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Refugees im Orbit

Der Flüchtlingsprotest: Die Vorgeschichte und die Forderungen

Diesmal geht es in unserer Sonderreihe zum Flüchtlingsprotest um ein besseres Verständnis der Vorgeschichte und Forderungen.

Foto: Michael Hierner

Wir bringen euch dieser Tage unseren großen Sonderbericht über das Refugee Protest Camp Vienna, bei dem Flüchtlinge seit 24. November gegen Missstände im österreichischen Asylsystem protestieren: „Refugees im Orbit“ ist die Geschichte dieser Hilfesuchenden, die in ihrer Votivkirchen-Kapsel um den Planeten Wien kreisen und im (politischen und menschlichen) Vakuum langsam vor die Hunde gehen.

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Seit dem Start dieser Serie vor zwei Tagen hat sich bei uns einiges getan. Zum einen habe ich viel Zuspruch von Leuten erhalten, die mir bestätigten, dass ich mit meiner Einschätzung, die Medien hätten bisher nur ziemlich punktuell über den Protest berichtet, ohne die Punkte zu einem Gesamtbild zu verbinden, nicht ganz alleine bin. Zum anderen habe ich auch gelernt, was die Forumsbetreuer von DerStandard.at längst wissen — nämlich, dass man mit einem Thema, wo es um Asyl und Ausländer geht, immer auch die Art von Menschen auf den Plan ruft, deren Ereignishorizont nur bis zum nächsten Würstelstand reicht. Unter dem gestrigen Teil meines Berichts steht in diesem Sinne folgendes Stammtischphilosophie-Postulat zu lesen: "wem es hier nicht passt wo er alles hinten reingeschoben bekommt kann ja österreich verlassen, besser wäre gar nicht erst herkommen." Aus Gründen, die auf der (zum Gruß gestreckten) Hand liegen, habe ich Interpunktion sowie Groß- und Kleinschreibung nicht überarbeitet. Stattdessen werfe ich ein bisschen Wissen hinterher und hoffe, dass irgendwas davon hängenbleibt. Schließlich sind es genau solche informationsbefreiten Schnellschüsse, wegen denen diese Artikelserie vielleicht nicht ganz umsonst ist. Fangen wir also mit der Vorgeschichte des Protestcamps an.

DIE VORGESCHICHTE

Eine Studentin der Universität Wien, die früh in die Entwicklung des Protestcamps involviert war, erzählt: „Ich bin sonst eigentlich nicht bei jeder Demonstration und jeder Veranstaltung dabei. Aber als ich durch einen Studienkollegen von der Sache erfahren habe und hörte, dass für die Organisation noch Unterstützer gesucht werden, habe ich mich eingelesen und für ihre Anliegen engagiert.“ Von 20. November bis 24. November – dem Tag des Marsches nach Wien – nahm sie an jeder Versammlung teil. „Das Plenum war von Anfang an groß. Rund 40 Personen waren von der ersten Stunde an dabei, darunter auch Vertreter der Somalier in Österreich und Muhammed Numan.“ Letzteren sieht die Studentin als „eine der zentralen Figuren“ in der Organisation der Proteste. Der 25-jährige Pakistani wird später neben Adalat Khan als „Sprachrohr“ des Protests bezeichnet. In den Plenen zeigte sich schnell, dass die beteiligten Flüchtlinge eine starke Stimme hatten: „Unterstützer machten sie darauf aufmerksam, was sie durch ihren Protest alles aufs Spiel setzten. Das wurde nicht besonders gut aufgenommen. Die Refugees sagten darauf: ‚Du kannst dir unsere  Lage nicht vorstellen. Wir können fast nichts mehr verlieren.‘“

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Auch die Ungewissheit über ihren Verbleib, ihre Unterbringung und ihre Zukunft führte zu Streit. „Sie waren bei allen Plenen starke Diskussions- und Verhandlungspartner, die sich von niemandem Worte in den Mund legen lassen. Eher im Gegenteil: Ich dachte manchmal ‚Du könntest ruhig danke sagen.’ Aber es war schon verständlich. Da es von Anfang an Meinungsverschiedenheiten unter allen Beteiligten gab, dauerten die Plenen oft bis spät in die Nacht. Man konnte richtig den Druck spüren, unter dem alle standen.“ Eine gemeinsame Protestaktion — vor allem in diesem Ausmaß — schien lange unrealistisch.

DIE FORDERUNGEN

Das Camp im Sigmund-Freud-Park am 21. Dezember 2012.

Das Camp entstand trotzdem. Und mit ihm hatten plötzlich auch die Anliegen der Flüchtlinge einen Platz im öffentlichen Raum gefunden. Durch die geografische Verlagerung des Problems rückte die Thematik aus dem toten Winkel der Gesellschaft direkt in den tagespolitischen Fokus der Nation. Kurz darauf folgte eine Website auf der (selbsternannt) „radikalen Aktivisten-Plattform“ Noblogs.org und damit auch ein Name für die Bewegung: Refugee Protest Camp Vienna. Als Kollektiv formulierten die Protestierenden auch sechs zentrale Forderungen: 1. Grundversorgung für alle Asylwerber, 2. freie Wahl des Aufenthaltsortes sowie Zugang zum öffentlichen Wohnbau, 3. Zugang zu Arbeitsmarkt, Bildungsinstitutionen und Sozialversicherung, 4. Stopp aller Abschiebungen im Zusammenhang mit der Dublin II-Verordnung, 5. Einrichtung einer unabhängigen Instanz zur inhaltlichen Überprüfung aller negativ beschiedenen Asylverfahren und 6. Anerkennung von sozioökonomischen Fluchtmotiven neben den bisher anerkannten Fluchtgründen.

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Das klingt vor allem für all jene schwierig, die von den Anliegen nicht betroffen sind. Begriffe wie Grundversorgung für alle und freier Zugang zu Einrichtungen, die in der Wahrnehmung einiger den Staatsbürgern vorbehalten sein sollten, spielen rechten Ressentiments in die Hände. Ewiggestrige, aber ewigwährende Befürchtungen von einer „Flüchtlingsschwemme“ im Asyltraumland Österreich klingen an. Auf Seite 2 findet ihr alles dazu — inklusive der Erläuterung, was es mit Dublin II und der Beschleunigung von Asylverfahren durch Ausschaltung des Verwaltungsgerichtshofs auf sich hat.

Nachtbild des Lagers, das am 28. Dezember 2012 von der Wiener Polizei abgerissen wurde.

DIE VERHINDERUNG, ODER: DUBLIN II

Ein zentraler Streitpunkt, auf den man in diesem Zusammenhang immer wieder stößt, ist die sogenannte Dublin II-Verordnung. Diese legt fest, dass Flüchtlinge nach ihrer Ankunft in Europa nur im Erstland einen Asylantrag stellen dürfen. Um dies sicherzustellen, werden von allen Asylwerbern Fingerabdrücke gespeichert. Das Problem, das Kritiker der Verordnung sehen, sind die Asylsysteme der östlich gelegenen EU-Länder. „Das Asylsystem wird gegen Osten hin immer schlechter“, erklärt mir Juristin Anna. „Das liegt daran, dass es hier lange Zeit keinen Zustrom gab, weil die Menschen ja in die EU wollten.“ Mit der Verschiebung der EU-Grenzen im Jahr 2004  wurden Länder wie Ungarn und die Slowakei praktisch über Nacht zu Flüchtlingsdestinationen. Asyl in Not-Obmann Michael Genner führt die Problemlage noch näher aus: „Eine konkrete Auswirkung zeigt sich beider Lage von tschetschenischen Flüchtlingen. Für diese gab es in Österreich fast 100 % positive Bescheide, weil man einen ausreichenden Verfolgungsgrund sah. Seit 2004 müssen viele in der Slowakei ihren Antrag stellen. Uns wurde damals stolz die tschetschenische Asylwerberin vorgestellt, die einen positiven Bescheid erhalten hat — die einzige im ganzen Land.“ Ohne eine Löschung der Fingerabdrücke oder einer Abschaffung von Dublin II sind Asylwerbende der Willkür unausgereifter Systeme ausgesetzt und werden im Falle einer Flucht weiter nach Österreich automatisch illegalisiert. „Die Dublin II-Verordnung ist das zentrale Element der Flüchtlingsbehinderung. Sie setzt faktisch die Genfer Flüchtlingskonvention außer Kraft,“ sagt Genner.

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Die nächsten Schritte sind laut dem Verein SOS Mitmensch in der Praxis oft ähnlich schwierig: „Nach der Dublin II-Prüfung dauert es oft ein Jahr, bis man überhaupt ein Asylinterview bekommt. Danach dauert es nochmal mindestends zwei Jahre, bis eine Entscheidung kommt — und die endet für viele mit einer Ablehnung.“ Auch Bürgermeister Häupl spricht sich seit den Protesten für eine Verkürzung der Asylverfahren aus. Das Innenministerium sieht hingegen kein systemisches Problem bei der Bewältigung von Asylanträgen, wie Ministeriumssprecher Karl-Heinz Grundböck im Gespräch erklärt: „60 % werden in den ersten 6 Monaten entschieden, 80 % sogar in den ersten 3 Monaten. Das ist ein deutliches Zeichen für die Effizienz des Systems.“ Es gebe zwar einen sogenannten „Verfahrensrucksack“ — einen Rückstau, der aktuell abgearbeitet wird —, aber keine Probleme bei Neunträgen.

VERFAHRENSBESCHLEUNIGUNG OHNE VERWALTUNGSGERICHT

Tatsächlich gab es 2011 einen Schritt in Richtung Verfahrensbeschleunigung. Bis dahin standen Flüchtlingen im Falle einer Antragsablehnung zwei Anlaufstellen zur Verfügung: der Verwaltungs- und der Verfassungsgerichtshof, wobei zweiter nur in Frage kommt, wenn besonders gravierende Verfahrensfehler nachgewiesen — und die nötigen finanziellen Mittel aufgebracht werden können. Seit 2011 ist der Verwaltungsgerichtshof bei Asylverfahren nicht mehr zuständig und als Rechtsweg unzulässig. „Bei Beschwerden im Verfassungsgerichtshof werden aktuell 7 % der Urteile revidiert — beim Verwaltungsgerichtshof waren es noch 20 %“, heißt es von Asyl in Not. „Verfahren gehen heute wirklich geschwinder. Aber dafür gehen sie auch geschwinder schief. Wer ein Organmandat wegen zu schnellem Fahren bekommt, kann beim Verwaltungsgerichtshof Beschwerde einreichen. Wenn es darum geht, ob man des Landes verwiesen wird, nicht.“ Bisher wurde keine Ersatzinstanz geschaffen.

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Ist der Negativbescheid einmal endgültig, lebt man deshalb nicht gleich in Gewissheit. „Manchmal passieren Abschiebungen sofort. Manchmal erst Jahre später. Manchmal gibt es eine Vorwarnung per Post. Manchmal bleibt bis zum letzten Moment alles ungewiss. Die Menschen leben in permanenter Unsicherheit“, erzählt Anna aus ihrer Erfahrung.

Von politischer Seite sieht man keine Notwendigkeit einer Prüfung des Systems. „Diejenigen, die Schutz benötigen, erhalten diesen“, sagt Ministeriumssprecher Grundböck. „Dem Innenministerium geht es darum, Einzelschicksale möglichst sachorientiert zu prüfen und konkrete Maßnahmen zu setzen.“ Die Fixierung auf Einzelfälle und der Unwille zu einer Reform des Systems zeigen sich ganz konkret auch in der Reaktion auf die Proteste in der Votivkirche. Ministerin Mikl-Leitner und Bürgermeister Häupl betonen, dass allen Protestierenden neue Unterkünfte angeboten wurden. Muhammad Numan erwidert: „Wir sind nicht gekommen, um warme Betten zu bekommen.“ Aber inzwischen gibt es längst Zwischenrufe, die jedes Wort aus der Kirche in Misskredit bringen und von einer Instrumentalisierung der Flüchtlinge durch „linke Aktivisten“ reden. Man sieht die Ordnung von Berufsdemonstranten bedroht — und hat damit auch einen geschickten Weg gefunden, den Protest abzuwerten, ohne die Asylwerber direkt anzugreifen.

MORGEN: DIE AKTIVISTEN, DAS SIND DIE ANDEREN

Markus Lust auf Twitter: @wurstzombie

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BISHER BEI REFUGEES IM ORBIT:

1: Die kleine Geschichte vom großen Aufstand

Start der Sonderreihe über das Refugee Protest Camp Vienna, wo seit 24. November Asylsuchende gegen Missstände im österreichischen Asylsystem demosntrieren.

2: Das Protestcamp als Bestandsprobe für die Medien

Teil 2 der Sonderreihe über das Votivkirchen-Protestlager widmet sich der Frage, was die Krise der Flüchtlinge vielleicht auch über die Medien aussagt.