FYI.

This story is over 5 years old.

Stuff

Wir haben stereotype Meinungen über Bettler unter die Lupe genommen

Wir haben einer Expertin plakative Aussagen von Passanten vorgelegt und sie gebeten, diese zu analysieren.

Betteln ist ein Thema, zu dem fast jeder eine Meinung zu haben scheint. Die einen verteidigen es und sehen es klar als Grundrecht, die anderen fühlen sich durch Bettler im Stadtbild gestört, bedrängt oder stellen es in Zusammenhang mit kriminellen Strukturen. Vor allem, wenn es um jene Bettler geht, die aus osteuropäischen Ländern stammen—speziell Rumänien und Bulgarien— fallen die Meinungen vieler erstaunlich emotional und heftig aus.

Anzeige

Annika Rauchberger engagiert sich seit Jahren für die Rechte von Bettlern, kennt viele persönliche Schicksale, hat bereits längere Zeit in einer Region Rumäniens gelebt und gearbeitet, aus der viele der eingewanderten Bettler hierzulande stammen, und spricht daher auch fließend Rumänisch. Sie ist Teil der Bettellobby Wien, einem Netzwerk, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, auf die Situation von Bettlern in Österreich aufmerksam zu machen, Betroffenen (nicht nur) in Notsituationen persönlich zu helfen, und sie unter anderem mit Öffentlichkeitsarbeit und Rechtsbeistand zu unterstützen.

Für diesen Artikel haben wir Annika einige besonders plakative Aussagen von Wiener Passanten vorgelegt, mit denen wir uns zuvor über das Thema Betteln unterhalten und sie nach ihrer persönlichen Meinung dazu befragt haben. Wir haben Annika gebeten, ihre Sichtweise und ihr Hintergrundwissen zu diesen Aussagen zu erläutern.

„Mich stört das Betteln, weil ich davon ausgehe, dass das nicht der eigene Wille dieser Leute ist."

Annika Rauchberger: „Ich denke, das ist eine ganz häufige und klassische Aussage übers Betteln. Oft ist es aber auch einfach eine gute Ausrede, um sich selbst vom schlechten Gewissen zu befreien. Viele Leute bei uns können einfach nicht mit der Existenz von Armut umgehen.
Vor allem in Rumänien habe ich jedoch schon auch Fälle erlebt, in denen Menschen zum Betteln hergerichtet wurden—wenn man mit jungen Bettlern aus Rumänien spricht, die hier leben, merkt man aber meistens schnell, dass sie eigentlich gerne arbeiten würden.
Ganz freiwillig ist das aber Betteln ohnehin nie—die Leute sind natürlich oft aufgrund der schlechten ökonomischen Situationen in ihren Heimatländern dazu gezwungen. Und sie betteln ja nicht, weil sie gerne betteln, sondern weil sie hier keinen Zugang zum Arbeitsmarkt haben. EU-BürgerInnen haben hier de facto keinen Anspruch auf Wohnungen, auf Sozialversicherung oder Gesundheitssystem. Dazu kommt, dass die meisten von ihnen sehr schlecht ausgebildet sind. Betteln und Prostitution sind so oft die einzigen Möglichkeiten, um an Geld zu kommen."

„Man merkt schon, dass die Bettler mehr und mehr werden."

Foto: Alve Gaspar/Wikimedia/CC 3.0

„In der Stadt Wien gibt es keine offiziellen Zahlen zu der Anzahl der Bettler—ich glaube, in Salzburg gibt es beispielsweise welche. In Wien aber weigern die Behörden sich, konkrete Zahlen zu nennen, oder auch Recherchen dazu zu betreiben. Die ganze Thematik um die Bettelmafia und die vermeintlichen Massen an Bettlern ist hier schon so aufgeblasen—würde jetzt herauskommen, dass es doch gar nicht so viele Bettler sind, wären das all die Polizeimaßnahmen, die es gegen das Betteln gibt, nicht mehr gerechtfertigt.
Zu unseren Bettellobby-Treffen kommt eine konstante Anzahl an Leuten, mittlerweile sind das eigentlich immer die selben. Wenn man durch die Stadt geht und bewusst darauf achtet, merkt man, dass das eigentlich fast immer die gleichen Leute sind, die an ihren Plätzen sitzen. Ich denke nicht, dass man hier davon reden kann, dass die Massen kommen.
Was auch kaum erwähnt wird: Es kommen viele Rumänen nach Wien, die aber arbeiten—vor allem im Pflegesektor—und trotzdem in prekären Verhältnissen leben. Nur sieht man die viel weniger. Bettler sind eben im öffentlichen Raum anzutreffen, deswegen nehmen wir sie häufiger wahr. Der Öffentliche Raum ist aber auch so etwas, wie die Visitenkarte einer Stadt, und dementsprechend störend nehmen manche Leute die Bettler wahr."

Anzeige

„Ich denke, dass da meistens kriminelle Machenschaften im Hintergrund sind und man den Bettlern nicht gezielt helfen kann."

„Da kommen wir zum Stichwort Bettelmafia. Die österreichische Polizei versucht seit Jahren eine Bettelmafia und Bettelsyndikate aufzudecken, hat aber bis heute keinen dieser ominösen Hintermänner gefunden. Da wurde teilweise massiver Aufwand betrieben—mit eigener Bettlerinnen-Streife, auch in Salzburg gab es massive Kontrolle. Niemand wurde gefunden. Ich kann trotzdem nicht ausschließen, dass es solche Fälle gibt. Der Großteil der Bettler bei uns ist jedoch hier, weil es für sie keine andere Alternative gibt.
Wären die Bettler Opfer von Menschenhandel, müssten sie aber geschützt werden, Wohnungen bekommen, Opferschutz müsste gewährleistet werden. Letztendlich werden aber nicht die vermeintlichen Hintermänner kriminalisiert, sondern eben die Bettlerinnen selbst."

„Wenn Kinder betteln, geht das für mich gar nicht."

Foto: Lori Scott/Wikimedia/CC 2.0

„Da muss ich sagen: Das finde ich persönlich auch sehr verwerflich. Betteln mit Kindern ist in Österreich verboten. Im Stadtpark habe ich das früher persönlich auch öfter erlebt. Mittlerweile habe ich aber schon sehr lange keine bettelnden Frauen mit Kindern mehr gesehen—ich denke, das kommt hier kaum noch vor. Wenn Frauen doch mit kleinen Kindern unterwegs sind, dann leider auch oft aufgrund des Betreungsmangels oder fehlendem Zugang zum Kindergarten.
Bei älteren Kindern, die selbst betteln, ist es oft ein ähnliches Problem, das wird hier oft vergessen: Der Zugang zu Bildung und Schule ist in den Herkunftsländern nicht immer gegeben, vor allem wenn die Leute aus ländlichen Regionen kommen."

Anzeige

„Die rumänischen und bulgarischen Bettler sind fast immer mindestens zu dritt unterwegs, wenn ich sie sehe. Das ist Bandenbildung, und wirklich schrecklich."

„Die Leute, die hier betteln, sind oft in Familienverbänden da. Es ist eben eine eher neue Entwicklung, dass da eben ganze Familien zusammen hierher kommen. Im öffentlichen Raum sind sie oft massiven Repressionen—auch seitens der Polizei—Beschimpfungen und auch Gewalt von Passantinnen ausgesetzt. Da schaut man einfach aufeinander. Das, was von den Leuten als organisiertes Betteln in Banden beschrieben wird, ist oft nichts anderes, als ein aufeinander Achten der Bettler und reiner Selbstschutz."

„Man braucht ja nur die Zeitung aufzuschlagen. Das ist ja schon berufsmäßiges Betteln—da bin ich strikt dagegen."

„Schwierig, zu beurteilen, weil bei dieser Aussage nicht definiert ist, was mit „berufsmäßigem" Betteln gemeint ist. Das, was da vermutlich gemeint ist, nennt die Polizei gewerbsmäßiges Betteln. Alle Fälle, bei denen wir Leute unterstütz haben, die beschuldigt wurden, gewerbsmäßig zu betteln, haben wir gewonnen. Vor Gericht lässt sich der Vorwurf des gewerbsmäßigen Bettelns sehr leicht anfechten, wenn der Beschuldigte klar macht: Ich bin hier um Arbeit zu suchen, und das ist momentan meine einzige Möglichkeit, irgendwie an Geld zu kommen."

„Ich versuche das Betteln nicht zu fördern. Ich denke nicht, dass das Geld da nicht an die richtige Stelle kommt—würden diese Menschen soziale Unterstützung kriegen, wäre mir das lieber."

„Diese Leute bekommen aber keine sozialen Unterstützungen, sie haben keinen Anspruch auf offizielle Hilfen irgendeiner Form. Und das Geld, das man den Bettlern gibt, wird sehr wohl sinnvoll verwendet—eben für Kleidung, Essen, Mieten. Die Idee vieler Leute und Politiker, dass Bettler Kleidungs- und Essenmarken bekommen sollten, finde ich beispielsweise absolut sinnlos, einfach, weil die Menschen so nicht mehr über sich selbst bestimmen können und in einem ständigen Abhängigkeitsverhältnis sind."


Titelbild: Joe Mabel/Wikimedia/CC 3.0