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Beim ‚Walking Man‘ von Detroit läuft es gerade gar nicht

Als die Geschichte von James Robertson viral ging und sich eine ganze Menge an Spendengeldern ansammelte, veränderte das sein Leben—sowohl zum Guten als auch zum Schlechten.
Foto: Pat Pilon | Flickr | CC BY 2.0

Wenn du arbeiten willst, schwarz bist, aus Detroits Arbeiterklasse kommst und kein Auto besitzt, dann musst du sehr wahrscheinlich den Bus nehmen, um in den Vorort zu kommen, wo sie eben gerade Leute einstellen. Denn in Detroit selbst gibt es zur Zeit keine Arbeit.

Die Endhaltestellen der Busse sind jedoch die Einkaufszentren, denn solche Typen wie du sollen nicht in den Vororten rumlaufen—außer du willst dir ein Paar Laufschuhe kaufen.

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Also nimmst du den Bus bis zum Stadtrand von Detroit (die berühmte 8 Mile Road) und steigst dort in einen anderen Bus, der dich bis zum Einkaufszentrum an der 16 Mile Road bringt. Von dort aus musst du dann noch mal gut elf Kilometer laufen, bis du schließlich bei deiner Arbeit ankommst, wo du für 10,55 Dollar die Stunde Kunststoffteile für die Autos herstellst, die du dir nicht leisten kannst.

Wenn deine Spätschicht dann vorbei ist, läufst du die elf Kilometer zurück zum Einkaufszentrum, um noch den Bus zu erwischen, der dich wieder bis an den Stadtrand von Detroit bringt. Da es jetzt allerdings schon ziemlich spät ist, fahren dann von dort aus keine Busse mehr, denn die Stadt ist pleite. Die Folge: Du musst weitere acht Kilometer laufen, bis du schließlich bei dir zu Hause ankommst—ein angemietetes Zimmer in einem Hinterhaus.

Dieses Szenario ist für James Robertson, den sogenannten ‚Walking Man' von Detroit, schon seit einem Jahrzehnt Alltag. 34 Kilometer am Tag, 170 Kilometer in der Woche, mehr als 8.000 Kilometer im Jahr. Wenn du zweimal die Welt umrundest, hast du ungefähr die gleiche Strecke zurückgelegt. Trotzdem hat Robertson in diesen zehn Jahren keinen einzigen Tag gefehlt.

„Ich finde einfach, dass man arbeiten sollte", erzählte er mir. „Arbeit ist Balsam für die Seele und der Rest fügt sich dann auch noch."

Dank dieser Sichtweise ist Robertson vielleicht reich an positiven Gedanken, aber kaufen kann er sich davon trotzdem nichts. Er kann sich kein Auto leisten und verdient umgerechnet nur 320 Dollar die Woche—eine Autoversicherung kann in Detroit jedoch schonmal über 5.000 Dollar kosten. Dazu kommt, dass Robertsons Vermieter wöchentlich umgerechnet gut 220 Dollar für das Zimmer verlangt.

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Letzten Endes bleibt dann nach den Lebensmitteleinkäufen und den Kosten der Busfahrkarten kein Geld mehr übrig. Aber das ist in Detroit normal—es ist, als würde man auf Treibsand laufen.

Vor ein paar Wochen wurde eine Lokalzeitung schließlich auf Robertsons Schicksal aufmerksam. Dann kam das Fernsehen. Dann das Internet. Die Bilder zeigen einen bescheidenen, etwas heruntergekommen Mann, der durch knöchelhohen Schnee stapft—ein Held der Arbeiterklasse. Und schon ging die Geschichte viral.

Und genau hier begannen auch die Schwierigkeiten.

Für Robertson wurde ein GoFundMe-Konto eingerichtet und auf diesem Weg mehr als 350.000 Dollar gespendet. Ein Autohaus stellte einen feuerroten Ford Taurus mit allen Extras zur Verfügung. Aber das wohlmeinende Unternehmen hätte auch direkt eine Zielscheibe auf die Motorhaube malen und ein Kennzeichen mit der Aufschrift ‚Kommt und holt mich, ich bin reich!' am Auto anbringen können.

Die Gegend, in der Robertson wohnt, ist ein Schmelztiegel von armen, gebrochenen und verzweifelten Menschen—dort reihen sich heruntergekommene Häuser an unbebaute Grundstücke und Müll. Nicht mal einen Kilometer entfernt befindet sich eine neue Zugstrecke, die die Midtown-Universitätsstudenten ganz einfach und schnell in die neu belebte Innenstadt mit ihren Casinos, teuren Cocktails und Lofts bringt. In genau diesen Lofts wohnen junge, weiße Fachkräfte, die ihre Autos noch immer über ihre Eltern anmelden, weil die Versicherung in den Vororten günstiger ist.

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Die Strecke endet jedoch knapp einen Kilometer vor Robertsons Detroit und sie verbindet ihn und den Rest der Stadt also nicht mit dem Busbahnhof. In Robertsons Detroit waren Anfang des Schuljahres 100 Kinder in einer einzigen Kindergartengruppe untergebracht. In Robertsons Detroit sind dieses Jahr 18.000 Familien kurz davor, ihr Zuhause durch eine Zwangsvollstreckung zu verlieren, weil sie die Grundsteuer nicht mehr bezahlen können. In Robertsons Detroit liegt die Arbeitslosenquote bei gut 40 Prozent. Dort gibt es keine Wunder—bis auf Robertsons Geschichte, die viral ging.

Danach kannte ihn plötzlich jeder und jeder wollte etwas vom Kuchen abhaben. Die Nachbarn tauchten mit aufgehaltener Hand vor Robertsons Tür auf, aber der hatte von dem Geld selbst noch gar nichts gesehen. Seine Freundin, die auch das Haus besitzt und die Miete verlangt, drängte laut ihm auf eine Auszahlung. Das taten auch ihr Ex-Mann, ihr erwachsener Sohn und dieser andere Typ, der mit dort wohnt.

Und es kam noch schlimmer: Einen Tag nachdem Robertson das Auto geschenkt bekommen hatte, streifte er damit das Haus der Nachbarn (er kam in seiner schneebedeckten Auffahrt aus Versehen aufs Gaspedal). Jetzt fordern die natürlich auch Schadensersatz.

„Geld ist mir völlig egal", sagte Robertson zu mir, als ich ihn bei sich zu Hause besuchte. „Das habe ich von meinem Vater. Manchen Leuten ist das Leben eines Mannes jedoch ebenfalls völlig egal."

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Als Robertsons Geschichte um die Welt ging, wurde in Detroit am gleichen Tag auch ein 86-jähriger Mann in einem verlassenen Haus tot aufgefunden—er wurde erstochen. Was er verbrochen hatte? Angeblich war er durchs Lottospielen an eine Menge Geld gekommen. Aber selbst wenn das der Wahrheit entsprechen sollte, dann hat er laut der Lotteriegesellschaft seinen Schein nicht eingelöst. Wie dem auch sei, er ist tot.

Ich bekam einen Anruf von einem Bankangestellten und Bekannten von Robertson. Im Laufe der Jahre hatte er immer wieder gesehen, wie Robertson zur Arbeit lief und nahm ihn ab und an im Auto mit. Bei unserem Telefonat wurde mir dann noch mal das Offensichtliche gesagt: Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis das brandneue Auto gestohlen werden oder vielleicht sogar noch Schlimmeres passieren würde.

Deshalb rief ich den örtlichen Polizeichef an. Der ließ Robertson das Auto auf dem Dienststellenparkplatz abstellen und telefonierte dann mit einem Vermieter in der Stadt, der Robertson eine leere Wohnung zur Verfügung stellte—und zwar so lange, bis feststeht, was mit dem Geld geschehen wird.

Dazu schickte der Polizeichef noch mehrere Beamte als Schutzmaßnahme zu Robertsons Haus, wo der sein weniges Hab und Gut zusammenpackte. Die Freundin war nicht zu Hause, aber sie wusste, dass Robertson sie verlässt und rief deswegen ein halbes Dutzend mal total aufgebracht an.

„Natürlich ist sie jetzt gerade nicht glücklich", sagte Robertson. „Aber ich gehöre hier nicht mehr hin. Das habe ich auch nie, um ehrlich zu sein."


Titelfoto: Pat Pilon | Flickr | CC BY 2.0