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Aufwachsen in Schaffhausen

In Schaffhausen aufzuwachsen, ist mit schlechtem Sex vergleichbar: Kann passieren, sollte aber nicht.
Foto von Sven Scharr

„Oh, du kommst aus der Schweiz, woher denn?"—„Aus Schaffhausen."—Fragende Blicke—„In der Nähe von Zürich."—„Ahh, Zürich."

So in etwa sieht jedes meiner Kennenlerngespräche im Ausland aus. Wenn ich auf Schweizer treffe und ein Gespräch in der guten alten Mundart beginne, kommt mir meistens nur ein „Vo wo bisch denn du? Us St.Gallä?" entgegen. Nein, erneut: aus Schaffhausen. Ich bin nicht überrascht, wenn ich ein weiteres Mal fragende Blicke erhalte. Entweder ist dieser Kanton wirklich so unbekannt oder die Schweizer, die mir begegnen sind einfach nur dämlich. Ich denke, es ist ein bisschen von beidem.

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Auch eine Grenzregion: das Südtirol

In Schaffhausen aufzuwachsen, ist mit schlechtem Sex vergleichbar: Kann passieren, sollte aber nicht. Die heissen Tage sind zu heiss, die kalten Tage sind zu kalt. Die Berge sind zu weit weg und die Menschen zu nahe beieinander. Damit meine ich, dass bei 265 Einwohnern pro Quadratkilometer hier jeder jeden kennt, obwohl man es gar nicht möchte. Passiert irgendetwas, kannst du sicher sein, dass in der nächsten Woche zehn Varianten dieser Geschichte in der Stadt kursieren aber keiner weiss, was wirklich vorgefallen ist. Du kletterst mit einem Typ auf das Dach einer Badi, wirst von der Polizei erwischt und schon heisst es: „Ihr hattet was miteinander". Ach ja, die Magie von Schaffhausen.

Die Anfänge

Da ich nur die Hälfte meiner Kindheit an diesem wundervollen Ort verbracht habe, konnte ich ihn nicht voll und ganz geniessen. Erst mit sieben Jahren kam ich in die Schweiz. Meine Mutter hatte neu geheiratet. Als ich hierherkam, waren meine Deutschkenntnisse genauso gebrechlich wie meine Statur. Natürlich waren die Schweizer Zweitklässler unglaublich freundlich und hilfsbereit. Natürlich wurde ich herzlich aufgenommen und fand sofort Freunde.

Bis zur sechsten Klasse wanderte ich in meiner viel zu grossen, orangen Jacke umher, versteckte mich während den Pausen auf dem Hof und las meine Harry-Potter-Bücher in der Hoffnung, einen Brief von Hogwarts zu bekommen, wenn ich endlich elf werde. So hätte ich diesen kleinen Bastarden aus der Primarschule Buchthalen den Rücken kehren können. Vermutlich fand mein stetig wachsender Menschenhass zu dieser Zeit seinen Ursprung.

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Aber kommen wir zum aufregenden Teil meiner Kindheit, als ich endlich meine orange Jacke ablegte und Freunde fand. In dieser Phase mussten wir unsere Coolness unter Beweis stellen, indem wir Schokolade, Energydrinks und Männerdeos aus der Migros mitgehen liessen. Wir rauchten noch Shisha, schminkten uns viel zu stark und trugen Kleider mit Marihuana-Print. Wenn wir Glück hatten, konnten wir sogar einen älteren Bruder/Schwester anhauen, uns Falkenbier im Denner zu kaufen.

Das Resiwäldli

Das erste Mal Alkohol getrunken habe ich im Resiwäldli. Die Erinnerung daran ist aber nur vage. Wie jedes Wochenende trafen wir uns an diesem mythischen Ort—der im Wesentlichen aus einem Fussballplatz, ein paar Bänken und einer Feuerstelle besteht. Irgendjemand hatte es geschafft, eine kleine Flasche roten Wodka aufzutreiben und da wir mit dreizehn so unglaublich mutig waren, machte die Flasche ihre Runden.

Nachdem wir einen ganzen Zentimeter des Inhaltes geleert hatten, zeigten der Zuckerschock und die 0.00001 Promille ihre Wirkung. An den Rest des Abends erinnere ich mich nur in Bruchstücken: Ich stehe heulend in einem Maisfeld und werde mit Maiskolben beworfen. Ich sitze heulend auf einer Bank und telefoniere mit meinem Freund, den ich über MSN kennengelernt und noch nie getroffen habe. Natürlich haben wir eine Beziehung, denn mein MSN-Status ist nur ihm gewidmet. Danach werde ich auf einem Hobel von den Jungs nach Hause gebracht, verliere den Hausschlüssel und kotze einem Freund in den Keller.

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Es fängt immer im Tabaco an

Schliesslich war es so weit: Wir bekamen ein Monatsabo für den Bus und konnten dieses Etwas, das alle Stadt nennen, im Sturm erobern. Mit 15 nahm das wilde Nachtleben also seinen Lauf. Wie bei allen Schaffhausern begann das auch für uns im tiefsten Loch der Stadt: Im Tabaco.

Einlass ab 18, aber wer schaut schon so genau hin. Ein kleines Lächeln hier, ein Augenklimpern da und schliesslich haben's Frauen ja eh leichter (übrigens: Donnerstagabends wird das Getränkelager vom Tabaco nicht abgeschlossen. Diese Gutgläubigkeit hat uns den einen oder anderen Abend finanziert). Danach Disco Time in der Kammgarn oder HipHop-Partys im Chäller. Den Ausweis der älteren Freundin/Schwester schon gezückt, schafften wir es mit (allerhöchstens!) 20 Franken durch den Abend zu kommen, um danach „volle wiä ä Tolle" nach Hause zu wanken, bevor wir schliesslich in der Waschküche auf dem Boden einschliefen. Dies geschah schockierend oft, weil wir uns 1. selbst ausgeschlossen hatten oder 2. die Mutter zu Hause war und von unserem Rausch nichts mitbekommen sollte.

Open House

Als ich ungefähr 16 war, liess mich meine Mutter (zu meinem Glück) praktisch jedes Wochenende alleine zu Hause. Ihr könnt euch ja vorstellen, was eine 16-Jährige alles mit einer eigenen Wohnung anzufangen weiss.

Ich muss gestehen, wir hatten unseren Spass und wir hatten unseren Alkohol. Eine Menge davon. Es ist beängstigend, dass ich früher das Wochenende durchsaufen und trotzdem am Sonntag quicklebendig aufstehen und den ganzen Tag lernen konnte. Heute bin ich lange nicht mehr so trinkfest wie mit 16. Andererseits wäre der Ausgang in Schaffhausen ohne Alkohol auch nicht zu ertragen gewesen. In dem Moment, wenn du nüchtern einen Club betrittst, fängst du entweder zu trinken an oder bereust es für den Rest des Abends. Nicht umsonst waren Homepartys in unserer Jugend begehrenswerter als Gratissachen am Zürcher Hauptbahnhof. Ein Dach über dem Kopf, drei Tennies Bier und für die Girls jeweils ein Smirnoff: Schaffhausens Project X konnte nichts mehr im Wege stehen.

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Kiffen ist cool

Auch wenn Schaffhausen keine Drogenmetropole ist, so gab es in den letzten Jahren einen beachtlichen Anstieg von Marihuanakonsumenten. Ein Haufen Hanfplantagen wurde in den letzten Jahren hier ausgehoben. Die meisten davon versteckten sich in igendwelchen Dörfern ausserhalb der Stadt, aber eine befand sich auch direkt neben der Polizeistelle. Eines muss man Ihnen lassen: Sie sind mutig, die Schaffhauser Dealer. Mit meinen jungen 20 Jahren habe ich in dieser Szene schon einige aufsteigen und wieder fallen sehen. Sie haben gedealt, einen Haufen Kohle gemacht, sich schicke Wohnungen zugelegt und wie Könige gelebt. Dann wurden sie von ihren Freunden verarscht und kamen (fast ausnahmslos, je nachdem wie viel Glück sie hatten) in den Knast.

Obwohl mir Gras mit 13 Jahren noch wie eine Einstiegsdroge vorkam (der Präventionsunterricht hat seine Wirkung nicht vollständig verfehlt), führte kein Weg an der grünen Medizin vorbei. War es der schlechte Einfluss meiner Mitschüler? War es die Tatsache, dass eine völlig abgefuckte „Freundin" mit sämtlichen Bahnhofjunkies vertraut war? Oder war es die Schuld meines Dealers, der einen ununterbrochenen Grasfluss sicherstellen konnte? Wahrscheinlich von allem ein wenig.

Manchmal frage ich mich, wie mein Leben ohne Gras verlaufen wäre. Meine Mutter hätte eindeutig weniger Sorgenfalten im Gesicht und ich hätte weniger SMS auf meinem Handy mit Inhalten wie: „Mach die Tür zu, aus deinem Zimmer stinkt's nach Marihuana." Oder: „Kiffst du schon wieder?" Obwohl ich diese Nachrichten immer wieder sehr amüsant finde, hätte ich mir die Gespräche, die mit der Frage „Sascha, bist du drogensüchtig?" beginnen gerne erspart.

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Auch wenn ich in Schaffhausen das eine oder andere Drama erlebt, viele Gerüchte ertragen (aber auch verbreitet) und wahrscheinlich schon an jedem erdenklichen Ort meinen Mageninhalt entleert habe, liebe ich diese Stadt auf eine verkorkste Art und Weise. Ich habe hier meine Freunde, mein Gras, meine Bars und meine Clubs. Ich könnte zwar über mein Leben in diesem Nest klagen (oh, und wie ich das könnte!) aber ich werde es nicht tun. Trotzdem werde ich irgendwann weiterziehen. Es liegt nicht an dir, Schaffhausen, es liegt an mir. Ich hoffe wir können dann trotzdem Freunde bleiben.

Sascha auf Twitter: @saschulius

Vice Switzerland auf Twitter: @ViceSwitzerland


Titelbild von Sven Scharr | Wikimedia Commons | CC BY 3.0