5 Totschlagargumente über Terror und Gewalt im Faktencheck

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5 Totschlagargumente über Terror und Gewalt im Faktencheck

Es gibt immer mehr Terror, die Welt wird gefährlicher, die Flüchtlinge sind schuld, Muslime sowieso und mit mehr Überwachung wäre alles besser—ähm, nicht ganz.

Wir erleben einen Sommer, bei dem wir jedes Mal zusammenzucken, wenn das Wort Eilmeldung auf den Bildschirmen und Smartphones auftaucht. Deutschland erlebte Attentate in Würzburg und Ansbach, einen Mord in Reutlingen, einen Amoklauf in München, bei dem neun großteils junge Menschen starben. Oft war erst nach Stunden oder gar Tagen klar, was überhaupt passiert ist. Es waren Anschläge, bei denen die Grenzen zwischen Terror, Amok und der Tat eines psychisch Kranken verschwimmen. So unklar vieles nach wie vor ist, so sehr scheinen unzählige selbsternannte Experten schon zu wissen, was Sache ist und wer schuld ist: die Flüchtlinge, Angela Merkel, die "Gutmenschen". Wir haben fünf Mythen über Terrorismus einfach mal angesehen und recherchiert. Was ist da überhaupt dran?

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1. "Immer mehr Menschen sterben bei Terrorattentaten"

Von den 1970ern bis zur Mitte der 90er Jahre starben in Westeuropa jährlich bis zu 400 Menschen durch Terrorismus. 1988 kamen 437 Menschen um, 270 davon starben allein beim Lockerbie-Attentat, bei dem der libysche Geheimdienst mit einer Bombe eine amerikanische Passagiermaschine über dem schottischen Ort Lockerbie zum Absturz brachte. In Deutschland tötete die RAF insgesamt 34 Menschen. Seit der Jahrtausendwende gehen die Opferzahlen in Europa zurück. Das Gleiche gilt nicht für den weltweiten Terrorismus. Zwischen 2001 und 2014 starben 108.294 Menschen auf der ganzen Welt durch Terror, 420 davon in Westeuropa. Laut dem Global Terrorism Index starben im Jahr 2014 über drei Viertel der weltweiten Terroropfer in fünf Ländern: Afghanistan, Irak, Nigeria, Syrien und Pakistan. Weniger als drei Prozent der terrorbedingten Todesfälle ereignen sich laut des Index in westlichen Ländern. Global betrachtet sind die Chancen dreizehnmal höher, Opfer eines Tötungsdeliktes zu werden, das nichts mit Terrorismus zu tun hat.

2. "Die ganze Welt wird immer gefährlicher"

"In einem Jahrtausend, das mit 9/11, dem Irak-Krieg und dem Konflikt in Darfur begann, erscheint die Behauptung, dass wir in einer ungewöhnlich friedlichen Zeit leben, halluzinatorisch bis obszön", schreibt der Pulitzer-Preisträger Steven Pinker. Aber die Aussage des Harvard-Professors ist genau die: "Unsere Spezies lebt vielleicht in der friedlichsten Zeit ihrer Geschichte." Die Zahl der bewaffneten Konflikte und Kriegstoten sinke und Kriege töteten weniger Menschen—gemessen an der Gesamtbevölkerung. Und auch im Vergleich zu der jüngsten Geschichte gibt es weniger gewaltsame Tode:

Laut eines UNO-Berichts sank die Anzahl der Morde weltweit von 7,3 Morden pro 100.000 Menschen im Jahr 2003 auf 6,2 Morde im Jahr 2012. Die Zahl der Kriegsopfer ist in den letzten Jahren zwar leicht angestiegen, ist aber bei Weitem nicht so hoch wie in den Jahrzehnten zwischen 1940 und 1990. Zum Vergleich: Starben in den 50ern noch 24 von 100.000 Menschen in Kampfhandlungen, war es 60 Jahre später weniger als eine Person. Auch die Gewalt, von der die meisten Personen betroffen sind—Mord, Vergewaltigung, Schläge—ist in großen Teilen der Welt zurückgegangen. Die Welt geht nicht unter.

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3. "Aber mit den Flüchtlingen wurde alles viel viel schlimmer"

Fakt ist: 2015 gab es in Österreich generell so wenige Anzeigen wie noch nie zuvor.

Sieht man sich die Zahlen genau an, ergibt sich sogar etwas Erstaunliches: Im Jahr 2014 gab es 28.064 Asylanträge und 10.416 tatverdächtige Asylwerber. Letztes Jahr stieg die Anzahl der Asylanträge deutlich—88.151 Personen suchten 2015 in Österreich um Asyl an, aber nur 14.458 Flüchtlinge wurden einer Tat verdächtigt. Setzt man das nun in Relation zueinander bedeutet es, dass sich die Kriminalitätsrate von Asylwerbern um die Hälfte reduziert hat.

4. "Der Moslem neigt ja ohnehin dazu, Terrorist zu sein"

Wer so denkt, hat eine verzerrte Weltwahrnehmung. Er blendet ganze Menschenmassen aus. Denn geschätzt gibt es 1,57 Milliarden Muslime auf der Welt, ein Großteil von ihnen lebt friedlich. Wer Muslime mit Terror gleichsetzt, der denkt in erster Linie an Islamisten—und damit an den fundamentalen Islamismus und nicht den Islam an sich. Neben Ländern wie Saudi-Arabien oder dem Iran leben auch in Malaysia, auf den Malediven oder in Aserbaidschan überwiegend Muslime.

Im Zuge der Attentate auf das World Trade Center startete das renommierte amerikanische Meinungsforschungsinstitut Gallup eine riesige Umfrage: Die Forscher führten 50.000 Gespräche mit Muslimen auf der ganzen Welt und werteten sie über Jahre aus. Die Ergebnisse waren überraschend: Selbst im recht konservativen Iran sprachen sich 85 Prozent der Befragten für die Gleichberechtigung von Mann und Frau aus. In Indonesien sogar 90 Prozent, und sogar im patriarchalischen Wüstenstaat Saudi-Arabien waren es noch 61 Prozent.

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Außerdem wurden Muslime aus den zehn arabisch-islamischen Kernstaaten danach befragt, was sie sie am "Westen" am meisten schätzten: An erster Stelle war es der technologische Fortschritt, dicht gefolgt von der freien Meinungsäußerung, der freien Ausübung der Religion und der parlamentarischen Demokratie.

Die Idee, dass Muslime die Ideale und Werte der westlichen Welt verachteten und sie mit Terror übersät wünschen, steht also auf mehr als wackeligen Füßen. Wovon wir sprechen, wenn wir an Terror und den Islam denken, ist die ideologisch-radikale Form, die sich im Islamismus manifestiert. Und dieser Ideologie folgt nur ein verschwindend geringer Anteil der Muslime.

5. "Wir brauchen mehr Überwachung, dann bekommen wir den Terror in den Griff"

Wie kannst du denn gegen Überwachung sein, wenn sie doch Menschenleben rettet?

Dass Terroristen verschlüsselt kommunizieren, wurde in den USA erstmals Mitte der 90er erkannt—und ist demnach alles andere als neu. Es finden sich noch immer Nischen des Internets, in die Ermittler nicht schlüpfen können.

Doch selbst, wenn vieles bekannt ist, heißt das noch lange nicht, dass ein Terroranschlag durch abgehörte Informationen verhindert werden kann. Zwölf der Attentäter von Brüssel hatten Reisen zum sogenannten "Islamischen Staat" nach Syrien, in den Irak oder in den Jemen zu al-Qaida unternommen. Zehn hatten Vorstrafen, die meisten wegen Gewaltverbrechen. Sie alle standen auf jenen Listen der "Gefährder".

Zurzeit ist die Vorratsdatenspeicherung in Österreich außer Kraft, sogar die bisher gespeicherten Daten mussten gelöscht werden. Was Sinn macht, denn: Wie soll es Terrorismus verhindern, wenn unsere Privatgespräche gespeichert werden?