem! Ich muss mich kurz auf ein paar simple demografische Fakten besinnen, denn die helfen diesen Sachverhalt nüchtern darzustellen. Illnau-Effretikon gehört zur Agglomeration der Stadt Zürich. Die Einwohnerzahl von Effretikon beträgt 11'070 und die von Illnau 4'267, beides sind also keine Metropolen. Damit das mal geklärt ist. Eigentlich gehören noch ein paar andere Dörfer zur Gemeinde, doch als Illnauer gehen mir die umliegenden Käffer am Arsch vorbei. Denn genau darum geht es auf dem Land, man liebt und hasst sich hier gleichzeitig.

Foto: Roland zh | Wikimedia | CC BY-SA 3.0

Mit den Zürchern fühlen wir uns verwandt. Alleingelassen gehören wir unseren Dorf-Clans an und zerfleischen uns wenn nötig bis aufs Blut. Illnauer beharren heute noch darauf, dass sich Effretiker glücklich schätzen können, dazu zu gehören. Denn Illnau war früher grösser und hatte mehr Einwohner, sprich ohne die Fusion mit Illnau wäre Effretikon heute nichts. Umgekehrt belächeln uns die Effretiker, denn das offizielle Stadthaus steht auf ihrem Boden. Wir haben in Illnau aber die weitaus bessere „Chilbi", das lässt sich nicht abstreiten! Und so geht's immer weiter und auch schon seit wir denken können.

Ein ungeschriebenes Gesetz besagt, dass man an der „Esso" immer ein vertrautes Gesicht antrifft. Sie ist der einzige Ort, der abends geöffnet hat und Alkohol verkauft–und somit zwangsläufiger Treffpunkt des Party-willigen Volks. Die „Esso" ist das Synonym für die lokale Tankstelle, die im Laufe der Jahre diversen Namenswechseln zum Opfer fiel. Aktuell handelt es sich eigentlich um eine Migrolino-Tankstelle—trotzdem wird sie weiterhin von allen „Esso" genannt. Man trifft sich an der „Esso".

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Die Grundschule besuchte ich in Effretikon. Abgesehen von Pausenhofschlägereien und verstecktem Nielen-Rauchen geschah nicht viel Spektakuläres. Ich wuchs in einer dermassen wohlbehüten Umgebung auf, dass selbst harmlose Skater für misstrauische Blicke von Passanten sorgten. Echte Rebellen waren diese Jungs! Kein Wunder, dass ich später als kiffender Teenie mit zerrissenen Jeans und Punkmusik im Discman durch die Strassen rollte. Doch der wahre Spass begann erst in der Oberstufe und genau dann zogen meine Eltern mit mir im Schlepptau nach Illnau.

Foto: Paebi | Wikimedia | GFDL

Wir zogen von der Kleinstadt aufs Land. Migros und Coop Filialen gewohnt, wurde ich plötzlich zum Volg-Jünger. Eine Spezies Konsument, die nur an den abgelegensten Orten dieser Welt anzutreffen ist. Plötzlich lebte ich zehn Busminuten von all meinen Freunden entfernt—eine halbe Weltreise für einen heranwachsenden Teenager. Die Schulzeit beendete ich zwar in Effretikon, doch meine Freizeit verlagerte sich nach Illnau. Denn der Jugendtreff—liebevoll Jugi genannt—in Effretikon war ein grosses Tabu: „Viel zu gefährlich", ermahnten mich meine Eltern regelmässig (ich erinnere an all die Skater), in Illnau wägten sie mich aber in Sicherheit. Was hätte ich also tun sollen?

In Illnau-Effretikon gibt es kein Kino, keinen McDonald's und auch kein grosses Einkaufszentrum zum Abhängen. Aus Mangel an Alternativen bildete der Jugendtreff das soziale Epizentrum. Ich kam dort dementsprechend das erste Mal in den Genuss von Alkohol und lernte sogar Menschen des andern Geschlechts kennen. Man muss sich das mal vorstellen: Echte Mädchen! Keine Fabelgestalten in knappen Miss Sixty-Hosen, hässlichen Buffalo-Schuhen und einem auf die Stirn geschriebenen Fick dich-Blick. Hier verbrachten pubertierende Jungs und Dorfschönheiten mit Spaghetti-Trägern die Freizeit gemeinsam, als Freunde und manchmal auch mehr.

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Da die öffentlichen Verkehrsmittel auf dem Land in der Realität einem einzigen Bus entsprachen, war die örtliche Jugend mit Töfflis und Rollern unterwegs. Egal wie besoffen oder zugestoned ein Freund auch war, man half ihm aufs Gefährt, damit er „sicher" nach Hause fahren konnte. Dafür waren gute Freunde schliesslich da. Niemand machte sich Sorgen, von den staatlichen Freunden und Helfern erwischt zu werden. Man kannte die paar lokalen Polizisten meist persönlich und wusste auch mit welchen Autos sie unterwegs waren.

Um auf Nummer sicher zu gehen, konnte man nachts auf die unzähligen Schleichwege ausweichen, vornehmlich waren das Feldwege. Wurde man zwischendurch doch mal bei einer Dummheit erwischt, gab's üblicherweise einen väterlichen Rat mit auf den Weg. Unser Verhältnis zur Polizei war alles in allem ein freundliches Katz-und-Maus-Spiel, das höchst selten gesetzliche Konsequenzen nach sich zog.

Selbst als ich mit drei Freunden im jugendlichen Leichtsinn die drei Meter hohe Gartenhecke des Nachbarn anzündete, sah dieser von einer Anzeige ab. Trotz massivem Feuerwehreinsatz und seinem Haus, das beinahe in Flammen aufgegangen wäre, machten die Ordnungshüter dem aufgebrachten Hausbesitzer klar, dass wir aus dem Schrecken genug gelernt hätten. Als wir anschliessend mit auf den Posten mussten, posaunte mein Freund lauthals: „Cool! Ich wollte schon lange einmal in einem Polizeiauto hinten mitfahren!" Er hatte offenkundig den Schrecken bereits verdaut. Daraufhin liessen uns die angepissten Polizisten den Weg aus Prinzip zu Fuss gehen, während sie neben uns im Auto her fuhren und sich mit uns unterhielten. Erziehung, wie es sie nur auf dem Land gibt.

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Das Kiffen bildete den Dreh und Angelpunkt unserer gemeinsamen Gammelei. Die „Mary Jane" liebenden Illnauer nahmen die Kunst des Kiffens sehr ernst und so kam es, dass das omnipräsente Weed zum ständigen Begleiter wurde. Die Kids vom Lande wussten, wie man anständiges Gras anbaute. Das Stoner-Walhalla empfing mich mit offenen Armen und Odin öffnete das Tor mit rot-leuchtenden Augen.

Da wir zwischendurch trotz der Geborgenheit unseres „Jugis" nach Abwechslung lechzten, wurden in regelmässigen Abständen (also immer während elterlicher Abwesenheiten) die übelsten Homepartys geschmissen. Open-House für alle, das war so üblich. Diese Abende gerieten gut und gerne mal aus der Bahn: Während ich mit einem Mädchen knutschend in der Ecke sass, wurde nebenan ein Kumpel fürs erste Alk-Kotzen von einer Horde Besoffener angefeuert. Wie in American Pie, nur lauter und in echt.

Viele Häuser waren mit Pools ausgestattet (da der nächste See gefühlte Tagesreisen entfernt liegt), daher fanden diese Nächte ihr rituelles Ende beim gemeinsamen Sprung ins kühle Nass. Das gehörte sich so, in einem unbekümmerten Dorf fernab vom städtischen Druck der selbstauferlegten Coolness, wo heranwachsende Männer mit Spitznamen wie Wadebausch, Digo, Hundili oder Chechi zu den beliebten Kids gehören konnten.

Foto: Tschubby | Wikimedia | GFDL

Natürlich wurden auch wir irgendwann erwachsen und verlagerten unsere Saufgelage nach Zürich. Bei aller Liebe zum Dorfleben, die Jugi gab uns irgendwann nicht mehr das, was wir brauchten. Die Limmatstadt wurde unser Tor zu einer Welt, die es seither zu erkunden gilt. Inzwischen lebt oder arbeitet ein Grossteil meines Umfelds in der Stadt. Anlässe wie Hochzeiten veranstalten Illnauer dennoch gerne in der alten Heimat. Einer meiner Freunde heiratete vor der idyllischsten Kulisse unserer Jugend: dem Hof in Illnau. Dass die Jugi-Leiterin während der Trauung ein Märchen erzählte, gehörte genauso dazu, wie das selbstgebraute Illnauer-Bier bei der anschliessenden Feier.

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Zürich ist grandios, doch meine zukünftigen Kinder werden sich am Zürcher Hauptbahnhof genauso wie ich einst den Arsch abfrieren müssen. In der S-Bahn werden sie dann die Haltestelle verschlafen, weil sie mit ihren Freunden total zugekifft und besoffen weggepennt sind. Anschliessend werden sie dann hoffentlich ausgenüchtert auf ihre Roller steigen und nach Hause fahren. Nach Illnau. Vielleicht mit einem kurzen Abstecher zur „Esso"-Tankstelle.

Ivan twittert inzwischen auch nüchtern:@iiivanmarkovic

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Titelfoto: Martin Sauter | Wikimedia | CC BY-SA 3.0