FYI.

This story is over 5 years old.

News

Dzhohar Tsarnaev ist unschuldig!

Das meinen zumindest rund 40 Mitglieder der tschetschenischen Community in Wien und riefen deshalb gestern zur Demo.

FOTOS VON KURT PRINZ

Als wir heute Nachmittag an den fünf Polizisten hinter der Absperrung in Richtung Amerikanische Botschaft vorbeispaziert sind, hätten wir vielleicht noch einmal kurz nachdenken sollen. Seit dem Bombenanschlag auf den Boston-Marathon vor 10 Tagen sind Rucksäcke nicht einfach nur Rucksäcke, auch wenn sich darin Foto- und Filmequipment befinden, und es ist eine ziemlich beschissene Idee, damit in Richtung US-Botschaft zu marschieren. Die Sicherheitsleute haben uns bei jedem Schritt gefilmt und wurden sichtlich nervöser, je näher wir dem Eingang des Gebäudes kamen. Auch als die Polizei schon unsere Ausweise kassiert und Daten aufgenommen hatte, hat die Anspannung auf der anderen Seite des Gitters nicht wirklich nachgelassen.

Anzeige

Auf der Straße vor der Botschaft hatten sich mittlerweile auch andere Journalisten zu den Polizisten gesellt, die genau wie wir wegen der angekündigten Demo für Dzhohar Tsarnaev gekommen waren. Dzhohar ist der 19-jährige Bruder von Tamerlan, und gemeinsam gelten sie als die Drahtzieher hinter dem Sprengstoffanschlag in Boston, bei dem 3 Menschen getötet und 264 verletzt wurden. Während Tamerlan in einer Menschenjagd, die der Verfolgung von OJ Simpsons in nichts nachsteht, erschossen wurde, ist Dzhohar seit 20. April in Polizeigewahrsam. Der Junge, der auf den ersten Blick ein Indie-Poster-Boy sein könnte, hat kein Recht auf einen Anwalt und laut Behörden auch schon gestanden, gemeinsam mit seinem Bruder den Anschlag aus politischen und religiösen Motiven verübt zu haben.

Die Demo, zu der vereinzelt junge Männer eintrudeln, soll von der tschetschenischen Community in Wien organisiert worden sein. Genau ist das nicht zu sagen, denn es gibt mehrere FB-Events zu der Demo. Eines wurde gestern schon gelöscht, andere, aktuellere haben 15 oder 37 Zusagen. Angelegt wurden sie mit einem fiktiven FB-Profil unter dem Namen Dzhohar Tsarnaev Chechen. Dieses existiert schon seit 2010, Urheber oder Betreuer sind jedoch nach wie vor unbekannt.

Bereits am Montag wurde dort auf Deutsch der Aufruf für eine Kundgebung vor der Botschaft der USA gepostet, um sich solidarisch mit dem jungen Dzhohar zu zeigen. Auch SMS mit denselbem Inhalt sind verschickt worden: Die Brüder seien unschuldig, ein Zeichen der Solidarität müsse gesetzt werden. Die Tatsache, dass diese SMS auf Deutsch verfasst waren, macht viele der mittlerweile rund 30 Anwesenden besonders stutzig. Das Misstrauen ist auf beiden Seiten der Absperrung ziemlich groß.

Anzeige

Das Internet hat unsere Wahrnehmung extrem verändert. Wenn man Katzen und lachende Pandas beiseite schiebt, haben wir auf einmal Zugang zu allen Informationen der Welt, egal ob richtig oder falsch. Schon bevor das FBI die Bilder der Überwachungskameras veröffentlicht hat, die die beiden Attentäter beim Platzieren der Bombe zeigen sollen, wurden auf Reddit fieberhaft Unmengen an Fotomaterial nach Hinweisen durchsucht und sogar minutiös Jagd auf das Blut der Attentäter gemacht.

Gleichzeitig meldete CNN eine Verhaftung, obwohl die Behörden noch weit davon entfernt waren. Und die Holzklasse-Medien konnten nicht zwischen dem Urheber eines Fotos auf Twitter und einem tatsächlichen Tatverdächtigen unterscheiden. Zusätzlich zur Unmenge an scheinbaren Beweisfotos, die wie ein niemals versiegender Wasserfall aus Scheiße über uns hereinprasseln, haben wir dank Social Media erstmals direkten Zugang zu den Attentätern. Als ich Dzhohars Twitter-Profil das erste Mal gesehen habe, das bezeichnenderweise am 17. April endet, hat es mir den Atem geraubt. Dr Dre Zitate, deppates Herumscherzen mit Hawarern und Kommentare zu den Serien, die auch ich regelmäßig schaue, bestimmen den Twitter-Account, der ebenso meiner sein könnte. The Guardian titelte sogar "Skateboarding, Marijuana … and Jihad" und zwei der drei Eigenschaften beschreiben mich mindestens genauso gut wie Dzhohar.

Die Tschetschenen, die hier herumstehen und eigentlich gar keine Tschetschenen sind, sondern Österreicher, sind großteils unter 20 Jahre alt und geben vor, Mohammed oder Ali zu heißen. Das entspricht unseren Klischees und sie fühlen sich etwas sicherer, obwohl Vertreter von Verfassungsschutz und Botschaft vermutlich sowieso alles dokumentieren (so viel mein Beitrag zum Thema Verschwörungstheorie). Sie sind der Meinung, dass der Anschlag inszeniert wurde und die Tsarnaev-Brüder nur als Marionetten im Spiel der großen Weltmächte zwischen die Räder geraten sind. Manche glauben, die Amerikaner hätten alles selbst geplant, andere wiederum geben Putin und der bevorstehenden Olympiade die Schuld. Als Erklärung muss einmal der Rauch bei der Explosion herhalten, dann verschiedenste Fotobeweise oder wenig beweiskräftige YouTube-Videos.

Anzeige

Als die Gruppe endlich die kritische Masse von ungefähr 40 erreicht hat, beginnt man sie umzugruppieren, um auch fürs Fernsehen ordentliche Bilder abzugeben, die ihr vielleicht in den Abendnachrichten gesehen habt. Oder auch nicht – weil die ganze Aktion zu wenig reißerisch war, als dass sie groß im Fernsehen gebracht worden wäre. Manche Reporter haben auch schon etwas enttäuscht aufgegeben, als noch zwei junge Frauen in Burkas und mit Sonnenbrillen auftauchen und ein Transparent entrollen, auf dem „Die wahren Terroristen sitzen im weißen Haus!!!! Das Land der permanenten Lüge: Amerika!!!“ steht.

Ein Fotograf von der Kronen Zeitung dirigiert sie genervt an den richtigen Ort, vor die Polizei und die Botschaft, damit das Foto auch stimmig ist. Schlussendlich präsentieren drei Frauen auch noch ihre Botschaft den Kameras. Wieder wird mit zum Teil absurden Argumenten die Unschuld der vermeintlichen Terroristen betont, gleichzeitig kommt aber auch die echte Angst und Betroffenheit der Frauen durch. Die Jüngste, die auch als Übersetzerin für die beiden älteren fungiert, erzählt, dass sie Angst habe, sie könne die nächste sein, die über Nacht zum Terrorverdächtigen erklärt wird und am Morgen schon tot ist.


MEHR ZUM THEMA

Die widerlichsten Versuche, Profit aus dem Anschlag von Boston zu ziehen
Es gibt Internetseiten, Nachrichtenagenturen und Blogger, die mit irrelevanten und bezuglosen Top-Ten-Listen Geld aus dem Terror schlagen wollen.

Dzhokhar Tsarnaevs VK-Profil ist vermutlich der verstörendste Ort im Internet
Auf der VKontakte-Profilseite — sowas wie das russische Facebook — des mutmaßlichen Attentäters von Boston werden die widerlichsten Dinge gepostet.

Eine Messe, bei der man nur Anti-Terror-Zeug kaufen kann
Nach Terroranschlägen wie zuletzt jenem in Boston boomt immer auch das Geschäft mit der Terror-Abwehr.