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THE CROWN AND SCEPTER ISSUE

Die stumme Mehrheit: Bürgerrechte entwickeln sich in Nepal langsam

Eine neue Verfassung sollte helfen, verschlimmerte aber nur die Situation ethnischer Minderheiten.

Demonstranten in Janakpur marschieren gegen die Weigerung der nepalesischen Regierung, ethnische Gruppen wie die Madhesi anzuerkennen. Alle Fotos vom Autor

Aus der Crown and Scepter Issue

An einem schwülen Tag im Juli versam­melten sich Hunderte entrechteter Menschen aus der nepalesischen Region Madhesh vor einem Lokalregierungsgebäude in Janakpur, etwa 200 Kilometer südöstlich der Landeshauptstadt Kathmandu. Man hatte den Einheimischen gesagt, sie könnten Feedback zum Entwurf für die neue Verfassung Nepals abgeben, und sie ergriffen diese unerwartete Gelegenheit, ihre Interessen zu vertreten, nur zu gern. Als sie jedoch an dem Regierungsgebäude ankamen, fanden sie verschlossene Tore vor, die von zahlreichen Polizisten bewacht wurden. Man hatte sie belogen.

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Die größer werdende Menge wurde wütend. Einige rüttelten an den Metallstäben des Tors, bis sein Betonfundament zersprang und das Tor in einer Staubwolke ausgerissen wurde. Bald verwandelte sich die ganze Stadt in einen Kriegsschauplatz zwischen Polizisten und Demonstranten. Viele Zivilisten wurden mit Stöcken geschlagen und von Tränengas getroffen, sodass sie ins Krankenhaus mussten. Unter den Patienten war ein 14-Jähriger, der Schläge erhalten und dabei eine ernsthafte Kopfverletzung erlitten hatte.

Die Ereignisse in Janakpur im Juli brachten den Aufruhr, der in der Region herrschte, zum Überkochen. Seit Jahrzehnten werden ethnischen Gruppen wie den Tharu und den Madhesi Bürgerrechte und politische Repräsentation vorenthalten. Im September wurde eine neue Verfassung verkündet, nach der ein föderales System ein gerechteres Nepal schaffen soll. Doch die ethnischen Kluften wurden stattdessen dadurch noch größer.

Die Region Terai, auch Madhesh genannt, liegt an der Grenze zu Indien. Die Tiefebene bildet einen geografischen Kontrast zu den Bergen und Hügeln, aus denen Nepal ansonsten besteht. Das britische Empire übergab die Region in Vereinbarungen von 1816 und 1860 an Nepal, und viele behaupten, die Regierung habe die Madhesi seither nicht als „echte Nepalesen" anerkannt. Vielen werden sogar amtliche Ausweise vorenthalten.

Die Madhesi-Kultur ähnelt den Kulturen benachbarter Völker in Indien mehr als den Nepali-Gemeinden im Fußgebirge des Himalaya. Bewohner des Terai sprechen diverse Sprachen, wobei vor 1950 unter vier Prozent der Madhesi Nepali als Muttersprache hatten.

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Das Gebiet ist allerdings extrem wichtig für Nepal, macht es doch 17 Prozent seiner Fläche und mehr als 45 Prozent des Bruttosozialprodukts aus. Obwohl es das wirtschaftliche Rückgrat des Landes darstellt und fast 51 Prozent der Bevölkerung dort leben, ist das Terai international kaum bekannt, und seine Einwohner werden diskriminiert. Madhesi machen nur fünf bis zehn Prozent der Angestellten in allen Regierungssektoren einschließlich Polizei und Militär aus und erhalten nur etwa 15 Prozent des nationalen Etats für ihre Infrastruktur.

Amresh Kumar Singh, einer der wenigen madhesischen Parlamentsabgeordneten

Einen Tag nach den Protesten in Janakpur reiste ich dorthin, um Madhesi-Anführer zu interviewen, die vor Ort waren, um die Bürgerrechtsbewegung zu unterstützen. Unter ihnen war Vijay Kant Karna, ein ehemaliger Botschafter in Skandinavien und Finnland sowie Professor für Politikwissenschaft an der Tribhuvan-Universität.

Wir trafen uns spätabends in einem Konfe­renzraum des bescheidenen Hotel Welcome. Draußen brummten Motorräder vorbei, während wir an einem Glastisch saßen und Cola tranken.

Weil die dunkelhäutigen Madhesi bei der Polizei nur eine Minderheit darstellen, werden Proteste oft zu rassistischen Auseinandersetzungen, wie auch in Janakpur im Juli. Aufnahmen von jenem Tag zeigen Polizisten, die von ihren Schilden geschützt Steine auf die Demonstranten werfen.

„Als die Polizei anfing zu schlagen, machte sie keine Unterschiede. Kinder, Frauen, Behinderte, einfach alle", erinnerte sich der 56-jährige Aktivist Roshan Janakpuri. Er trug eine Kopfbandage, denn die Polizei hatte ihn mit dem Schlagstock erwischt.

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Karna erinnerte sich an ähnliche Ereignisse. „Während sie uns schlagen, sagen sie immer: ‚Ihr Madhesi wollt uns herausfordern? Ihr wollt Rechte?'", sagte er und drohte mit weit aufgerissenen Augen mit der Faust. „Das hier sind eure Rechte."

Mehr als 40 Menschen wurden zwischen August und September innerhalb von 45 Tagen getötet. Die meisten davon waren Demonstranten, die von der Polizei erschossen wurden, doch auch Polizisten wurden zu Opfern. In einer der brutalsten Auseinandersetzungen wurde ein Polizeibeamter mit einem Speer getötet, das zweijährige Baby eines anderen Polizisten wurde erschossen und ein weiterer Beamter wurde bei lebendigem Leib verbrannt. Viele befürchten, die Situation könne zu einem nepalesischen Bürgerkrieg führen. Dabei hat das Land den letzten erst vor neun Jahren überwunden.

„Madhesh ist schon lange eine Kolonie—seit vor 250 Jahren die damaligen Könige von Herrschern aus den Hügeln besiegt wurden", sagte Karna. „Damals wurden wir zu Bürgern zweiter Klasse des Landes." Daran hat sich seither laut Karna nichts geändert. Er und andere Madhesi-Anführer bezeichnen diesen entrechteten Zustand als „interne Kolonisierung".

„Wir sind nie zu gleichberechtigten nepalesischen Bürgern geworden", sagte er. „Uns werden schon lange nationale Ausweise vorenthalten und heute sind immer noch fast 20 Prozent der Madhesh-Bewohner staatenlos."

Die Grenze zwischen Nepal und Indien ist offen und die Kulturen vermischen sich häufig, auch in der Form von Eheschließungen. Viele Kinder aus solchen Ehen bekommen etwas, das Madhesi als „Staatsbürgerschaft zweiter Klasse" bezeichnen, womit ihnen hohe politische Ämter versperrt bleiben. Ein Paragraf in der neuen Verfassung wird es Madhesi mit ausländischen Vätern oder alleinerziehenden Müttern schwer machen, die volle Staatsbürgerschaft zu erlangen. Viele sind aufgebracht darüber, dass Frauen nicht dieselben Bürgerrechte erhalten wie Männer, und kritisieren die neue Verfassung als misogyn.

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Eltern müssen beweisen können, dass sie in Nepal leben (was recht schwer ist, weil viele keinen Grundbesitz haben), und Kinder müssen registriert werden. Sind diese Bedingungen nicht erfüllt, bleiben die Kinder staatenlos. Manchen Schätzungen zufolge gibt es Millionen Staatenlose in Nepal. Diese Menschen können nicht wählen, Grundbesitz kaufen oder verkaufen, öffentliche Einrichtungen nutzen, Schulprüfungen ablegen oder SIM-Karten kaufen.

Viele Nepalesen aus der Hügelregion halten Madhesi für Inder, die Nepal und nepalesische Rechte für sich beanspruchen wollen. „Allen Madhesi Rechte zur politischen Teilhabe zu geben ist, als würden wir unser Parlament Indien überreichen", sagte Hem, der Besitzer einer kleinen Firma für Wandertouren in Kathmandu. „Viele Länder bürgern die Ehegatten und Kinder von Ausländern nicht ein. Warum sollten wir das tun? Ist es unvernünftig, dass wir die Kontrolle über unser Land nicht einem fremden Land geben wollen?"

Roshan Janakpuri, ein Aktivist, wurde bei einer Demonstration gegen den Kopf geschlagen.

Bevor die neue Verfassung verkündet wurde, bestand Nepal aus 75 Bezirken, die von einer hochgradig zentralen Regierung verwaltet wurden. Die neue föderale Verfassung teilt das Land in sieben Provinzen ein und überlässt Lokalbehörden mehr Macht, um der Bevölkerung mehr Selbstbestimmung zu ermöglichen. Doch die Probleme mit der Staatsbürgerschaft bleiben bestehen, und vielen Madhesi bereiten die Grenzen zwischen den neuen Provinzen Sorgen.

Nepalesische Parlamentsabgeordnete, die bekannt dafür sind, zu Madhesi-Fragen zu schweigen, melden sich inzwischen zu Wort. An einem typisch heißen Tag in Janakpur traf ich mich mit Amresh Kumar Singh, einem der wenigen Madhesi-Abgeordneten, im Hotel Welcome. Er hatte keine Angst, sich öffentlich zum Föderalismus zu äußern.

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„Bei der Entstehung der neuen Verfas­sung", erklärte Singh, „hat die Herrscherelite der Brahmanen und Chhetri das Streben der Madhesi völlig an den Rand gedrängtund ignoriert."

Madhesi-Migranten arbeiten am Wiederaufbau von Kulturerbe in Kathmandu, das von Erdbeben beschädigt wurde. In der Hauptstadt werden sie schwer diskriminiert.

Die Proteste werden lauter, und viele Madhesi sehen in dem kontroversen Aktivisten C. K. Raut einen Anführer. Nach seinem Studium in Japan und Großbritannien und einer Zeit als Ingenieur in den USA kehrte er nach Nepal zurück, wo er nun das Gesicht einer wachsenden Bewegung für ein unabhängiges Madhesh ist. Er ist bereits elf Mal verhaftet worden und lebt aktuell unter inoffiziellem Hausarrest im südöstlichen Bezirk Saptari. 2011 führte Raut bei einer Doku namens Black Buddhas Regie, um Aufmerksamkeit auf die Probleme der Madhesi zu lenken. Einige Madhesi und andere Nepalesen mei­nen, er versuche, das Land zu destabilisieren.

In dem Wissen, dass unsere Korrespondenz vermutlich überwacht wurde, schrieben Raut und ich über mehrere Wochen hinweg vage E-Mails, bevor er mich zu sich einlud.

Es war Regenzeit und die Busfahrer streikten, also war es nicht einfach, in seinen Wohnort Rajbiraj zu gelangen. Mein Dolmetscher und ich kämpften uns mit schwerer Fotoausrüstung auf einem winzigen Motorrad durch den Regen.

Raut will einen unabhängigen Staat, doch er nennt „Separatist" eine abwertende Bezeichnung, die von der regierenden Minderheit der Pahari verwendet werde. „Es kommt auf die Perspektive an", sagte er. „Als die Briten über Indien herrschten, war es aus britischer Sicht Separatismus, doch aus der indischen Sicht war es Freiheit."

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„Der Großteil des in Indien produzierten Vermögens ging an die Briten. Hier geschieht dasselbe." Raut saß vor seiner Büchersammlung, sein Haar wehte im Wind des batteriebetriebenen Ventilators, der auf seinem Schreibtisch stand. „Wir sind im Grunde die Kolonie Nepals. Sie wollen keine Entwicklung betreiben, um den Madhesi zu helfen, sondern um Profit zu machen. Sie wollen ausbeuten und Geld verdienen. Sie behandeln [Madhesh] nicht als ihr eigenes Land, sondern als Einkommensquelle."

Raut nannte Mahatma Gandhi als Inspiration und betonte, die Revolution müsse friedlich vonstattengehen, wenn ihre Fortschritte Bestand haben sollen.

Viele, die Rauts Beschreibung der Unterdrückung der Madhesi zustimmen, zweifeln dennoch an seiner Vision einer gewaltlosen Revolution. „C. K. Raut spricht von Frieden, doch das ist Blödsinn", sagte der Madhesi-Jugendaktivist Rajeev Ranjan Jha. „Geschichten von friedlicher Revolution sind erfunden. Gandhi hätte Indien nicht befreit, wenn es zusätzlich zu den friedlichen nicht auch gewaltsame Proteste gegeben hätte, und dasselbe trifft auf [Martin Luther] King und das Herunterspielen von Malcom X' Anhängern zu. Ich unterstütze das Freiheitsstreben meines Volks, aber wenn diese Bewegung weiter wächst, dann wird es mehr Kämpfe geben, ob das nun richtig oder falsch ist."

Zwar wächst seine Anhängerschaft, aber die meisten Madhesi sehen Rauts Aufruf zur separaten Staatsgründung und Pläne für das alleinige wirtschaftliche Bestehen des etwa 25 Kilometer breiten Landstrichs als unrealistisch und schlecht durchdacht. Doch aufgrund der kompromisslosen Haltung der nepalesischen Regierung erkennen viele, vor allem junge Madhesi langsam kaum Alternativen. Rauts Unabhängigkeitspläne könnten bald die einzige Überlebenschance darstellen.

Das Versäumnis, in der neuen Verfassung die Diskriminierung zu beenden, hat in Madhesh Hoffnungen erstickt und die Menschen ihrer letzten Geduld beraubt. Die Klüfte in Nepal sind riesig, und das Land muss nun entweder den Madhesi gleiche Rechte einräumen oder sich auf einen möglichen gewaltsamen Aufstand von Millionen gefasst machen.