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Eine Schießerei im Jahr macht Wien noch lange nicht zum Ghetto

Nach der Schießerei, die am Sonntag in einer Bim im 15. Gemeindebezirk einem Mann das Leben kostete, nutzen viele die Chance um gegen kriminelle Ausländer in Wien und den Verfall mancher Stadtteile zu wettern. Das ist Blödsinn.

Screenshot via kurier.at

Es gibt Dinge, die wiederholen sich in Wien in großen, aber regelmäßigen Abständen. Beispiel: Etwa ein- oder zweimal im Jahr passiert ein wirklich aufsehenerregendes, kapitales Straßenverbrechen, das von Medien aufgegriffen und in Folge häufig aufgebauscht wird—vor allem dann, wenn es von Asylwerbern oder Migranten begangen wurde.

In der Regel machen sich dann einige Selbstberufene daran, diese Einzelfälle so darzustellen, als wären sie nur ein weiteres Beispiel für den Verfall der Außenbezirke und den Aufstieg von kriminellen Migranten oder einer Art Mafia, die wahlweise aus dem arabischen Raum, aus dem Balkan oder dem restlichen Osteuropa stammt und Wien zu einem Pflaster der Bandkriminalität und allgegenwärtigen Gewalt macht. Die ganz Radikalen fordern in Folge eine Rückführung aller, die aus dem jeweiligen Land kommen. Aber auch in gemäßigteren Lagern wird ganz ernsthaft diskutiert, wie gefährlich manche Gegenden von Wien mittlerweile sind.

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Letztes Jahr war das beispielsweise nach dem Handgranaten-Mord in Ottakring der Fall. Jetzt haben wir ein neues Beispiel dafür. Am vergangenen Sonntag kam es in einer Bim bei der Straßenbahnstation Johnstraße im 15. Bezirk zu einer Auseinandersetzung zwischen mehreren Männern, die aus dem Kosovo stammen. Nach einem lautstarken Streit zog einer der Männer eine Waffe und eröffnete das Feuer auf zwei der anderen Kosovo-Albaner in der Bim. Einer der Männer wurde dabei tödlich verletzt, der andere überlebte mit schwersten Verletzungen. Zudem traf eine Kugel eine unbeteiligte 19-Jährige, die ebenfalls in der Straßenbahn saß, ins Bein. Der Täter und ein zweiter Mann flüchteten vom Tatort, die Polizei fahndet aktuell nach ihnen.

Die Boulevard-Blätter des Landes hängen die Geschichte aktuell daran auf, dass es sich bei Tätern und Opfern um Asylwerber handelt. Offensichtlich deutet viel darauf hin, dass es sich um einen geplanten Mord handelt. Und in den Kommentar-Abteilungen der Boulevard-Medien nutzen die Leser die Chance und lassen ihrer Paranoia freien Lauf:

Es dauert nicht lange, da schaltet sich auch die FPÖ ein, ortet in Folge „kriminelle Orgien" und fordert in einer eigenen OTS-Meldung Mittel zur Aufrüstung der Wiener Polizei.

Es ist ja nichts Neues, dass von Migranten oder Asylwerbern begangene Schwerverbrechen von Medien, rechtspopulistischen Parteien, als auch von ganz einfachen Bürgern genutzt werden, um gegen Migration und Ausländer zu wettern. Das aktuelle Beispiel zeigt aber besonders gut, wie ein einzelner Zwischenfall genutzt werden kann, um ein realitätsfernes Bild von einer Ghettoisierung bestimmter Teile Wiens zu zeichnen. Und die Ironie ist, dass dieses vermeintliche Desaster im selben Zuge den Zugewanderten zugeschrieben wird.

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Nur um es klar zu sagen: Dass auf Menschen in Wien quasi auf offener Straße geschossen wurde, ist verdammt noch mal furchtbar, und ich bin der letzte, der eine Schießerei mitten in Wien kleinreden will. Wie jeder Mensch, der halbwegs bei Trost ist, hoffe ich, dass die Polizei die Täter so schnell wie möglich aufspürt und aus dem Verkehr zieht. Keiner will Sonntag abends in eine Bim steigen und sich in einem Kugelhagel wiederfinden. Aber so zu tun, als würden solche Verbrechen in manchen Wiener-Stadtteilen langsam zum Alltag werden, und man Gegenden wie Rudolfsheim nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr durchqueren können, ohne ernsthaft um sein Leben bangen zu müssen, ist ganz einfach Blödsinn.

Ein Verbrechen wie das vom Sonntag in Wien als eine Ausnahme zu bezeichnen, wäre dabei fast noch untertrieben. Eben deswegen ist es ja eine Geschichte, die riesengroß in den Schlagzeilen steht: Tatsächlich passiert ein Zwischenfall solchen Ausmaßes hier so gut wie nie. Und auch, wenn es uns oft nicht bewusst ist, weil wir in einem der sichersten Länder der Welt aufgewachsen sind: Diese Tatsache unterscheidet Wien von den meisten Millionenstädten.

Schießereien und Morde stehen in Wien nach wie vor alles andere als auf der Tagesordnung. Sie werden auch nicht immer häufiger. Statistisch gesehen ist sogar das Gegenteil der Fall. Sieht man sich beispielsweise die Mord-Statistik des letzten Jahres an, waren es in Wien gerade einmal neun Menschen, die durch einen Mord ums Leben kamen, und damit weniger als jemals in der jüngeren Geschichte der Stadt.

Kritiker argumentieren zwar, dass die extrem niedrige Quote durch einen starken Rückgang an Obduktionen verfälscht sein könnte, und durchaus eigene Tötungen in der Statistik übersehen werden. Aber selbst diese kritischen Stimmen gehen davon aus, dass es jährlich womöglich 30 Morde sind, und auch dann hat man immer noch keine Zahl, bei der man in einer Stadt mit 1,7 Millionen Einwohnern von chaotischen oder mörderischen Zuständen sprechen könnte. Dass Wien nach wie vor nicht Chicago geworden ist, muss ich hoffentlich gar nicht erst vorrechnen, weil es absurd ist. In Chicago wurden 2014 laut offizieller Statistik 432 Menschen ermordet. Es ist sogar tatsächlich so, dass dort an einem Tag teilweise mehr Menschen umgebracht werden, als in Wien im ganzen Jahr. Dazu kommt, dass in Wien (laut Statistik) so gut wie alle Morde polizeilich aufgeklärt werden können.

Die Tötungsdelikte, die dann doch stattfinden, sind im Übrigen nur in wenigen Fällen irgendwelchen organisiert kriminellen Gangstern oder einer „Balkan-Mafia" zuzuschreiben. Der allergrößte Teil der Morde in Österreich—etwa 70 Prozent— findet nämlich innerhalb von Familien statt. Der häufigste Schauplatz für Morde sind demnach immer noch die eigenen vier Wände und nicht die Straßenecken der vermeintlich so gefährlichen Migrantenviertel, an denen man von wildgewordenen Asylwerbern abgepasst wird. Ich will damit aber nicht sagen, dass das Zusammenleben nicht in jedem Grätzl von Wien so reibungslos zugeht wie in der Inneren Stadt oder Hietzing. Die Stadt hat natürlich bessere und schlechtere Gegenden, und dass es in manchen Teilen des 10. oder 15. Bezirkes nicht gerade lieblich zugeht, ist auch kein Geheimnis. Trotzdem gibt es praktisch keine Viertel, das man nicht (zumindest als erwachsener Mann) auch zu nächtlicher Stunde durchkreuzen könnte, ohne Angst um sein Hab und Gut oder seine Gesundheit haben zu müssen—schon gar nicht aufgrund irgendwelcher dort hausierender „Migranten- oder Asylantenbanden". Auch in der berühmt berüchtigten Ottakringer Straße, die gerne mal als die gefährlichste Straße der Stadt dargestellt wird, werden die Leute nicht ganz nebenbei über den Haufen geballert. Selbst, wenn das von vielen Migrationsskeptikern gerne einmal so propagiert wird.

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