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Popkultur

Wie wegen einem einzelnen Kleid das Internet farbenblind wurde

Während ihr geschlafen habt, war drüben in den USA Dressgate, bei dem es darum geht, ob ein hässliches Schlauchkleid Schwarz/Blau oder Gold/Weiß ist. First-World-Problems haben gerade eine neue Dimension erreicht.

Während ihr geschlafen habt, war drüben in den USA gerade Dressgate. Dabei geht es um das ziemlich überbelichtete Foto eines Kleides, das mit dem Begleittext „Woah wow wow!" ins Netz gepostet wurde und kurz darauf einen unerwartet handfesten Streit darüber ausgelöst hat, ob der Kleidungsschlauch nun eher Schwarz/Blau oder doch Gold/Weiß ist.

Das ist aus zwei Gründen der komplette Wahnsinn. Erstens eröffnet es eine völlig neue Dimension an First-World-Problems und lässt uns an so ziemlich jedem einzelnen Fall zweifeln, in dem wir in der Vergangenheit diesen Begriff angewendet haben. Und zweitens ist es das wahrscheinlich erste Mal in der Geschichte, dass eine Debatte, die nicht tagebuchvergleichende US-Teens beschäftigt, von Tumblr ausgeht. Das letzte Mal, als ein virales Netzphänomen nicht auf 4chan oder Reddit seinen Anfang genommen hat, war mit ziemlicher Sicherheit zu einer Zeit, als man unter „soziales Medium" noch die Parteizeitung der SPÖ verstanden hat.

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Was mich auch dazu bringt, dass Farben (und Diskussionen über sie) natürlich immer schon politisch waren. In unserer heutigen Parteienlandschaft sind politische Kennfarben genauso wichtig für Identitätsbilder und Beschimpfungen wie in den Wappen früherer Fürstentümer und Königreiche. Ein Grund, warum die Alarmglocken der Inka nicht viel früher geläutet haben, als die Konquistadoren in Peru ihre Goldschätze einschmelzen ließen, war, weil diese ihre wertvollen bunten Kleider in Ruhe ließen. Die Farbe in den peruanischen Herrschaftsgewändern kam von der Purpurschnecke und war viel außergewöhnlicher und seltener als Gold.

Aber natürlich geht es beim Dressgate weniger darum, wofür die Farben stehen, sondern—wie bei fast allen weltbewegenden Netz-Phänomenen—darum, was das eigentlich mit uns vor dem Bildschirm zu tun hat. Das erkennt man alleine schon daran, dass ein Kleid, das aussieht, als würde auf dem Etikett „Ripped for her pleasure" stehen, in der ganzen Debatte kein einziges nicht für sein Aussehen gedisst wird.

Innerhalb weniger Stunden hat das Kleiderfoto Photoshop-Analysen und wissenschaftliche Aufarbeitungen nach sich gezogen und zu einer bunten Palette an genauso bunten Verarschungen geführt.

Instagram-Foto von Miley Cyrus

In der Zwischenzeit ist eigentlich auch schon geklärt, welche Farben das Kleid wirklich hat. Aber das ist natürlich längst nicht mehr der Punkt. Klar lässt sich ein einfaches Foto schnell entzaubern, wenn Herr Schlau mit seiner „Wissenschaft" und dieser ominösen Sache namens „Recherche" ankommt.

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Aber ein kleines Redaktions-Experiment zum Arbeitsbeginn hat uns heute gezeigt, wie Leute reagieren, die das Bild zum ersten Mal sehen (weil sie offenbar seit gestern Nacht mit Scheuklappen an jedem Smartphone-Screen vorbeigelaufen sind und sich anscheinend nur auf die echte Welt konzentriert haben).

Phase 1: Man hört von Dressgate und wundert sich über so viel Dummheit.
Phase 2: Man googlet wie wahnsinnig nach dem Viral, das man verpasst hat und sagt irgendwas von wegen, als müsse auch nicht bei jedem Scheiß mitmachen.
Phase 3: Man sieht das Bild, sieht weg, sieht das Bild noch mal an und fragt—nicht ganz rhetorisch und in sehr bestimmtem, lautem Ton—, ob eigentlich alle anderen hier Idioten sind und wie man nur irgendetwas anderes als [eigene Wahrnehmung einsetzen] sehen kann.

Wahrscheinlich ist Dressgate in 6 Stunden wieder vergessen. Oder aber es führt zu einem neuen DIY-Trend, bei dem sich Hausfrauen den Spitzenrand ihrer Tischdecken auf die angestaubten Schlauchkleider nähen und Falschfarben-Selfies von sich bei furchtbaren Boutique-Flashmobs machen. Die Sache mit dem Internet ist, dass man es nie mit Bestimmtheit weiß.

Aber selbst, wenn Dressgate die Halbwertszeit eines Tumblr-Posts nicht übersteigen sollte, hat es uns an eine essentielle Sache erinnert: Wahrnehmung ist nicht diplomatisch. Wenn unser Gehirn uns erzählt, das eine Sache so und nicht anders ist, glauben wir ihm das—egal, wie neurotisch es uns wirken lässt.

Das Dressgate-Foto ist das Netz-Äquivalent zum „Hexe mit Warzennase oder junge Frau mit Federboa?"-Kippbild. Es ist auch das ultimative Ego-Viral, das uns sanft am kognitiven Gaumenzäpfchen kitzelt und uns alle über unser „Ich seh, ich seh" über die Welt kotzen lässt. Und vor allem ist es der Anlass für diesen ziemlich schönen Tweet, der Dressgate hoffentlich überdauern wird und natürlich auf viel mehr Ebenen als nur bei der Farbwahrnehmung falsch, aber trotzdem sehr, sehr richtig ist.

what if black people have been gold this entire time

— eli (@uhh_elijah)February 27, 2015

Erklärt Markus auf Twitter, welche Farben ihr seht: @wurstzombie