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Popkultur

Dieser Typ hat ein ‚Real-Life-Trainspotting‘ über seine Jugend gedreht

Garry Fraser wuchs in Muirhouse auf, einer Sozialbausiedlung nördlich von Edinburgh, die von Heroin und AIDS zerstört wurde. Nachdem er einer schweren Cracksucht entkam, fing er an, Filme zu drehen und ist heute BAFTA- und MTV-Award-Gewinner.
Garry (rechts), wie er sich selbst im Spiegel filmt

Garry Anthony Fraser hat in seinem Leben mehr Tod und Schmerz gesehen, als die meisten von uns in zehn Leben mitkriegen würden. Als Garry in den 1980ern in Muirhouse, einer Sozialbausiedlung nördlich von Edinburgh, aufwuchs, grassierten Heroin und AIDS—51 Prozent der dortigen Bevölkerung waren HIV-positiv.

Aufgewachsen umgeben von Drogen, Tod, Verbrechen und einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit, geriet Garry schon in sehr jungen Jahren in Schwierigkeiten. Seine Eltern kamen nicht mit ihm klar, und so verbrachte er acht Jahre seines jungen Lebens damit, durch unfassbare 36 Heime gereicht zu werden. Er erfuhr in vielen davon körperlichen und sexuellen Missbrauch, kann sich nicht mehr erinnern, wie viele Freunde er an Drogen und Gewalt verlor, und war süchtig nach Crack.

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Heute ist Garry nicht nur clean und gesetzestreu, sondern auch ein mit dem BAFTA und MTV-Award ausgezeichneter Regisseur. Die „Dokuversion von Trainspotting", ist Everybody's Child, der letztes Jahr erschien, ein Zeugnis von Garrys Vergangenheitsbewältigung, ein Film, der randvoll mit Schmerz, Leid und Kummer ist. Doch es ist Garry selbst—eine fest entschlossene, leidenschaftliche Person, die offensichtlich an die Macht der Kunst glaubt, Menschen zu verändern—der dieser Doku Biss und Schwung verleiht.

Ich wollte unbedingt mehr über sein Leben erfahren, also traf ich mich mit Garry.

Garry am Drehort

VICE: Hi, Garry. Was sind deine frühesten Erinnerungen an deine Kindheit in Muirhouse?
Garry Anthony Fraser: Oh, fuck, ich weiß nicht. Dort aufzuwachsen hieß, dass alles normal war—Drogendealen war normal, Polizeigewalt war normal, jede Woche von der Polizei verprügelt werden … ich dachte einfach, das sei normal. Erst als ich aufs College ging, wurde mir langsam klar, dass nicht alle schon mal angestochen wurden oder Leute verloren haben. Ich wuchs von Tod umgeben auf—ich war an den Tod gewöhnt. Wenn man sich erst an den Tod gewöhnt hat, dann bekommt man eine ganz andere Sicht aufs Leben, weißt du?

Ich wuchs mit der Erwartung auf, dass mein Leben ein Gefängnis ist. Ich glaubte nie etwas anderes. Ich dachte, es sei ein Gefängnis. Ich dachte, mein Leben ist schon bestimmt. Muirhouse war eine Gegend, die total vom Rest abgeschnitten war, und ich glaube nicht, dass es die Regierung einen Scheißdreck interessierte, wenn dort jemand starb.

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Wann hast du gelernt, was AIDS ist und was für Auswirkungen es auf dein Viertel hatte?
Ich hab davon während meiner Jugend gehört. Jedes mal wenn ich im Gefängnis war oder in der Jugendstrafanstalt oder im Sicherheitstrakt, sagten die Leute „AIDS—blablabla", und sie hatten diese ganzen abfälligen Bezeichnungen für AIDS, also kannte ich das Stigma schon in gewisser Weise. Es ging herum, aber erst als ich am College von meiner Suchtberaterin Steph von den Todeszahlen erfuhr, wurde mir klar, dass es nicht richtig ist—dass etwas getan werden muss.

Die Statistiken über HIV-Positive in Muirhouse zur damaligen Zeit sind furchterregend.
Es war Wahnsinn. Wenn du mit einer Nadel erwischt wurdest, dann war das im Grunde, als hätten sie dich mit Heroin erwischt, also fingen alle an, Nadeln zu teilen. Da waren 30 Leute in einem Haus, die sich eine einzige Nadel teilen. Deswegen kam es zu der Epidemie—und deswegen wurden die ganzen Fixerstuben eröffnet.

Der Trailer zu Everybody's Child

Wann wurden Drogen zu einem Teil deines Lebens?
Als ich etwa 11 war. Ich fing einfach an, zu verkaufen—Acid, Speed, Hasch, was auch immer ich in die Finger bekam. Mit 14, 15 war ich in Sicherheitstrakten—ich war eingesperrt mit Lebenslangen, Vergewaltigern … die ganze Scheiße, seit ich zehn Jahre alt war. Diese kriminelle Mentalität sickerte in mein Gehirn. Als ich mit 16 rauskam, dachte ich: „Fuck it: Das hier ist ein Gangsterleben, es ist ein Gangstertod, das ist es, was ich bin." Als Garry Jay [Garrys Sohn] geboren wurde, war das eine große Veränderung—ich wusste nur, dass sich etwas ändern musste, sonst würde ich lebenslang sitzen.

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Du hast letztendlich für die türkische Mafia gedealt. Wie kam es dazu?
Ich dealte dort oben Heroin und es war der letzte Dreck—zu Tode gestreckt. Ein Typ, der jetzt tot ist—und der 15 Jahre im Knast war—war der reine Gangster, und er nahm mich mit runter nach London, um mich vorzustellen. Dann tauchte ich bei anderen auf dem Radar auf. Ich dachte irgendwie, das sei mein Schicksal—in einem BMW durch die Gegend rollen. Aber es war alles falsch; es war Unsicherheit, aber das wusste ich zu dem Zeitpunkt nicht.

Und wie hörte das alles auf?
Der 11. September. Ich saß in meinem Haus, zählte bündelweise Geld, und dann sah ich die Nachrichten und diese Flugzeuge, die in die Türme fliegen. Ab da versiegte der Heroinfluss einfach total. Das war's: Der Heroinpreis ging für etwa fünf Monate durch die Decke, weil die Leute, die es kontrollierten, die Lieferung stoppten. Das setzte meinen Deals, wo ich mit den Türken nach London runterreiste, ein Ende; dann, mit 25, fingen ein paar Sachen an zu passieren, über die ich nicht wirklich sprechen kann, und ich dachte: „Ich werde bald umgebracht, ich kann es spüren." Als Garry Jay geboren wurde, hörte ich mit dem Dealen auf, denn ich wollte nicht, dass die Drogenfahnder kommen. Das ist ein paar Mal passiert, dass die bewaffnete Einheit und die Drogenfahnder das Haus hochgenommen haben—aber ich dealte nicht und hab versucht, an ein Rezept zu kommen. Das war der Punkt, an dem ich zu einem richtigen Rezeptjunkie wurde.

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Garry in Muirhouse

Und das ist ein Teufelskreis, dem man nur schwer entkommt.
Das ganze System ist manipuliert, von oben bis unten. Die Pharmaunternehmen sind die größten Drogendealer, die es gibt. Ich war schon auf Valium, Dihydrocodein, Methadon—selbst das wird irgendwann zu viel, wenn man jeden Tag zum Apotheker rennt und kein Geld verdient. Ich schrieb, während ich auf dem Zeug war. Ich hab am College mein Higher National Diploma bestanden, während ich auf dem Zeug war. Ich kann mich kaum an einen verfickten Tag meiner Collegezeit erinnern. Offensichtlich hab ich bestanden, ohne dass ich schulische Bildung gehabt hätte, und das gab mir einen Identitätssinn. Mein erster Film, In For Life, wurde mit einem MTV-Award ausgezeichnet, und ich reiste nach London und so, und ich dachte mir: „Doch, ich mag diesen Lebensstil. Das hier bin ich." Bildung hat mein Leben gerettet.

Warum hast du dich dazu entschieden, Everybody's Child zu drehen?
Ich sah ein Video namens Heroin, eine dreiteilige Fernsehdoku von 1986. Ich war mit den Typen in dem Film aufgewachsen, und zu dem Zeitpunkt wusste ich nicht, dass die meisten von ihnen AIDS hatten. Erst als ich am Ende der Doku angekommen war, dachte ich: „Fuck—niemand in der Doku wusste, dass sie AIDS hatten, sie haben einfach über Heroin geredet."

Ich fragte mich, ob ich ein Follow-up machen könnte—das war meine anfängliche Idee. Und weil ich finde, dass ich eine moralische Verpflichtung habe, wenn ich Filme mache, dachte ich: „Das ist eine Herzensangelegenheit für mich." Also wollte ich anfangs eine Doku darüber drehen, warum Muirhouse sowas wie die AIDS-Hauptstadt Europas ist. Ich wollte anfänglich mein Leben gar nicht einbringen, denn als Regisseur dachte ich mir: „Heb' dir dein Zeug für Spielfilme auf, Garry. Verbrauch das hier nicht alles auf einmal." Aber bei der Doku konnte ich nichts Halbherziges machen, und sobald mir klar wurde, welchen Dingen ich mich stellen musste, sagte ich: „Fuck it, gehen wir's an."

Wie haben du und Irvine Welsh einander kennengelernt und angefangen, zusammenzuarbeiten?
Ich war auf Twitter und brauchte Ausgangsstoff für einen neuen Film, und ich dachte: „Fuck it, ich frag' Irvine Welsh, der ist aus Muirhouse, der versteht das vielleicht." Ich schrieb ihm eine Nachricht und bat ihn um eine seiner Kurzgeschichten, um einen Film daraus zu machen, und er sagte: „Ja, natürlich." Irvine wird bei meinen nächsten Filmen als Produzent an Bord sein. Ich traf mich mit ihm in Edinburgh und er gab mir einen Stapel signierter Bücher für die Jugendlichen in meinem Social Business. Ich glaube nicht, dass schon mal jemand wie ich sich Irvines Werk vorgenommen hat; wenn jemand wie Danny Boyle seine Arbeit verfilmt, dann muss er alles recherchieren, ich hingegen weiß es—es ist mein Leben. Deswegen kann ich es auch kaum erwarten, das alles zum Leben zu erwecken. Die Geschichte heißt „State of the Party". Das wird mein nächster Schritt vor meinem Spielfilm, Tolerance, der mein Aushängeschild wird und 2016 erscheinen soll.

Danke, Garry. Garry sucht momentan nach Investoren und Gleichgesinnte, die sich an seinem Social Business beteiligen wollen, „um den Stummen durch Kunst eine Stimme zu geben." Bei Interesse kannst du ihn hier kontaktieren: www.wideomedia.org.