FYI.

This story is over 5 years old.

News

Was zur Hölle ist Bergkarabach und weshalb könnte es dort zum Krieg kommen?

Die Vorgänge in der Ukraine könnten einen weiteren Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Republik Bergkarabach entfachen.

Aserbaidschanische Panzer in Karabach Foto: Nicholas Babaian / Flickr / CC BY 2.0

Seit dem Ausbruch der Krise in Kiew sind die Kommentatoren und Analysten eifrig damit beschäftigt, mögliche Auswirkungen auf „eingefrorene Konflikte“ im Umkreis von Russland zu diskutieren. Südossetien und Abchasien in Georgien, aber auch Transnistrien in Moldawien, die im Laufe der letzten Jahrzehnte in Konflikte verwickelt waren, haben bereits ihren Anteil der Aufmerksamkeit bekommen. Warum aber spricht niemand über Bergkarabach? Bergkarabach ist eine ethnisch armenische Enklave in Aserbaidschan, die ihren Unabhängigkeitsstatus einfordert, aber international nicht anerkannt wird. In diesen Tagen ist es 20 Jahre her, dass in Bergkarabach Krieg geführt wurde. Von 1988 bis 1994 kämpften Armenien und Aserbaidschan um das Gebiet, wobei 30.000 Menschen ihr Leben verloren. 1994 wurde ein von den Russen ausgehandelter Waffenstillstand unterschrieben, doch „vertragsgemäß“ sind die Soldaten weiterhin bewaffnet—und weiterhin sterben Menschen. Jedes Jahr werden Dutzende getötet und Hunderttausende sind noch immer vertrieben. Svante E. Cornell, Leiter des in den USA angesiedelten Central Asia-Caucasus Institute), spricht von der „Mutter aller ungelösten Konflikte“. Vor kurzem sind die Spannungen eskaliert. Im April begann Aserbaidschan, großangelegte Militärübungen an der Grenze zu Armenien durchzuführen. Hinzu kommt die Bedrohung durch die russische Annexion der Krim, die von Armenien bejubelt und von Aserbaidschan abgelehnt wird. Die Geschehnisse auf der Krim könnten das Gleichgewicht aus dem Lot bringen und einen regionalen Krieg auslösen, der Big Player wie Russland, die Türkei, Israel und den Iran mit ins Spiel bringen würde. „Generell würde ich mir Sorgen darüber machen, was das für den Südkaukasus bedeutet“, sagte Katherine Leach, britische Botschafterin in Armenien. Russland, das praktischerweise an beide Konfliktparteien Geld und Waffen liefert, wird aller Voraussicht nach von der Situation profitieren, allein indem es  Kapital aus der regionalen Unsicherheit schlägt. Letztes Jahr hielt der russische Präsident Putin eine Rede in der armenischen Hauptstadt Jerewan und erklärte: „Russland wird diese Region nie verlassen. Im Gegenteil, wir werden unsere Präsenz hier sogar noch stärken.“

Anzeige

Das umkämpfte Gebiet Bergkarabach

Im Januar veröffentlichte das United States Senate Select Committee on Intelligence sein „weltweites Bedrohungsgutachten“, in dem es hieß, dass „Bergkarabach und angrenzende Gebiete ein potenzieller Unruheherd bleiben werden“ und dass „Aussichten auf eine friedliche Lösung“ trüb seien. Darauf folgte das September-Gutachten der International Crisis Group, in dem ein zunehmendes „Wettrüsten“ in Aserbaidschan und in beiden Ländern ein Anstieg von „scharfer Rhetorik“ mit „Begriffen wie ,Blitzkrieg‘, ,Präventivschlag‘ und ,totaler Krieg‘“ beschrieben wurde. Am 7. Mai hielt James Warlick—Co-Vorsitzender des regionalen Verhandlungsteams der Organisation for Security and Co-operation in Europe (OSCE)—eine lang erwartete Ansprache über „Wege zu einer Schlichtung“ in Bergkarabach. Doch die Ansprache, die vage Aufrufe zu „mutigen Schritten“, „Kernprinzipien“, „Willensäußerungen“ und „Partizipation des Volkes“ beinhaltete, enthielt keine neuen Denkanstöße für die diplomatischen Verhandlungstische. Nur wenige Wochen zuvor hatte Warlick auf Twitter sinniert: „Was für ein wundervolles Ostern! Ich bete für eine dauerhafte Einigung in #Bergkarabach.“

Doch wird das Blutvergießen in der Ukraine mehr als Tweets zu einer göttlichen Intervention hervorrufen?

Dieser Tage ist Bergkarabach ein Wrack. Verstöße gegen den Waffenstillstand und Imponiergehabe bei Militärübungen sind an der Tagesordnung. Trotzdem werden regelmäßig Soldaten beschossen und getötet. Das führt zu Spekulationen, dass der „eingefrorene Konflikt“ bald zu „kochen“ anfangen könnte. Auch Zivilisten sterben, zum Teil dadurch, dass sie auf eine der vielen alten Landminen treten, die noch immer in der Region verstreut liegen. Als eine Art rechtliches Niemandsland ist Bergkarabach ein Hotspot für Drogenschmuggel, Kleinkriminalität und Menschenhandel. Wie du wahrscheinlich erraten hast, sind die Lebensbedingungen beschissen. Hunderttausende Aserbaidschaner sind noch immer vertrieben, viele von ihnen leben unter ärmlichen Bedingungen. Und dann passierte die Ukraine-Krise. Das illegale Referendum auf der Krim inspirierte neue Bemühungen für eine Lösung in Bergkarabach; im November trafen sich die Präsidenten Aserbaidschans und Armeniens zum ersten Mal in drei Jahren zu Gesprächen—Gesprächen zu denen der amerikanische Außenminister John Kerry versprochen hatte, „sich einzubringen“. Bis Januar war der Optimismus dann aber weitestgehend verschwunden. Das noch junge Jahr brachte einen Anstieg an Verstößen gegen den Waffenstillstand, Berichte über zivile Opfer, Tote an „der Front“ und der Festnahme eines vermeintlichen armenischen Eindringlings in Aserbaidschan. Als sich die Einwohner der Krim dafür entschieden, sich von der Ukraine zu trennen und sich Russland anzuschließen, verfasste die UN eine Resolution, die dieses Vorgehen verurteilte. Aserbaidschan unterstützte diese, Armenien allerdings nicht. In der selbsternannten Republik Bergkarabach hielt die Führungsriege Berichten nach eine öffentliche Feier zu Ehren der nun vermeintlich freien Krimbevölkerung ab.

Anzeige

Die Flagge der Republik Bergkarabach

Es ist jetzt nicht so, als ob man das nicht hätte kommen sehen: Die Situation verschlimmert sich schon seit einiger Zeit, aber gerade in den letzten Jahren gab es enormen Zuwachs bei den regionalen Militärausgaben. Vor allem Aserbaidschan hat sein Militär bemerkenswert aufgerüstet. Manche Beobachter befürchten nun, dass Baku vielleicht auf die Idee kommen könnte, das neu erstandene Arsenal ausprobieren zu wollen—zwei Jahrzehnte, nachdem der Konflikt mit Armenien offiziell beigelegt ist. Das ist der Punkt, an dem Russland ins Spiel kommt. Es ist kein großes Geheimnis, dass Russland auf beiden Seiten steht. Offiziell unterstützt Putin jedoch Armenien und hat Truppen in Kasernen bei Gjumri stationiert. 2012 sandte der Kreml Einheiten aus Russland und vier anderen post-sowjetischen Republiken nach Armenien, um dort die größte Militärübung abzuhalten, die die Region je gesehen hatte. Moskau verkauft aber nichtsdestotrotz Unmengen an Waffen, Ausrüstung und Artilleriesysteme an Aserbaidschan. „Mit Putin zurück im Kreml ist wohl ihr oberstes Anliegen, den Status Quo aufrecht zu halten“, sagt Thomas de Waal, ein langjähriger Mitarbeiter von Carnegie Endowment und Autor von Black Garden: Armenia and Azerbaijan Through Peace and War. „[Die Russen] möchte keinen Krieg, welcher sie dazu zwingen würde, ihre Armee in Armenien einzusetzen. Ich sehe aber auch keine Anzeichen dafür, dass sie Frieden wollen … Momentan scheint Russland nicht in der Stimmung für diese Art von kreativen Überlegungen zu sein. Es hat sich dafür entschieden, die Situation festzufahren und seinen Einfluss [beizubehalten].“ Also bemühen sich beide Seiten eifrig um Putins Unterstützung, was sich auch manchmal auszahlt—vor allem für Armenien. Gegen Ende des Bergkarabach-Krieges schloss die Türkei ihre Grenze nach Armenien, das Land war isoliert. Dann sprang Russland in die Bresche und kam ihnen zur Hilfe. Es ist also kein Wunder, dass Armenien letztes Jahr (genau wie die Ukraine) ankündigte, dass sie der neuen von Russland initiierten eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft beitreten würden, anstatt das Assoziierungsabkommen mit der EU weiter zu verfolgen. Sollte er tatsächlich ausbrechen, würde sich der Krieg um Bergkarabach schnell ausweiten. Die Türkei und Israel unterstützen Aserbaidschan—vor allem Letztere haben Unmengen von Waffen und eine Dronenflotte an Baku verkauft, auch als Mittel, um den Iran (der Armenien unterstützt) in Schach zu halten. Eine Diplomatendepesche der USA von 2009, die von WikiLeaks veröffentlicht wurde, zitiert den Präsidenten Aserbaidschans, Ilham Aliyev, mit seiner Beschreibung der Beziehungen des Landes zu Israel „als Eisberg—neun Zehntel davon sind unter der Oberfläche versteckt.“ Alle Verwicklungen der verschiedenen regionalen Bündnisse kommen in Bergkarabach zusammen. Ein mögliches Szenario besteht auch darin, dass die diplomatischen Kanäle zerfallen. Andauernde Verhandlungen werden von der sogenannten „Minsk-Gruppe“ der OSZE durchgeführt, die von den USA, Frankreich und Russland geleitet wird. Es wird aber bezweifelt, dass diese Gruppe noch lange bestehen bleiben wird, so verlässlich wie die russisch-amerikanische Zusammenarbeit gerade läuft. Falls sie tatsächlich eingestellt werden sollte, wäre das ein großer Grund zur Sorge, sagt auch Botschafterin Leach. Es gibt momentan keine „umsetzbare Alternative“ für diese Verhandlungsrunde.

Russlands Präsident Dmitr Medwedew (mitte), Aserbaidschans Präsident Ilham Aliyev (links) und Armeniens Präsident Sersch Sargsjan (rechts) unterhalten sich während eines Treffens in Krasnaja Poljana nahe Sotschi, Russland, am 23. Januar 2012. Sie diskutierten den Bergkarabach-Konflikt.
 
Natürlich könnte der Schalter auch jederzeit in Bergkarabach selber umgelegt werden. Aserbaidschan und Armenien verfügen beide über beachtliche Armeen und auch die selbsternannte Republik Bergkarabach hat eigene Truppen zu Verteidigung. Seit der Annexion der Krim hat die Führungsriege der Republik besonderen Wert darauf gelegt, dass ihre eigene Stimme gehört wird und nicht nur Armenien das Reden für sie übernimmt. Anfang diesen Monats sagte mir der Vertreter der Republik in den USA, Robert Avetisyan: „Für uns ist es mehr als selbstverständlich, dass die Republik Bergkarabach das Hauptanliegen bei Verhandlungen mit Aserbaidschan sein sollte.“ Einige glauben, dass die einzige mögliche Lösung des Konflikts in einem international anerkannten Referendum über die Unabhängigkeit der Republik Bergkarabach liegt. Wer bei diesem Referendum überhaupt wählen sollte, bleibt allerdings weiterhin ein Streitpunkt. Sollten etwa Aserbaidschaner, die aus dem Territorium vertrieben wurden, ein Mitspracherecht haben? Paradoxerweise muss Aserbaidschan wegen den Vorgängen auf der Krim vorsichtig sein. Die Krise in der Ukraine hat Europas Energieabhängigkeit von Russland deutlich gemacht und die Jagd nach nicht-russischen Alternativen angespornt. Aserbaidschan könnte hierbei vielleicht genau das sein, wonach alle suchen. „Die kaspische Region, deren Herzstück Aserbaidschan bildet, ist die einzige große Energiealternative zu Russland“, sagte vor kurzem George Friedman, Gründer und Präsident des Beratungsunternehmens für Sicherheitsfragen, Stratfor. Europa ist auch schon dabei, die Gaspipelines von Aserbaidschan bis tief in den Kontinent zu verlängern. Im Dezember schloss ein von BP geführtes Unternehmen einen 33-Milliarden-Euro Gasvertrag mit Baku ab und machte damit Großbritannien zum größten ausländischen Investor des Landes. Diese aufkeimende Öl- und Gasbeziehung könnte auch erklären, warum einige europäische Staaten anlässlich der jüngeren Menschenrechtsverletzungen Bakus, von denen einige mit der Republik Bergkarabach zu tun hatten, eher zwei Augen zugedrückt haben. Vor kurzem wurden ein Journalist und eine bekannte Menschenrechtsaktivistin als vermeintliche armenische Spione verhaftet. „In Aserbaidschan hat der Konflikt um Bergkarabach zu einer Besessenheit mit armenischen Spionen geführt“, erklärt Rachel Denber, eine Human Rights Watch-Expertin für die Region. Es kam zu einigen Vorfällen im Zuge der Regierungsbemühungen „den aserbaidschanischen Nationalismus gegen jeden Anflug von Verständnis in Richtung der armenischen Position zu mobilisieren.“ Natürlich ist es nur zu wahrscheinlich, dass keine der beiden Seiten einen Krieg möchte. Wie wir aber 2008 anlässlich des bewaffneten Konflikts von Georgien und Russland um die umstrittenen Gebiete von Südossetien und Abchasien sehen konnten, können unvorhersehbare Dinge geschehen, wenn brodelnde ethnische Spannungen, rivalisierende Gebietsansprüche, russische Interessen und eine Menge Waffen aufeinandertreffen. Bis jetzt hofft Botschafterin Leach einfach nur, dass „im Kontext der Ukraine und den ungeklärten Fragen um die ehemaligen Grenzen innerhalb der Sowjetunion … mehr Menschen sich mit der Situation befassen“ und mit dem oft vergessenen Bergkarabach.