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Occupy Turkey

Der Istanbulaufstand erstickt in Gas und Molotow-Cocktails

Die Stimmung in Istanbul hat sich schlagartig verändert und es fühlt sich an wie Krieg. Ich sprintete kreuz und quer über den Platz, um aus der Schusslinie zu kommen und den Gaswolken auszuweichen.

Dienstagmorgen gegen halb sieben ist genau das passiert, an das ich eigentlich schon nicht mehr geglaubt hatte: Die Polizei ist auf dem Taksim-Platz einmarschiert, und kurz danach verwandelte sich der Platz erneut in ein gasvernebeltes Schlachtfeld.

Wie genau es dazu kam, kann ich nicht mit Sicherheit sagen, weil ich mich ungefähr eine halbe Stunde davor ins Bett gelegt hatte. Ich kam also erst um elf auf dem Taksim an und musste versuchen, mir das Geschehene aus den Erzählungen der völlig aufgelösten Demonstranten zu rekonstruieren: Die Polizei war aus zwei Richtungen gekommen, von Tarlabaşı und die heftig barrikadierte Inönü Caddesi hoch. So beeindruckend die Barrikaden waren, sie scheinen im Ernstfall dann doch nutzlos gewesen zu sein.

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Die Hundertschaften der Polizei bauten sich vor dem Atatürk-Kulturzentrum auf und verkündeten, sie seien nur da, um die Flaggen abzunehmen. Man wolle niemanden angreifen, wenn man selber nicht angegriffen würde. Dann haben ein paar Idioten sie trotzdem mit Steinen beworfen, und die Polizei erwiderte das Feuer aus allen Rohren. Diese Version der Geschichte bekam ich von Gaye und Beste, zwei Mädchen, die schon seit Anfang der Demonstration im Gezi-Park dabei sind und am Morgen aus ihrem Zelt direkt auf den Platz gerannt waren. Die meisten anderen Befragten wollten mir das nicht bestätigen und meinten, die Polizei habe direkt angegriffen, aber ich vertraue den Mädchen, weil sie überhaupt keinen Grund haben, die Polizei in Schutz zu nehmen, und weil es zu dem passt, was ich danach gesehen habe.

Was auf der anderen Seite in Richtung Tarlabaşı passiert ist, ist allerdings deutlich suspekter, und hier waren sich alle Erzähler einig: Die Polizei zog auch hier ungehindert auf, als eine Gruppe Männer plötzlich Molotow-Cocktails auf die Wasserwerfer warf. Molotow-Cocktails waren hier bis jetzt nie im Spiel, und es deutet einiges darauf hin, dass die „Provokateur“-Paranoia der Demonstranten diesmal angebracht ist: Die Männer trugen ziemlich saubere Klamotten, Walkie-Talkies, vielleicht sogar Pistolen, und Banner der SDP-Partei, die bereits jedwede Verbindung dementiert hat. Wer wirklich dahintersteckt, wird man wahrscheinlich nie klären können.

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Als ich auf dem Platz ankam, war die erste Schlacht dann aber schon geschlagen, auch wenn das Gas noch in der Luft hing. Überall standen Hunderte Polizisten in Bereitschaft oder lümmelten auf dem Boden herum und wurden von Journalisten in Gasmasken gefilmt oder fotografiert. Dazwischen liefen verstörte Demonstranten herum, hauptsächlich solche mit Parteibannern. Ein Bagger räumte die Barrikade auf der Sıraselviler ab.

Ich lief herum und versuchte, die Ereignisse des Morgens zusammenzusetzen, als plötzlich wieder Bewegung in die Sache kam. Eine Gruppe Demonstranten stellte sich vor zwei vor dem Marmara-Hotel geparkte TOMAs (Wasserwerfer), um sie am Losfahren zu hindern. Hinter den TOMAs formierten sich die Polizisten und zogen ihre Gasmasken auf. Die Fahrzeuge setzten sich schrittweise in Bewegung und schoben das Grüppchen Demonstranten vor sich her.

Die wurden darüber immer wütender und fingen an, gegen das Führerhäuschen zu schlagen. Dahinter fuhr ein Wagen der Polizei mit Lautsprecher auf dem Dach, der die Leute in einem Fort zur Ruhe aufrief. Und dann klatschte der erste Stein vor meine Füße, von der anderen Seite geworfen. Die Polizisten zehn Meter vor mir machten sich fertig. Ein paar Sekunden lang dachte ich, es könnte trotzdem noch gut gehen. Um mich herum liefen überall Leute, die „Nicht schießen!“ und „Keine Steine!“ riefen oder den Polizisten verzweifelt Peace-Zeichen entgegenstreckten.

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Die Pazifisten hatten aber keine Chance. Kurz nach dem ersten Stein schepperten immer mehr Projektile gegen das Panzerfahrzeug, und dann brach die Hölle los. Der Wasserwerfer schoss seinen Strahl auf uns, es hagelte Steine und Wasserflaschen um mich herum, und dann jaulten die ersten Gasgranaten über den Platz.

Von da an war Krieg. Ich sprintete kreuz und quer über den Platz, um aus der Schusslinie der Granaten und Steine zu kommen und den Gaswolken auszuweichen. Ich hätte sehr, sehr gerne einen Helm gehabt. Um mich herum rannten Jungs, die Steine aus dem Boden schlugen, die sie mit den Händen oder Steinschleudern auf die Polizisten warfen.

Von den Besonnenen war keiner mehr zu sehen. Um mich herum waren vor allem ziemlich viele Jungs im Teenage-Alter, denen das Ganze teilweise einen Riesenspaß zu machen schien. Aber auch Demonstranten mit Flaggen waren dabei, und einige Mädchen. Die meisten Demonstranten hatten sich aber auf die Treppe zum Park zurückgezogen, um die Polizei auszubuhen und „Widerstand“ zu schreien.

Das Unheimlichste war, dass in unserem Rücken immer noch mehrere hundert Polizisten bereitstanden, die sich im Moment aber noch ruhig hielten. Mitten in dem Terror fing plötzlich der Muezzin an zu singen, was dem Ganzen einen irgendwie epischen Anstrich gab, aber dann musste ich mich auch schon wieder ducken. Die Polizei hatte mittlerweile angefangen, irgendwelche Knallgranaten auf dem Platz herumzuwerfen, die mit ohrenbetäubendem Knall explodierten. Dazu kam das leise Knattern der Gummigeschosse, die die Polizei jetzt ziemlich freizügig durch die Gegend schoss.

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Ziemlich bald kam dann das Heulen der Ambulanzen dazu, und die ersten Verletzten wurden über den Platz getragen. Ein Mann, den eine Granate voll im Rücken erwischt hatte, riss sich das Hemd runter und rannte brüllend vor Wut auf die ruhigen Polizisten in der anderen Ecke zu, wo er schnell von einer Traube Fotografen verschluckt wurde. Das Skurrilste war, dass mindestens die Hälfte der Leute auf dem Platz gar nichts anderes machten, als mit ihren Handys zu filmen oder Fotos zu schießen.

Irgendwann wurde das Gas auf dem Platz zuviel, und ich rannte auch zur Treppe. Dummerweise setzte sich jetzt der andere Polizeitrupp in Bewegung und begann, den Eingang zum Park unter Feuer zu nehmen. Mir zischte eine Granate einen halben Meter am Kopf vorbei. Die Leute warfen die Dinger so gut es ging zurück oder versuchten sie in Eimern zu löschen. Trotzdem hatten sie keine Wahl, als sich in den Park zurückzuziehen.

Die Polizei rückte nach, hielt aber kurz hinter dem Eingang inne. Hier spielte sich noch einmal eine Szene ab, die mich an die unschuldigeren ersten Tag erinnerte: Nachdem sich das Gas etwas verzogen hatte, sammelten sich die Demonstranten, stimmten „Polizei raus“ an und marschierten auf sie zu. Neben mir schaffte es ein Mädchen, einen ungefähr Dreizehnjährigen davon abzuhalten, seinen Stein zu schmeißen, obwohl er mir beleidigt zurief, ein Gummigeschoss hätte ihn direkt auf der Taucherbrille erwischt. Tatsächlich wurde die Lage ruhiger, und die Polizisten wichen Schritt für Schritt vor der Menge zurück.

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Die Polizei zog sich tatsächlich von der Treppe zurück, begleitet vom Klatschen der Menge. Ich fragte einen Jungen neben mir, ob er von der Situation geschockt sei. „Geschockt? Nein, wir kennen das ja schon seit 10 Tagen. Schon seit 27 Jahren kenne ich das!“ Ein Trupp Polizisten hatte sich schon vorher um die Statue etwas weiter rechts geschart, von wo aus sie weiter die Baustelle neben dem Park unter Beschuss nahmen. Dort war ein LKW angezündet worden, und hier konzentrierten sich jetzt auch die „Jungs“, zusammen mit ein paar aggressiveren Demonstranten, die sich hinter einer Metallplatte vor dem Wasserwerfer und den Granaten schützten.

Die Bagger hatten vor zwei Wochen angefangen, den Park abzutragen, bevor sie von den Demonstranten gestoppt wurden. Das heißt, an der Ostseite endet er jetzt in einer steilen, ungefähr fünf Meter hohen Klippe, von der man die gesamte Baustelle darunter gut einsehen kann. Die Demonstranten standen also vor allem oben auf der Klippe und feuerten die unten Kämpfenden an. Ich stand dabei und machte gerade Fotos von einem Helden mit Regenbogenflagge, der immer wieder in den Wasserstrahl rannte. Plötzlich warf jemand einen Stein auf einen unter uns kauernden Pressefotografen, die Menge jubelte „Die Medien haben sich verkauft“, und dann flogen immer mehr Steine auf die Fotografen, die in Panik die Flucht ergriffen.

Zwischendurch schoss die Polizei immer wieder ein paar Granaten auf die Zuschauer, so dass man oft in den Park zurückweichen musste. Hier fragte ich zwei Jungs mit Bauhelmen, ob sie das in Ordnung fänden. „Die Medien haben uns verraten, sie haben erst nichts über uns berichtet, und jetzt stellen sie uns als Terroristen dar“, meinte Anıl. „Die zeigen immer nur, wie wir uns wehren, aber nie, wie die Polizei selber Steine auf uns wirft, und die Journalisten auch!“ Die Journalisten werfen Steine auf euch? „Ja, Journalisten und Zivilbullen, aber das zeigen die nie! Wir können nicht cool bleiben, wir sind wütend und fertig.“

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Ich wurde langsam etwas verzweifelt, weil hier oben fast alle das Steinewerfen eine geniale Idee zu finden schienen. „Wir müssen den Park verteidigen.“ „Wir müssen die Polizisten draußen halten.“ Dauernd wurde mir so was gesagt. Es war zwar nur eine Handvoll Leute, die wirklich gegen die Polizei anrannte, aber die Zuschauer aus dem Park klatschten bei jedem Streich. Ich weiß nicht, ob ich vielleicht einfach zu feige für so einen tollen Kampf mit der Polizei bin, aber mir kam das alles vollkommen sinnlos vor.

Die Bewegung hatte sich in den letzten Tagen immer friedlicher entwickelt, gestern wurden sogar die Bierverkäufer vom Platz geschickt, um Provokationen und sinnloses Besäufnis zu vermeiden (von den Çarşı-Fußballfans, interessanterweise). Und heute hatte es auf mich wirklich so gewirkt, als wolle die Polizei nur die Kontrolle auf dem Taksim zurückgewinnen. Ich weiß nicht, ob sie sowieso geschossen hätten, wenn keine Steine geschmissen worden wären, die Molotow-Cocktail-Geschichte (wenn sie denn wahr ist) lässt schon ein gehöriges Maß Gemeinheit vermuten. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass diese völlig ungleiche und brutale Konfrontation der Sache irgendwie hilft, eher im Gegenteil. Es sei denn, mehr Tote und Verletzte gelten irgendwie als förderlich.

Also lief ich im Park herum, um die Leute von „Taksim Dayanmaşası“, der Hauptorganisation der ursprünglichen Demo, zu finden, weil ich wissen wollte, ob die irgendeinen Deeskalationsplan haben. Die Leute in den Leibchen waren nirgends zu sehen, und am Stand erklärte mir nur ein verständnisloser Aktivist, dass man den Park eben verteidigen müsse. Die Steineschmeißer seien Leute von außen, da könne man nichts machen.

Tiefer im Park, wo mehr Aktivisten der ersten Stunde sitzen, traf ich öfter Menschen, die die Steine bedauerten. „Wir müssen passiven Widerstand leisten, keinen aktiven,“ sagte Can. Ein anderer erklärte mir, die Aggressoren seien alles PKK-Sympathisanten. Hinten im Park traf ich auch ein paar Çarşı, von denen ein bemerkenswert ruhiger mir erklärte, man hielte sich da noch raus, weil vorne nur „Marxisten“ kämpften, man müsse erstmal sehen, wie sich das entwickelt.

Auf dem Weg nach vorne kam ich auch an ein paar Jungs vorbei, die gerade ein paar Molotow-Cocktails fertigmachten. Offensichtlich hatte die Geschichte vom Morgen sie inspiriert, auch wenn sie auf keinen Fall wollten, dass ich ein Foto davon mache.

Als ich den Platz verließ, um diesen Artikel zu schreiben, war die Schlacht auf der Baustelle noch in vollem Gange. Die Polizisten um die Statue feuerten weiter Gummigeschosse und Gasgranaten, die Wasserwerfer Wasser und was weiß ich noch, orangenes Zeug. Bei mir zu Hause, circa zwei Kilometer entfernt, weht ständig Gas durchs Fenster, und das Knallen der Gaswerfer, das Heulen der Sirenen, die Rufe nach „Widerstand“ haben bis jetzt, neun Uhr, noch nicht nachgelassen. Von Freunden weiß ich, dass sich die Schlacht wieder bis auf die Istiklal ausgebreitet hat. Vor circa einer Stunde habe ich auch einen lauten Çarşı-Gesang gehört, offensichtlich sind die Jungs jetzt doch noch eingestiegen. Ich weiß nicht, ob Erdoğan das so geplant hatte, aber die Gezi-Park-Proteste haben am Dienstag einen ganz neuen Grad an Brutalität erreicht.