So ist das Leben nach 46 Jahren in der Todeszelle

FYI.

This story is over 5 years old.

Popkultur

So ist das Leben nach 46 Jahren in der Todeszelle

Iwao Hakamada saß 46 Jahre lang unschuldig in der Todeszelle. Nach Iwaos Freilassung 2014 hat der Regisseur Kim Sungwoong den 78-Jährigen bei der Rückkehr in die Gesellschaft begleitet.

Iwao geht nach 46 Jahren mit seiner Schwester Hideko spazieren | Alle Fotos mit freundlicher Genehmigung von ‚Freedom Moon'

Was würdest du tun, wenn du das letzte halbe Jahrhundert isoliert in einem winzigen Raum verbracht hättest, ohne jemals zu wissen, ob du den nächsten Tag noch erleben würdest? Diese Frage stellt Kim Sungwoong in Freedom Moon, einer neuen Doku über den ehemaligen japanischen Boxer Iwao Hakamada, der 1968 wegen mehrfachen Mordes zum Tode verurteilt wurde. Fast 46 Jahre verbrachte er in der Todeszelle—ein Weltrekord—, bevor er 2014 freigelassen wurde.

Anzeige

1966 brannte es bei einem von Iwaos Chefs. Laut Iwao half er beim Löschen des Feuers, nur um daraufhin den Chef, seine Frau und ihre zwei Kinder erstochen vorzufinden. Zwei Monate später gestand Iwao das Verbrechen und wurde festgenommen, doch zu Prozessbeginn nahm er sein Geständnis sofort zurück und behauptete, er habe nur nach längerer Folter gestanden.

Laut seinen Verteidigern wurde Iwao über 23 Tage hinweg insgesamt für 264 Stunden verhört. Die anderen Beweise für Iwaos Schuld waren dürftig: eine kleine Menge Benzin und Blut wurde angeblich an dem Schlafanzug gefunden, den Iwao in jener Nacht getragen haben soll. Die Beweismittel wurden später als „blutbefleckte Kleidung" bezeichnet, doch die fraglichen Kleidungsstücke hätten Iwao nicht einmal gepasst.

Mehrere Berufungsanträge wurden abgelehnt, doch als Norimichi Kumamoto, einer der Richter, die Iwao ursprünglich verurteilt hatten, sich für ihn aussprach, gewann der Kampf um Iwaos Leben an Schwung und 2014 wurde endlich das Wiederaufnahmeverfahren eingeleitet. Der vorsitzende Richter gestand ein, es sei „inzwischen zu einem beachtlichen Grad belegt", dass Iwao womöglich unschuldig sei, und entließ ihn aus der Haft.

Doch zu diesem Zeitpunkt hatte Iwaos Leben bereits irreparablen Schaden genommen: Mehrere Jahre vor seiner Freilassung hatte man ihm eine sogenannte Haftpsychose diagnostiziert. Diese war vermutlich ein Ergebnis der bei japanischen Todeskandidaten üblichen, unmenschlichen Isolationshaft in einer winzigen Zelle, wobei er keinerlei Informationen zu seinem Hinrichtungsdatum bekam.

Anzeige

Seit seiner Freilassung kümmert sich Iwaos Schwester Hideko, heute 83 Jahre alt, um ihn. Sie hatte seit seiner Festnahme auf seiner Unschuld bestanden. Es ist dieser Abschnitt von Iwaos Leben, den der Regisseur Kim Sungwoong in Freedom Moon dokumentiert hat.

Ein Interview bei Iwao zu Hause

„Hideko sah sich Sayama an [Sungwoongs Vorgängerfilm über einen anderen unschuldig verurteilten Japaner] und erkannte, dass ich mich gerne auf den Alltag der Häftlinge konzentriere", sagte Sungwoong. „Nachdem sie mich kennengelernt hatte, stimmte sie dem Film zu."

Sungwoong verbrachte anderthalb Jahre mit den Geschwistern und verfolgte die Entwicklung, als Hideko den beiden ein gemeinsames Zuhause schuf und Iwao sich wieder der Außenwelt annäherte.

Das Erste, das beim Ansehen des Films auffällt, ist die Schwere von Iwaos Krankheit. Er läuft in Hidekos kleiner Wohnung rastlos im Kreis, wieder und wieder, und bemerkt dabei anscheinend niemanden. Er scheint völlig den Sinn für seine eigene Identität verloren zu haben und bezeichnet sich wiederholt als Gott, als Chef aller Firmen oder als unbesiegten Kaiser.

MOTHERBOARD: Werden korrektive Hirnimplantate eines Tages die Todesstrafe ersetzen?

„Weil der Fall so bekannt war, kam es oft vor—zum Beispiel zu Jahrestagen—, dass die Massenmedien ankamen und jede Menge intimer Fragen stellten", erklärt Sungwoong. Diese Szenen waren tatsächlich auch die vielleicht unangenehmsten des gesamten Films: unzählige Journalisten und Kameras, die sich mit Iwao in die winzige Wohnung quetschen. Natürlich wird er dabei nach „dem Vorfall"—dem Mord, dessen er zu Unrecht beschuldigt wurde—gefragt. Iwao streitet bei jeder dieser Fragen vollkommen ab, dass so ein Vorfall überhaupt stattgefunden habe.

Anzeige

Sungwoong entschloss sich zu einem anderen Ansatz, als er in den japanischen Medien üblich ist. „Während der ersten sechs Monate der Drehzeit haben wir die Kamera nie direkt auf ihn gerichtet und ihm keine Fragen über den Vorfall gestellt. Das hätte sich einfach nicht richtig angefühlt", sagt er. „Und wenn ich gefragt hätte, dann hätte er wieder gesagt ‚Es ist nichts passiert' und sich in seine eigene Welt zurückgezogen.

Im Laufe der Zeit entwickelt sich allerdings vor unseren Augen eine Vertrautheit zwischen den beiden Männern, vor allem durch ihr ständiges Schachspiel.

Kim Sungwoong, der Regisseur des Films, sitzt mit Iwao und Hideko auf einer Bank

Um einen eindrucksvollen Film noch eindrucksvoller zu machen, zeigt Sungwoong immer wieder Briefe, die Iwao vor seiner psychischen Krankheit Hideko schrieb. Die Briefe sind Erinnerungen an eine Zeit, als Iwao sich noch klarer über seinen eigenen Schmerz und das ihm zugefügte Unrecht war. Er schrieb von seiner Unschuld, seinen Erfahrungen im Gefängnis und dem Gefühl der Freiheit, das er bekam, wenn er von seiner Zelle aus zum Mond aufsah.

Die schädlichen Auswirkungen der Haft auf Iwao sind mehr als deutlich, und das macht Hidekos unerschütterlichen Optimismus nur noch beeindruckender. Sie spricht sachlich über Iwaos Krankheit und erzählt geduldig und humorvoll vom Kampf um ihren Bruder. Dabei lächelt sie fast immer, selbst als Iwao einmal kurz verschwunden war (er war einkaufen). Sie wirkt nie verbittert darüber, was die japanische Justiz ihrer Familie angetan hat, sondern einfach nur froh, dass ihr Bruder frei ist. Das war es, was Sungwong mehr als alles andere zeigen wollte.

Anzeige

„In dem Film geht es eigentlich um Hidekos Stärke, die Macht der Familie und die Widerstandsfähigkeit des menschlichen Geistes", sagt Sungwoong und erklärt, er habe darin den einzigen Weg gesehen, die Geschichte einem japanischen Publikum näherzubringen. „Die japanische Gesellschaft hat sehr großes Vertrauen in die Polizei, die Gerichte und die Justiz—sie sind unfehlbar. Doch natürlich sind sie das nicht wirklich, und das will der Film auch vermitteln. Doch die Leute hier sprechen kaum über Menschenrechte, also funktioniert es nicht, wenn man die Botschaft zu direkt vermittelt. Um einen Vergleich aus dem Boxen zu verwenden: Dieser Film ist ein Körperschlag. Erst spürst du nicht sonderlich viel, aber später merkst du, welche Auswirkung er auf dich hatte."

Das Ergebnis ist ein Film, der trotz seines herzzerreißenden Themas leicht verdaulich ist und der die Zuschauer vielleicht mit einigen Lachern überraschen wird.

Möglicherweise liegt es an der klischeehaften Sicht auf Japan als ein seltsames und niedliches Land voller Grüntee-KitKats und Hightech-Bidets, dass viele Menschen vergessen, dass in Nippon weiterhin Todesurteile verhängt werden. Die meisten Exekutionen nehmen in Japan die Form des Erhängens; so gut wie kein Urteil wird erfolgreich angefochten.

Neben den USA ist Japan der einzige entwickelte Industriestaat, in dem es die Todesstrafe gibt, doch japanische Hinrichtungen finden in den internationalen Medien weitaus weniger Beachtung. Hoffentlich kann ein so ehrlicher und zugänglicher Film wie Freedom Moon anfangen, Aufmerksamkeit auf die Missstände der japanischen Justiz zu lenken.

Freedom Moon ist zur Zeit in diversen Kinos in Japan zu sehen. Informationen zu internationalen Vorführungen gibt es auf der offiziellen Website.

Übersetzung des Interviews mit Kim Sungwoong von Christopher Bondy