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Der erste Mai ist das Fest des internationalen Kapitalismus

Im „Gemischtwarenladen mit Revolutionsbedarf“ von H.G. Lindenau in Kreuzberg bekommt man von Palitüchern bis hin zu Schlagstöcken die Grundausstattung für den Straßenkampf.

Der 1. Mai steht vor der Tür. Für manche der klassische Feiertag der linken Protestbewegung, für andere ein Anlass, um einfach nur eine Party zu feiern. Während es bei uns im Alpenland am Tag der Arbeit eher gemächlich zugeht, werden in Berlin wieder die Geschäfte zugenagelt und die Berliner Polizei setzt trotz vorheriger Entwarnung ihre Truppen in Alarmbereitschaft, während die deutsche Boulevardpresse die Angst der Bürger vor linken Krawallmachern schürt. Ein guter Anlass für unsere deutschen Kollegen, um einen Mann zu besuchen, der sich mit der Szene auskennt. Hans Georg Lindenau—seine Freunde dürfen ihn H.G. nennen—betreibt seit 1985 den „Gemischtwarenladen mit Revolutionsbedarf“ in Kreuzberg und fast jeder in Berlin ist schon mal von ihm angegrantelt worden.

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Er raucht nicht, trinkt nicht und lebt vegan. In seinem Laden verkauft er neben linker Literatur, Palitüchern und schwarzen Kapuzenpullovern auch radikale Zeitschriften. Außerdem hat H.G. Schlagstöcke und Pfefferspray im Angebot. Also alles, was man für den revolutionären 1. Mai benötigt. Die Zahl der Razzien im M99 liegt mittlerweile bei rekordverdächtigen 53.

H.G., der nach einem missglückten Selbstmordversuch vor 25 Jahren querschnittsgelähmt im Rollstuhl sitzt, nahm sich trotz des regen Betriebs Zeit für mich. Zwei Stunden lang redete er fast ununterbrochen, wenn er nicht gerade vom Sekundenschlaf übermannt wurde. Ich lernte in diesen zwei Stunden einen Mann kennen, den man ohne Zweifel als „speziellen Charakter“ bezeichnen dürfte. Und manchmal war ich mir nicht sicher, ob aus seinen Worten ein intelligenter, doch leicht verwirrter Geist sprach, bei dem es mir nur schwer fiel zu folgen, oder ob er mich einfach nur ein bisschen verarschen wollte. Ich wollte ihn fragen, wie sich der 1. Mai und die autonome Szene in den Jahren verändert haben, doch selten erhielt ich eine konkrete Antwort. Dafür erfuhr ich Interessantes über Antipsychiatrie, Mahatma Gandhi, körpereigene Drogen, die Kunst des Jodelns und Dieter Bohlen.

Ziemlich viel los heute. Hast du generell vor dem 1. Mai immer mehr zu tun als sonst?
H.G. Lindenau: [verkauft noch schnell einem circa 16-jährigen Jungen ein schwarzes Halstuch für 2,50 Euro] Ja, aber da ist immer so um Ostern und den 1. Mai, wenn die Traveller-Saison beginnt. [H.G. bezeichnet Touristen als Traveller, weil der Begriff Tourist mittlerweile eher für „Asylanten und Ausländer, für alle, die ausgeschlossen sind“ gelte.] Aber es kommen schon Leute, die speziell für die Demos und Aktionen einkaufen?
[Erwacht aus Sekundenschlaf] Ja, es gibt jetzt viele Antifa-Aktionen, die Einkaufssaison ist also schon vom 1. Mai abhängig.

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Wer kauft bei dir ein?
Revolutionsbedarf heißt für mich auch „Monarchie abgeschafft“: Die Kunden sind keine Könige, sondern Aktivisten, und ich habe es deswegen Gemischtwarenladen genannt, damit alles hier reinkommt. Die Ecke hier ist ja inzwischen auch eine Gegend, in der das Travellertum voll zur Geltung kommt. Wie aufs Stichwort betreten drei schwarzgekleidete männliche „Traveller“ den Laden und fragen nach Gürteln aus Kunstleder, doch kaufen tun sie keine. Stattdessen bleiben sie unschlüssig vor der offenen Ladentür stehen, und H.G. macht sich Sorgen darüber, dass sie dort anfangen könnten zu rauchen.

H.G., du bist seit mehr als 35 Jahren in der Szene unterwegs. Wie hat sich der 1. Mai über all die Jahre verändert? Denkst du, dass die politischen Inhalte immer weniger eine Rolle spielen?
Der Revolutionscharakter des Maifests ist umgewandelt worden in ein internationales Fest des Kapitals, das heißt, alle internationalen Kapitalisten treffen sich am 1. Mai und machen ihre Stände und beuten alle ihre Leute aus, damit sie ganz viel Geld in kürzester Zeit machen können. Das ist jetzt das Motto des Maifests, und da das Kapital international ist, hat es keine nationalen Vorzeichen, sondern die sind alle gemischt. Ein multikultureller kapitalistischer Haufen.

Ohne, dass ich es so schnell mitbekommen hätte, hat sich H.G. in Windeseile in aberwitzige verschwörungstheoretische Gefilde manövriert. Er erzählt mir von der CIA, die in den 80er Jahren das Büro ICA gegründet habe, woraus dann der Verein SO36 in Kreuzberg entstanden sei. Er erzählt auch vom Kieznationalismus und den Grauen Wölfen—einer rechtsextremistischen türkischen Vereinigung—, die sich dadurch finanzieren, dass ihre Mitglieder SO36-T-Shirts an Touristen verscherbeln. Kurz darauf hat er schon wieder das Thema gewechselt und berichtet von seiner Teilnahme bei Das Supertalent vor zwei Jahren, wo er freiwillig eine Teilnahme an den Liveshows ablehnte, obwohl ihn Dieter Bohlen als „das Genie und der Wahnsinn zwischen Otto Waalkes und Wolf Biermann“ gelobt hatte. H.G. ist nämlich nicht nur Ladenbesitzer, sondern auch Sänger und Performancekünstler.

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Was verkaufst du am meisten?
Windbreaker. Schwarze für die Aktion, bunte fürs Untertauchen. Du verkaufst auch Pfefferspray.
Ja. Wozu? Zur Verteidigung?
Pfefferspray ist zwar zur Verteidigung gedacht, aber nur gegen Tiere und nur in Notwehr auch gegen Menschen. Viele benutzen das natürlich für was ganz anderes, das nennt sich dann Nebel, den man gegen größere Gruppen anwenden kann, da muss man dann aber auf die Windrichtung achten, damit man nicht selbst drinne steht. [Nach kleinem Nickerchen] Es gibt Nebel, der ist breit, es gibt den Strahl, dann gib es noch Gel, das ist noch genauer, das ist noch mit Öl vermischt und hat eine höhere Konzentrationswirkung als der Strahl.

Und Schlagstöcke, verkaufst du die auch noch?
Teleskopschlagstöcke hab ich auch. Natürlich kann ich manche Sachen nicht so offen verkaufen, weil auch oft so Gangleute herkommen. Ich verkaufe auch prinzipiell keine Messer, weil wir hier gegenüber auch schon die Blutlachen von den Messerstechleuten hatten. Du lebst vegan, aber du bist also nicht generell pazifistisch?
Pazifistisch finde ich falsch. Ich bin militant, aber nicht militaristisch, das heißt für mich, entschieden für eine Sache eintreten, und Pazifismus ist für mich zu wenig, Gandhi, zum Beispiel, war für mich ein Militarist. Ein pazifistischer Militarist. Er war ein sehr guter Militärstratege und hat Leute wie Marionetten eingesetzt. Dass das als Pazifismus angesehen wird, ist für mich nicht gut, obwohl Gandhi positiv motiviert war. Jetzt ist ja auch das Maifest, das Fest des internationalen Kapitalismus, ein Fest gegen Gewalt, dabei ist es sehr gewalttätig, weil es eine strukturelle Gewalt ausdrückt: Dass alle Errungenschaften, Widerstände gegen kapitalistische Ausbeutungsinteressen, dass denen widersprochen wird und gesagt wird, wir machen jetzt extra noch mehr mit—die ganzen Traveller kommen her, um sich volllaufen zu lassen und um Drogen zu nehmen, an denen der Staat verdient, die Steuern vom Alkohol aber nicht für die Rehabilitierung verwendet.

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Ich frage ihn, ob der andere Antifa-Shop um die Ecke oder der Internethandel eine Konkurrenz für ihn darstellen. Er erzählt von den Brandanschlägen auf seinen Laden und davon, dass er in diesem Jahr seinen 25. Todestag feiert. 1989 sprang H.G. in einem psychotischen Zustand von einem Kirchturm, während, laut eigenen Angaben, die Polizisten, die ihn seit langer Zeit wegen seiner staatsfeindlichen Umtriebe beschatteten, zusahen und keine erste Hilfe leisteten. Daraufhin erklärt mir H.G., der freiwillig antipsychiatrische Arbeit leistet, den Zusammenhang zwischen Schizophrenie und gesellschaftlichen Konventionen. „Wer sich der herrschenden Konstruktion nicht anpasst, wird angeglichen mit sozialem Druck.“ Anschließend erzählt er von einem Film mit Arnold Schwarzenegger. H.G., der selber mal eine Lehre zum Bankkaufmann angefangen hat, will, dass Geld abgeschafft wird. Brauchen tut er es trotzdem. Da der Laden zum Leben nicht genug abwirft, ist er auf Spenden angewiesen. Wer spendet?
Alle, die mich hören. Ich bin ja Performancekünstler. Ich habe weltweit, von den Kanarischen Inseln bis Jordanien, meine Performances gemacht, so dass auch Dieter Bohlen mir eben meinen achten Hausverwalter geschenkt hat, nach der Veranstaltung vom 12.8., wo die Michelle Hunziker gestürzt wurde [nickt ein] … Wie war die konkrete Frage nochmal? Wer für dich spendet?
Politisch motivierte oder Leute, die mich gehört haben, weil ich ja Sänger bin. Also Performancekünstler [singt im Cabaret-Stil ein Lied von der Gedankenpolizei – ei ei ei] Wie kam das wohl mit dem Singen …
Da ich oft Schmerzen habe, musste ich halt hyperventilieren, damit ich weniger Schmerzen habe und körpereigene Drogen entfalte, um Paracetamol und Ibuprofen nicht zu brauchen, und deshalb habe ich mir diese verschiedenen Techniken, um mir Rauschzustände anzuschaffen. Das klingt interessant. Was für Techniken sind das?
Man macht das, wie die Leute in den Bergen es gemacht haben, du machst das, indem du tief seufzt, wenn du dich alleine und elend fühlst, dann seufzt du tief und das machst du im Akkord, seufzt, dann sagst du dazu „Holeradijo“, seufzt wieder, und dann sagst du „Holeredidi“, und dann das ganze ganz schnell hintereinander. [Fängt sehr laut an zu jodeln und endet mit einem langen hohen Schrei, der entfernt an eine singende Säge erinnert, spricht dann weiter, als wäre nichts gewesen]. Du musst körpereigene Drogen entfalten, Endorphine freisetzen, Glücksgefühle entwickeln. Du musst die Technik nur eben so anwenden, dass du deine Stimme nicht verbrauchst, weil du sonst völlig depressiv wirst.

Ein Junge kauft ein schwarzes Schlauchtuch mit Fleece-Anteil für 2,50 Euro. Der Fachmann nennt es Schlupfi. Man kann es als Schal verwenden, sich damit aber auch mit nur einem Handgriff vermummen, weswegen es manchmal als Verstoß gegen das Vermummungsgesetz gilt. H.G. selbst trägt es als Stütze für seinen Hals und um sich im Bus vor der einfallenden Sonne zu schützen. Die Kinder haben deswegen manchmal Angst vor ihm. „Kaufst du das extra zum 1. Mai?“ – „Nee“, antwortet der Junge schüchtern, „ich hatte nur keins mehr. Eine letzte Frage: Glaubst du selbst noch an die Revolution und wie würde diese deiner Meinung nach aussehen?
Selbstbestimmt [leben] in Vereinbarung mit anderen, sich immer wieder selbst überprüfen, das ist für mich der Weg zur Revolution. Missstände erkennen und darüber reflektieren, offenherzig seine Empfindungen rauslassen und darüber reden. Liebevoller Umgang miteinander bedeutet, die Empfindung des anderen mitzubekommen und dann darauf einzugehen—und wie ich’s in meinem Lied singe: [singt laut] The Walls have to fall inside us all Israel, Cyprus, Mexico, Korea, Pakistan, Irak, Palestine: PEEEEACE NOOOOW. Wenn du mitkriegst, dass du kaum Gemeinsamkeiten mit einer Person hast, musst du dich nicht auf die Unterschiede konzentrieren, sondern die Gemeinsamkeiten suchen und die auch praktizieren, dann bist du antimilitaristisch, dann bist du nicht kriegerisch, dann bist du gesellschaftsverändernd. Amen. Peace now.

Fotos: Gergana Petrova