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Das Schweizer „Asylchaos“ outet sich als Flüchtlingsproblemchen

Den ganzen Sommer über redete die ganze Schweiz von einer Flüchtlingskrise. Warum eigentlich?
Foto: Michael Zanghellini

Mit Zahlen ist das immer so eine Sache. Fast keiner mag sie wirklich, doch haben wir ständig mit ihnen zu tun. Sie quälen uns auf Steuererklärungen, Handy-Rechnungen und in verschwommenen Erinnerungen an den Mathe-Unterricht. Zahlen bedeuten selten etwas Gutes. Und doch steckt in ihnen manchmal auch etwas Positives—denn: Zahlen können zwar unterschiedlich interpretiert werden, aber sie lügen nie. So auch die neuste Asylstatistik der Schweiz, laut der im August nur ganze drei (in Zahlen: 3) Asylgesuche mehr gestellt wurden als im Juli.

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Gestern habe ich in einem TED-Talk von einem klugen Mann gelernt, dass wir die Welt fast immer um einiges schlimmer einschätzen, als sie wirklich ist. Wir glauben etwa, dass immer mehr Menschen wegen Naturkatastrophen sterben—obwohl im Verlauf der letzten hundert Jahre fünf Mal weniger Menschen ihr Leben an Erdbeben, Überschwemmungen oder andere Launen der Natur verloren haben. Der Herr Professor nennt diese verzerrte Wahrnehmung der Realität—mit einer Prise akademischer Überheblichkeitet—„Ignoranz".

Screenshot von ted.com

Die meisten von uns sind also ignorant gegenüber der Realität. Wir belügen uns selbst, indem wir Fakten interpretieren—jemand, der etwa aus einer armen Gegend kommt, sieht Dinge anders als jemand aus einer reichen Gegend, jemand aus einer Stadt anders als jemand vom Land. Zudem wissen wir nicht immer über die aktuellsten Fakten Bescheid, formen unsere Interpretationen also teils auf veralteten Grundlagen. Und wir machen unser Bild der Realität anhand von Medienberichten, die ebenfalls bestimmten Denkmustern folgen, Fakten auswählen, interpretieren und in Zusammenhänge setzen.

Vor ein paar Tagen veröffentlichten Zürcher Akademikerkollegen des TED-Mannes eine Studie, die in diesem Zusammenhang ganz spannend ist. Die Uni-Menschen fanden raus, dass bisher fast jeder dritte Bericht zum diesjährigen Wahlkampf der SVP gewidmet war. Zwar wird sie von allen Parteien am meisten in einen negativen Kontext gesetzt—aber: Sie denkt am ehesten wie die Medien, liefert Sensationen und schafft es so in die Headlines. Und wir alle (und 61.700 Google-Suchergebnisse) wissen schliesslich: There is no such thing as bad publicity.

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In den Medien war die SVP bis jetzt vor allem mit einem Thema präsent: Asyl. Zuerst forderte ihr Präsident Toni Brunner dazu auf, aktiv gegen neue Asylzentren Widerstand zu leisten. Danach wollte sie sich mit Rückflugtickets für die „Scheinasylanten" aus Eritrea ein paar Prozentpunkte mehr bei der Wahl am 18. Oktober sichern. Und derzeit wünscht sie sich, dass die Armee die Grenzen der Schweiz schliesst und überhaupt keine Flüchtlinge mehr rein lässt. Heute forderte das einer ihrer Nationalräte im Blick, morgen wird der ganze Nationalrat darüber diskutieren. Die SVP stilisiert die Flüchtlingsströme in die Schweiz also zum „Asylchaos".

Im Verlauf des Sommers wurde der Ton dabei immer schärfer. Christoph Mörgeli musste gar für einen Tag sein Facebook-Profil opfern. Aber auch der Hass gegenüber Flüchtlingen in den Kommentarspalten auf Facebook und den News-Portalen schien beinahe zu explodieren (hier haben wir euch gezeigt, wie ihr dagegen vorgehen könnt). Was nun zuerst da war—Hass-Postings oder SVP-Hetze—ist wiederum eine Sache der Interpretation. Fakt ist: Beide waren da, hetzten fleissig und haben es im Zusammenspiel geschafft, das Thema Asyl tagtäglich in die Headlines und damit in die Köpfe der Menschen zu hieven.

Geändert hat sich das erst, als 71 Flüchtlinge qualvoll in einem Schlepper-Laster in Österreich erstickten. Nun standen nicht mehr die SVP-Forderungen oder die Hass-Postings in den Medien, sondern die Fragen: Wie kann so etwas passieren? Und wie können wir helfen? Doch egal, ob negativ oder positiv gedeutet: Noch immer war das „Asylchaos" oder die Flüchtlingskrise im Fokus der Öffentlichkeit. Und wurde von Pro-Flüchtlings-Aktivisten auch in die Offline-Welt getragen. Mehrere Tausend Menschen gingen zum Beispiel in Zürich auf die Strasse, um mit „Refugees Welcome"-Bannern ein Pro-Flüchtlings-Statement zu setzen.

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Auch ich habe das Spiel mitgespielt und mich klar gegen die selbsternannten Asylkritiker positioniert. Weil ich diesen nicht die öffentliche Stimme und dadurch die Deutungsmacht über die Flüchtlinge überlassen wollte. Emotionalen Nicht-Argumenten wollte ich Fakten entgegenstellen.

Gestern blinkte in meinem E-Mail-Postfach wieder einmal eine solche Fakten-Nachricht auf, die sagt: Alles halb so wild mit den Flüchtlingen—die Asylstatistik vom August. In dieser steht, dass es im zweitbesten Sommermonat ganze drei Asylgesuche mehr gab als im Juli—das sind insgesamt 3.899. Etwa Tausend Menschen bekamen Asyl oder eine vorläufige Aufenthaltsbewilligung (was das heisst, haben wir in unserem Klugscheisser-Guide zusammengefasst). Weitere 650 Asylsuchende mussten die Schweiz schnellstmöglich wieder verlassen. Die wichtigste Info in Zeiten des „Asylchaos" handelte der Bund aber in nur einem Satz ab:

„Im Vergleich zu Gesamteuropa verläuft der Anstieg der Asylgesuchszahlen in der Schweiz deshalb weiterhin moderat."

Kein Wort von den heiss erwarteten Flüchtlingsströmen aus Ungarn. Kein Wort von einem „Asylchaos". Kein Wort von überforderten Gemeinden und Kantonen. Nur Zahlen, die besagen, dass in den 90er-Jahren ohne grössere Probleme viel mehr Flüchtlinge in der Schweiz unterkamen. Und dass die Schweiz nicht wie Ungarn, Österreich oder Deutschland mit grösseren Flüchtlingsströmen aus Syrien rechnen muss. Oder im Grossen zusammengefasst: Dass wir nicht verzweifeln sollen—denn Zahlen lügen nicht.

Deine Zahlen nimmt Sebastian gerne via Twitter entgegen: @nitesabes

VICE Schweiz auf Twitter: @ViceSwitzerland