Ein Interview mit einem "Schweizer" Escort, das mich zur Weissglut trieb
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Sex

Ein Interview mit einem "Schweizer" Escort, das mich zur Weissglut trieb

"Aber warum reden wir eigentlich immer von Männern, die die Bösewichte sind?"

Vor einigen Tagen habe ich ein Interview mit Bradley Charvet, dem vermutlich baldigen Besitzer des ersten Schweizer Blowjob-Cafés geführt. Nach dem Interview fragte ich ihn, ob ich auch eine seiner zukünftigen Mitarbeiterinnen, die in seinem Café blasend unter der Bar knien sollen, treffen könnte. Er willigte ein und vermittelte mich an Claudia, eine Genfer Escort-Dame, die gemäss Bradley Ende des Jahres im "Café Pipe" anfangen soll.

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Ich verabredete mich mit Claudia in einem Hotel in Genf, wohin sie zu meinem Erstaunen von Bradley begleitet wurde. Claudia ist eine sehr schöne Frau Anfang 30. Sie hat lateinamerikanische Wurzeln und ist während unserem gemeinsamen Kaffee gekleidet wie jemand, den man beim Shopping im Einkaufszentrum antreffen würde.

Sie wartet geduldig an einem Tisch in der Hotelbar auf mich, macht einen selbstbewussten Eindruck und scheint sich angesichts des anstehenden Gesprächs mit mir wohl zu fühlen. Das überrascht mich—die paar Escorts, die ich bisher in meinem Leben getroffen habe, gaben nur ungern Interviews.

Ich frage sie eingangs nach ihren Beweggründen, sich für einen Job im Sexgewerbe zu entscheiden. Sie zählt auf, dass sie gerne reise, neue Leute treffe und dabei neue Erfahrungen sammle. Ihre Hauptmotivation sei aber rein finanzieller Natur.

Daraufhin frage ich sie, weshalb sie sich in Genf niedergelassen hat. Sie klingt nicht nach einer eingeborenen Genferin. Obwohl sie fliessend Französisch spricht, höre ich einen leichten Akzent und die grammatikalische Struktur ihrer Sätze ist etwas gewöhnungsbedürftig. Konfrontiert mit meiner Frage nach ihrer Herkunft, beginnt sie mir zu erzählen, sie sei Französin, hält aber kurz inne, korrigiert sich und fügt hinzu, dass sie auch Schweizerin sei. Also doch eine Doppelbürgerin? Ich werde etwas stutzig.

Illegale Sexarbeiter sind hierzulande nicht unüblich. Manche arbeiten entweder nur eine kurze Zeit in der Schweiz, ein paar Wochen oder Monate, und ziehen dann in ein anderes Land weiter. Oder sie reisen jeweils für ein paar Tage bis maximal zwei Wochen ein und dann wieder aus. Sie nehmen die Strapazen des andauernden Reisens auf sich, weil die Preise für Prostituierte in der Schweiz sehr viel höher liegen als in anderen Ländern.

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Auf meine Frage, warum sie nicht einfach in Frankreich arbeiten würde, erwidert Claudia, dass sie dort bereits einen anderen Job und eine Familie habe. Zudem sei Frankreich nicht so liberal wie die Schweiz. Ich nehme an, dass sie sich auf das Prostitutionsgesetz bezieht. Sie ist sich bewusst, dass Prostitution in Frankreich illegal ist, ergänzt aber: "Frauen haben das Recht, ihren Charme zu verkaufen." Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, was sie damit meint. Vermutlich gibt es in Frankreich wohl so etwas wie eine halblegale Grauzone, in der Escorts trotz dem offiziellen Verbot arbeiten können.

Gespannt wie ein Latex-Bodysuit stelle ich ihr ein paar Fragen zu ihrem Alltag im Genfer Sexgewerbe:

VICE: Kannst du deine Kunden selber aussuchen?
Claudia: Natürlich. Wenn wir ein Treffen für 100 Franken die Stunde buchen, ist das attraktiv für eine bestimmte Art von Kunden. Bei einer 500-Franken-Buchung wird hingegen ein ganz anderer Kundentyp angesprochen. Die Preise entscheiden massgeblich darüber, mit welchen Kunden wir zu tun haben. Deswegen habe ich einfach meinen Preis fixiert. Nur wer sich diesen leisten kann, kann mich buchen.

Ich versuche das in meinen Inseraten unmissverständlich klarzumachen. Wenn jemand verhandeln möchte, sage ich: "Nein, es kostet einfach so viel." Ausser bei Stammkunden, dort kommt es vor, dass ich mit mir reden lasse. Für alle anderen ist der Tarif in Stein gemeisselt. Ich ziehe es vor, ein, zwei Treffen am Tag zu machen und damit hat es sich.

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Ich bin nur zwei oder drei Tage die Woche in der Stadt, höchstens zehn Tage im Monat, aber wenn ich hier bin, muss ich auch genügend verdienen. Und da kann ich es mir nicht leisten, für 70 oder 100 Franken die Stunde zu arbeiten. Zudem ist es einfach nicht dasselbe, ob du in ein Zwei-Sterne-Hotel gehst oder in einen Fünf-Sterne-Palast. Es ist einfach ein anderer Service.

Ich habe übrigens auch Kunden, die nicht unbedingt nach Sex suchen. Es kommt durchaus vor, dass ein Escort einfach für ein Dinner gebucht wird, oder auch nur, um sich zu unterhalten. Ich würde jetzt nicht behaupten, das sei Psychotherapie, aber es geht schon ein wenig in diese Richtung.

Wie stellst du sicher, dass die Hygiene während dem Auftrag gewährleistet ist?
Das ist es eben. In der Erotikbranche gibt's wegen der Hygiene immer Probleme. Aber eigentlich ist alles nicht so problematisch. Denn egal wohin du gehst, ob in eine Wohnung, ein Hotelzimmer oder ein Puff, es müssen lediglich die Normen respektiert werden. Wenn sie nicht eingehalten werden können, bleibt der Ort eben geschlossen. Das wird ja auch ständig kontrolliert, oder nicht?

Ich zum Beispiel arbeite von meiner eigenen Wohnung aus, lasse mich aber mindestens einmal pro Woche auf Geschlechtskrankheiten testen. Stell dir also vor, ich habe ein Treffen und der Kunde kommt zu mir. Das Allererste, was er zu tun hat, ist sich zu duschen. Du kannst auch gerne zu mir kommen und dir die Hygieneprodukte anschauen, die ich im Badezimmer zur Verfügung stelle: Ich habe für Zähne, Mund und Körper alle möglichen Produkte. Ich hab sogar kleine Poster im Bad aufgehängt, die dem Kunden erklären, wie man sich untenrum richtig wäscht. So ist es auch in allen grösseren Einrichtungen, aber ich weiss nicht, ob es in den kleineren auch so ist.

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Spanien – Der Sex-Supermarkt:


Was möchten denn die meisten Männer: Ist diese 'Freundin-Erfahrung' beliebter als blosser Sex?
Es gibt Männer, die sich einsam fühlen und solche, die einfach keine Zeit für eine Freundin oder Frau in ihrem Leben haben, sondern nur Zeit für eine Nacht oder ein Wochenende. Falls sie eine Freundin oder eine Frau zu Hause haben, so hat sie vielleicht aufgrund der Arbeit zu wenig Zeit für sie. Ein Escort hingegen ist immer für ein Wochenende zu haben, um intime Momente oder eine schöne Massage zu erleben oder auch einfach nur um zuzuhören. Sex ist absolut nicht zwingend.

Manche verheiratete Männer wollen beispielsweise keinen Sex mit einer anderen Frau. Aus Respekt gegenüber ihrer Ehefrau. Sie sagen: "Es tut mir leid, es ist nicht, dass ich dich nicht mag, sondern weil ich eine Ehefrau zu Hause habe. Ich würde es bevorzugen, einfach eine Massage mit einem Happy End durch einen Hand- oder Blowjob zu bekommen." Vielleicht ist das auch eine Strategie, um keine Zuneigung für das Escort-Girl zu entwickeln.

Wir Escort-Damen haben kein Recht zu urteilen oder zu hinterfragen, wieso und warum ein Kunde zu uns kommt. Wir sollen uns nicht wundern, warum er nicht einfach zu Hause bei seiner Frau bleibt. Im Gegenteil: Ich denke, dass es an ihnen liegt und ich respektiere das. Vielleicht kommen sie bei mir von einem Streit zu Hause wieder runter. Die Ehefrauen und Freundinnen müssen in solchen Fällen einfach einen kleinen Kompromiss machen.

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Welche Art von Klientel kommt zu dir? Hat sich jemals eine weibliche Kundin bei dir gemeldet?
Natürlich! Wir erhalten auch Anrufe von Frauen. Ich weiss von ein paar Escorts, die diese ablehnen. Aber es gibt durchaus viele junge Frauen, die auch an Escorts interessiert sind. Ich würde sagen, dass vielleicht 80 Prozent der Kundschaft männlich und etwa 20 weiblich sind. Aber das ist, weil Männer eher den Mut zum Anrufen haben.

Aber warum reden wir eigentlich immer von Männern, die die Bösewichte sind?

Bist du eigentlich um deine Sicherheit und dein Wohl besorgt, falls du Mal mit unberechenbaren oder aggressiven Kunden zu tun hast?
Wusstest du, dass Männer mehr Angst vor Frauen haben als Frauen vor Männern? Ich weiss das, weil ich das sehen kann. Ich arbeite jetzt seit einigen Monaten als Escort und wurde noch nie vergewaltigt oder brutal angegangen. Warum denkst du, dass das so ist? Weil ich stärker bin? Ich bin nicht muskulös. Ich befinde mich in geschlossenen Räumen und besuche Hotelzimmer, also wieso wurde ich noch nie vergewaltigt? Weisst du wieso? Weil die Männer auch Angst haben. Sie sind besorgt. Wir werden sehr gut beschützt hier in Genf. Von der Polizei und von der Industrie. Doch ob es nun Schutz durch die Polizei oder durch die Industrie ist: Falls etwas schiefgeht, sind sie innerhalb von fünf Minuten da. Männer haben also zu Recht Angst, irgendwelche Grenzen zu überschreiten.

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Vielleicht ist das Geschäft in gewissen Städten oder Ländern nicht gut genug organisiert, aber in der Schweiz ist es das. Aber warum reden wir eigentlich immer von Männern, die die Bösewichte sind? Wenn Männer zu einer Escort-Dame gehen, wollen sie meistens einfach einen Moment der Entspannung und nicht Probleme anzetteln.

Aber siehst du denn ein, dass es viele Frauen gibt, die in der Industrie zum Opfer wurden —oder es noch immer sind—und dass nicht alle Frauen freiwillig in der Branche arbeiten?
Lass uns nicht über das sprechen. Reden wir über die Frauen, die diesen Beruf freiwillig machen. Lass uns nicht über die reden, die zur Arbeit gezwungen werden. Das sind zwei Paar Schuhe. Ich kenne das Umfeld der Zwangsarbeit nicht, also kann ich auch nicht darüber sprechen, geschweige denn darüber urteilen.

Ich arbeite in dieser Branche unter vielen jungen Frauen und ich habe noch nie gehört: "Ahh, dieser Typ hat mich gepackt, gegen eine Wand gedrückt und mich vergewaltigt." Wenn bei uns ein Kunde ankommt, sprechen wir erst darüber, was wir tun und was wir nicht tun möchten. Und die Leute sind ehrlich, glaub mir. Dann gibt es viele Frauen in der Branche, die zu Unrecht anklagen. Aber auch das ist menschlich. Es sind nicht die Frauen, es sind nicht die Männer, sondern es ist einfach die Menschheit.

Jemand, die oder der sich diese Art von Arbeit aussucht, muss auch die Konsequenzen tragen, die dazugehören. Wir haben im Leben immer die Wahl. Wir können immer einen anderen Weg gehen, wenn wir wollen. In der Schweiz kann man als Putzfrau arbeiten und damit einen anständigen Lohn verdienen. Wir haben uns für diese Arbeit entschieden und wir verdienen gut.

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An diesem Punkt des Interviews kochte ich innerlich. Claudia ist eine erwachsene Frau und ich hatte ihrerseits viel mehr Bewusstsein für die Gefahren in und um die Sexindustrie erwartet. Sie arbeitet ja immerhin dort. Es fällt mir sehr schwer, die Naivität und Ignoranz nachzuvollziehen, mit der Claudia ihre Arbeit und insbesondere das Umfeld, in welchem diese stattfindet, einschätzt. Gerade junge Frauen wie Claudia sind am gefährdetsten in die Zwangsarbeit zu rutschen.

Was die Sexbranche betrifft, ist Unwissen bestimmt kein Segen. Gemäss eines Gutachtens des amerikanischen Staatsdepartements aus dem Jahr 2013, gab es im einheimischen Dienstleistungssektor einige Fälle der Zwangsarbeit; in Genf vor allem in ausländischen Diplomatenhaushalten. Die Schweizer Behörden sehen nach diesem Gutachten vor allem minderjährige, weibliche Asylbewerber als vom Menschenhandel besonders bedroht an.

Aus dem Gespräch mit Claudia konnte ich nur wenig über ihre Zukunft im Café Pipe herausfinden, da sie eigentlich nicht viel mehr bemerkte, als dass sie eine Stelle dort als eine Chance versteht, um neue Erfahrungen zu sammeln.

Deswegen habe ich mich nach dem Interview mit Claudia nochmals mit Bradley über ihre Zukunft unterhalten. Ich fragte ihn, warum eine junge Frau wie Claudia, die momentan bis zu 500 Franken auf die Stunde bekomme, im Blowjob-Café arbeiten wolle, wo sie trotz strengerer Arbeit deutlich weniger verdienen würde. Das mache doch keinen Sinn. Bradleys Antwort darauf kam nur zögernd. Er meinte, dass sie die Stelle aufgrund der neuen Erfahrungen annehme und dass der Job im Café es ihr einfacher machen würde, eine Aufenthaltsbewilligung zu bekommen. Aber Moment mal. Hatte sie mir gegenüber nicht behauptet, dass sie auch Schweizerin sei?

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Titelfoto von Bruno Caimi | Flickr | CC BY 2.0