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Wie ich gelernt habe, mein Babyface zu lieben

Wenn man jünger aussieht, als man eigentlich ist, wird man zwar ständig nach dem Ausweis gefragt, man kommt aber auch mit viel davon.
Collage von VICE Media

Manchmal sehe ich mir Selena Gomez' Gesicht an und denke, dass das unmöglich eine 23-jährige Frau sein kann. Dann sehe ich mir mein Gesicht an und denke, dass das unmöglich eine 23-jährige Frau sein kann. Jetzt bin ich nun mal weder eine Frau noch bin ich 23, von daher scheint das ganz OK. Was Selena und ich jedoch gemeinsam haben, sind unsere speckigen Kinder-Gesichter, die uns als Mittzwanziger immer wieder in Situationen bringen, in denen man nach einem Ausweis gefragt wird und überdurchschnittlich oft „Awww" hört.

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Die Bezeichnungen „Milchbubi", „Milchbart" oder „Milchgesicht" beschreiben ein Gesicht mit kindlich weichen Zügen (oft auch einfach jemand Unbeholfenes) und spielen auf die Abhängigkeit von Muttermilch an—ein Drink, der nicht gerade Erwachsensein buchstabiert. Deshalb ist das Phänomen Babyface auch kein besonders positiv konnotiertes. Wir sind für immer 15.

Ein Babyface hat man oder eben nicht. Runde Gesichtszüge, Pausbacken, volle Lippen, große, weit auseinander stehende Augen, lange Wimpern. Bei Männern kommt meist noch wenig bis kaum Bartwuchs dazu. Das führt, egal bei welchem Geschlecht, letztendlich dazu, dass man sehr oft sehr viel jünger geschätzt wird, als man tatsächlich ist.

Alkohol oder Zigaretten zu kaufen, wird zum Beispiel nie ganz zur Nebensächlichkeit. Obwohl man weiß, dass man alt genug ist, und obwohl man weiß, dass man einen Ausweis dabei hat, der das bestätigen kann, spürt man immer noch diesen Kick, wenn man mit der Flasche Tequila an der Kassa steht. Hauptsächlich deshalb, weil die VerkäuferInnen einen auch mit Mitte 20 noch ungläubig angaffen werden, während sie das Führerscheinfoto mit dem verlegen grinsenden Gesicht, das vor ihnen steht, abgleichen.

Und selbst wenn sie mal nicht nach dem Ausweis fragen sollten—weil sie anständige Menschen sind und niemanden vor den Kopf stoßen wollen—, vertrauen sie oft auf ihr geschultes Auge und mustern jedes Babyface mit dem skeptischen Blick eines Schmuckgutachters. Wenn argwöhnische Blicke töten könnten, wäre ich schon tausend Tode an der Supermarktkassa gestorben.

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Durch dieses Misstrauen, das einem da entgegengebracht wird, hat ein kleiner Teil von einem selbst manchmal immer noch diese Angst, dass der Ausweis vielleicht für gefälscht gehalten wird und man die Tschick nicht kriegt. Und je mehr man versucht, irgendwie erwachsen zu tun oder unterschwellig zu vermitteln, dass man eh schon weit über 16 ist, desto mehr wirkt man wiederum wie ein peinlicher 15-Jähriger.

Foto via VICE Media

Im Club mit einer Runde Gleichaltriger wirkt man auch schnell mal wie das mitgebrachte Pflegekind und wird von Außenstehenden auch nicht selten genau so behandelt. Früher empfand ich beim Fortgehen Sätze wie „Ah entschuldige, du siehst viel jünger aus!" als nervig. Heute antworte ich mit „Ich weiß!". Ziemlich sicher wird man auch als einziger an der Tür kontrolliert.

Egal, was man tut, man sieht dabei immer irgendwie niedlich aus. Abgesehen davon, dass man die Frage „Was machst du gerade?" jederzeit mit „Süß sein" beantworten kann, ist kindhaftes Aussehen daher auch oft ein Freifahrtschein dafür, Scheiße zu bauen und damit davon zu kommen. Die meiste Zeit wird man noch nicht mal verdächtigt werden, wenn es darum geht, wer die Kekse aus der Dose geklaut hat.

Man könnte einer Einkaufssackerl tragenden Oma eiskalt ein Bein stellen und trotzdem würde sich noch irgendjemand finden, der einem daraufhin in die fleischigen Wangen kneift, dabei „Ja, fein, du Liebes, du" in Babystimme sagt und einem währenddessen verliebt durch die Haare wuschelt. So gesehen ist die unschuldige Optik eines Neugeborenen vielleicht manchmal ganz hilfreich, aber eben nicht immer.

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Studien, die den „Babyface Overgeneralization Effect" behandeln, haben belegt, dass erwachsenen Menschen mit Babyface häufig kindliche Eigenschaften zugeordnet werden—naiv, schwach, ehrlich, vertrauenswürdig. Daraus ergibt sich, dass Straftäter mit Babyface eher ein mildes Urteil erhalten als solche mit reifen Gesichtszügen. Gleichzeitig werden Babyfaces aber auch seltener Führungspositionen zugetraut.

Dass man permanent knuffig wirkt, kann also sowohl Vor- als auch Nachteil sein: Fremde unterschätzen einen oft fälschlicherweise und man hat Probleme damit, auf Anhieb ernstgenommen zu werden, und ja, das wird auf die Dauer mühsam. Oft unterschätzen sie einen aber auch völlig zurecht. Beides kann man sich je nach Situation zurechtlegen.

Darüberhinaus gehen die meisten Menschen, mit denen du redest, von Vornherein davon aus, dass du irgendwie nett bist und treten dir auch dementsprechend gegenüber. Ob man diesen Erwartungen gerecht werden oder die Leute mit einem Arschloch-Charakter überraschen will, bleibt einem selbst überlassen.

Bei vielen wecken kindliche Gesichtszüge auch eine Art Mutterinstinkt—seit der letzten Staffel Dschungelcamp auch bekannt als das Menderes-Phänomen. Eine wissenschaftlichere Erklärung dafür wäre wohl das Kindchenschema, wonach gewisse Proportionen, die als kindhaft gelten, sowohl bei Menschen als auch bei Tieren ein Fürsorgeverhalten auslösen. Männliche Betroffene scheint das mittlerweile teilweise so zu frustrieren, dass sie sich wie andere einen Sportwagen einfach einen Bart zulegen.

Die New York Times berichtete im letzten Jahr von Männern mit Babyface, die sich im täglichen Leben von Mitmenschen nicht respektiert fühlten, weil es ihnen optisch an „Männlichkeit und Reife" fehlte. Eine Lösung fanden sie in der Barttransplantation—die zitierten Ärzte sprechen von drei Transplantationen wöchentlich, vor zehn Jahren waren es jährlich vier bis fünf gewesen.

Beispiele wie Justin Bieber oder eben Selena Gomez, aber auch Mark Zuckerberg, der mit 31 immer noch aussieht wie ein frischgebackener Maturant, beweisen, dass ein Babyface heute kein Hindernis mehr sein muss. Ein Experiment der Uni Regensburg zeigt sogar, dass ein gewisser Anteil an kindlichen Gesichtszügen zur Attraktivität eines Menschen beitragen kann. Es liegt in unseren Händen—in diesen putzigen, kleinen Patschehändchen.

Franz twittert auch ganz süß: @FranzLicht