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The Hopelessness Issue

Einsam sterben

Alle ein bis zwei Tage stirbt in Österreich ein Mensch, ohne dass es irgendjemand bemerkt.

Ich sitze alleine in meinem Zimmer und es fühlt sich so an, als ob der Tod mein neuer Nachbar ist. Der alte Herr unter mir ist vor vier Wochen gestorben und ich habe nichts davon mitbekommen. Niemand hat etwas mitbekommen. Weder die Nachbarn daneben noch die darunter und eben schon gar nicht die darüber.

Nach langer Zeit der Verwesung wurde die Leiche schlussendlich doch entdeckt, weil einer der Hausbewohner gefunden hat, dass es komisch riecht und die Frau von gegenüber in der Wohnung schon ewig kein Licht gesehen hat. Ich wusste erst, was los war, als ich das Fenster zum Hof aufgemacht habe, um zu sehen, was die Polizei und die Rettung da zu suchen haben. Der Geruch war überwältigend und gar nicht süßlich. Eher wie ein Schlag mit der flachen Hand ins Gesicht. Mit Duftölen war da nichts zu machen. Es war in etwa so, wie man sich vorstellt, dass es während der Barockzeit gerochen haben muss: schwer, faulig, unverwüstlich und großzügig übertüncht mit ebenso wuchtigen Wohlgerüchen.

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In den Tagen danach war der Tod für mich omnipräsent. Wenn ein völlig vereinsamter Mensch in seiner Wohnung stirbt und ewig vor sich hin verwest, hat er niemanden, der ihm Gefühle nachwirft. Das Einzige, was er seiner Nachwelt hinterlässt, ist kaltes Grauen, das unbarmherzig an die eigene Sterblichkeit gemahnt, und einen riesigen Haufen Arbeit—angefangen von der Reinigung bis hin zu ungeahnten bürokratischen Kraftakten. Man fragt sich schließlich, warum ihn denn niemand früher gefunden hat, und wirft ihm am Ende sogar vor, dass er überhaupt gestorben ist. So kam es mir jedenfalls vor, als die Dame von der Hausverwaltung sich darüber beschwert hat, dass es Monate dauern wird, bis sie endlich wieder einen Mieter einquartieren können.

Laut Angaben der Polizei, die in meinem Fall arg nach Leiche gerochen hat, fördern mehr als zwei Drittel ihrer gewaltsam geöffneten Türen so einen alten, einsamen Menschen zutage. Der Rest sind Suizide, Drogentote, Unfälle und Gewaltverbrechen. Die Polizei nennt den Nachbarn eine „Faulleiche“. Etwa jeden zweiten Tag finden sie in Wien eine, manchmal mehrere. Meistens melden sich die Nachbarn, weil sie zu lange kein Lebenszeichen mehr wahrgenommen haben, wegen Geruchsbelästigung oder weil in Extremfällen die Leiche schon durch die Decke tropft. Die Polizei forscht dann erst einmal nach und stellt sicher, dass der Betreffende nicht im Krankenhaus oder am Ende noch auf Urlaub ist, und bricht dann erst die Tür auf.

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Ein Arzt, den sie zuweilen mitbringen, weil sie schon eine Vorahnung haben, bestätigt dann den Tod, oder—wenn sie Glück haben—doch eine ausgedehnte Reise nach Indien. Am einfachsten überprüft der Arzt Lebenszeichen wie den Puls oder die Pupillenreaktion und bei kürzlich Verstorbenen, ob die Leichenstarre schon eingesetzt hat oder noch anhält. Wenn es aber absolut offensichtlich ist, dass gar kein Leben mehr in dem Körper steckt, kann auch ein Polizist den Tod feststellen, wie zum Beispiel bei meinem Nachbarn. Dieser Fall war schnell klar, da leider auch nach vier Wochen niemand Sehnsucht nach ihm hatte und die Verwesung so weit voranschreiten konnte.

Bevor die Polizei nun irgendetwas tut, muss der Totenbeschau-Arzt aber noch feststellen, ob die Person durch Fremdeinwirkung oder eines natürlichen Todes gestorben ist. Er muss außerdem grünes Licht geben, dass die Leiche nicht infektiös ist. Typhusbakterien bleiben bis zu 3 Monate am Leben, aber der Sieger ist eindeutig Tuberkulose, die sich vereinzelt weit über ein Jahr halten kann. Wenn klar ist, dass es sich um einen natürlichen, nicht-infektiösen Toten handelt, sichert die Polizei die Wohnung. Das heißt, sie räumen den Kühlschrank aus, schaffen Verderbliches weg, bringen die Katzen von etwaigen verrückten Katzenladies zur Tierrettung, drehen die Heizung und offene Gasleitungen ab und sind sehr froh, wenn es keine Messie-Wohnung war. Das machen sie alles meistens noch, während der Leichnam im Haus ist. Dass es dabei stinkt, ist oft das kleinste Problem.

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Polizisten werden schon in der Ausbildung darauf vorbereitet, dass es manchmal hart wird, und bei solchen Einsätzen sind sie immer zu zweit, damit der eine, wenn es dem anderen zu viel wird, weitermachen kann. Ist alles erledigt und freigegeben, kommt endlich die Bestattung. Die nehmen den Leichnam mit und bringen ihn ins Kühlhaus des Zentralfriedhofs. Dort bleibt er bis zum Begräbnis oder darf noch der Forschung dienen. Drogen- und Faulleichen sind für Studenten, Statistiken, Gerichtsmediziner und den einen oder anderen Polizisten in Ausbildung besonders interessant.

In die leere Wohnung des Nachbarn kommt dann am Tag nach der Auffindung gleich die Entwesung, die MA 15 aus Erdberg. Die sorgen dafür, dass alle Bakterien und Würmer ausgemerzt werden. Winter ist angenehmer für alle, weil da der Geruch viel erträglicher ist und auch der Mikroorganismen-Befall sich in Grenzen hält. Das größte Problem für die Nachwelt sind offensichtlich die Flüssigkeiten.

Abgestandener Leichensaft ist ein teuflisches Zeug, das auch durch aggressivste Chemikalien oft nicht wegzumachen ist. Wenn er schon am Parkett angekommen ist, hilft nur noch schleifen, in schlimmen Fällen großzügig entfernen. Alles, was damit in Berührung kommt, wird zum stinkenden Sondermüll. Schon nach wenigen Tagen beginnt der Leichnam, sich bei geeigneten Bedingungen— Zimmertemperatur ist schon mal ein guter Anfang—zu verflüssigen. Das Blut sackt nach unten und lässt den Körper blau anlaufen. Falls der Verstorbene die Augen offen hat, trocknen die empfindlichen Schleimhäute innerhalb weniger Stunden aus und laufen dort, wo sie der Luft ausgesetzt waren, blutrot an. Im Fachjargon nennt man das einen „Tache Noire“.

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Ein gerade Verstorbener riecht sofort nachdem ihn die Lebensgeister verlassen, anders als ein Lebender und am nächsten Tag kann man dann von Gestank sprechen. Es ist im Grunde aber nichts anderes als unglaublich intensiver Körpergeruch. Wenige Stunden nach dem Tod beginnen dann Bakterien und gleich darauf auch Fliegenlarven, den Körper zu zersetzen. Man fragt sich schon, wo diese Fliegen so schnell herkommen. Es ist, als wären sie ständig um uns herum und würden nur auf unser Ableben warten, um schnell und effizient ihre Arbeit zu erledigen. Aber auch bei uns Menschen ist man darum bemüht, eiligst alle Spuren des Todes zu tilgen. Die Hausverwaltung hat den krakeligen Namensschriftzug auf dem Postkasten des verstorbenen Nachbarn gleich am übernächsten Tag entfernt und auch auf eine Todesanzeige im Haus sicherheitshalber verzichtet.

Der Tod einer einsamen Person ist immer ein lästiges, bürokratisches Durcheinander. Da hilft auch der Todesratgeber zum Download von der Bestattung Wien nichts. Der ist nämlich nur auf planbare Tode ausgelegt, beziehungsweise auf die Hinterbliebenen. Einsame hingegen scheinen eine besondere Last zu sein und können auch keine Fragebögen mehr ausfüllen. Da jemand, der lange nicht gefunden wird, häufig keine Angehörigen hat, bleiben die Kosten der MA 15 oft ungedeckt.

Es dauert ewig, bis der Staat ausgeschnapst hat, wem die Wohnung jetzt gehört. Der jeweilige Bezirksnotar ist dann Monate beschäftigt, bis er versteckte Angehörige ausfindig gemacht hat, denen er eventuell das Hab und Gut des Verstorbenen vermachen kann. Bis dahin bleibt die Wohnung leer, mit einem Schloss der Polizei versiegelt. Können auch nach langem Suchen keine Angehörigen gefunden werden, kommt es zu einer Zwangsversteigerung der Wohnung und des ganzen Plunders. Das ist der Moment, in dem Immobilienkäufer ins Spiel kommen, die zu Sonderpreisen tolle Wohnungen abstauben wollen und dafür den Leichengeruch gerne in Kauf nehmen.

Der Nachbar jedenfalls wird indessen im anonymen Schnellverfahren am Zentralfriedhof bestattet. Wenn die Bestattung Wien herausfinden konnte, ob er gläubig war und an wen er geglaubt hat, bekommt er noch einen Geistlichen dazugestellt. Die Kosten für solch eine einfache Bestattung tragen du und ich— vorausgesetzt, du zahlst Steuern. Derzeit kostet ein Sozialbegräbnis im Schnitt 4.000 Euro. Von etwas günstigeren Feuerbestattungen wird generell Abstand genommen, wohl weil es zu viele Religionen gibt, die das ablehnen, und man nicht in die Verlegenheit gebracht werden möchte, jemandes Chancen auf ein Leben danach völlig zunichtezumachen.

Beim Begräbnis des Nachbarn waren das Personal der Bestattung Wien—vom Sargträger bis zum Leichenwagenfahrer—die Trauergäste. Als Grabstein hat er eine wenig glamouröse Holztafel bekommen und wird jetzt erst einmal 10 Jahre lang Ruhe haben. Dann holen sie seine Knochen noch einmal hervor und graben sie einen Meter tiefer wieder ein, wo sie auch bleiben und entweder fossilisieren (1:1 Million) oder aber meistens nur langsam vor sich hin verrotten. Bei aller Natürlichkeit immer noch eine unangenehme Vorstellung, und ich würde mir zumindest ein Nachleben als Museumsobjekt wünschen, aber dem Nachbarn ist es, glaube ich, wurscht.

Nachsatz: In der Zwischenzeit habe ich, weil mir das alles keine Ruhe gelassen hat, herausgefunden, wie der Nachbar geheißen hat, wann er geboren wurde und dass er erst einen Monat, nachdem sie ihn gefunden haben, begraben wurde. Als Sterbetag haben sie seinen Auffindungstag angegeben. Er war nicht ganz siebzig Jahre alt und ist wohl an einem Schlaganfall oder einem Herzinfarkt gestorben. Es hat dann einfach sehr lange gedauert, bis sie den notariellen Unsinn geklärt haben und er seine letzte Ruhe finden konnte. Ich habe sein Begräbnis um drei Tage verpasst, habe ihm aber zwei Kerzen aufs Grab gestellt, obwohl ich fast davon überzeugt bin, dass er auch dem relativ gleichgültig gegenübersteht.