Einwanderer verraten, was sie an der Schweizer Kultur schockiert hat
Illustrationen von Katrin von Niederhäusern

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Einwanderer verraten, was sie an der Schweizer Kultur schockiert hat

Schweizer wollen keine Schokolade, bleiben bei roten Ampeln stehen und sind Herrscher über die kompliziertesten Begrüssungsrituale der Welt.

Die Statistik ist klar: Fast jeder sechste Bewohner der Schweiz ist erst irgendwann im Verlauf seines Lebens in die Schweiz immigriert. Sogar jeder vierte Mensch, der in der Schweiz wohnt, hat keinen rot-weissen Pass. Die Schweiz ist also das, was im allgemeinen Verständnis unter dem Begriff Einwanderungsland herumgereicht wird. Viel wird über diese Menschen diskutiert—hauptsächlich darüber, was an ihnen stört. Sind Ausländer krimineller als Schweizer? Sind sie eine Bedrohung für die durch einen Schulstreit zur Schweizer Hochkultur erhobenen Edelweisshemden?

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Erst vor einigen Wochen wurde in den Kommentarspalten die Meldung gefeiert, dass zum ersten Mal seit langem wieder mehr italienische als deutsche Einwanderer ihre Zukunft im Land der Toblerone suchen. Der Tenor der Kommentierenden kippte allzu oft in die Richtung: Italiener sind immer noch besser als Deutsche, Menschen aus dem Balkan oder Türken ("Denkt an die Pizza!!!").

Jede Beziehung hat bekanntlich aber zwei Seiten, auch jene zwischen Schweizern und Einwanderern. Bis zur Unerträglichkeit dreht sich der Diskurs in Medien und Facebook-Kommentaren darum, was so mancher Schweizer an dem, was er unter italienischer, deutscher oder türkischer Kultur versteht, komisch findet. Die andere—ebenso wichtige—Seite, was die Italiener, Deutschen oder Türken an der Schweizer Kultur nicht verstehen, spielt anscheinend kaum eine Rolle.

Um diese in politischem Geplänkel verhärtete Beziehung etwas aufzulockern, habe ich Geschichten dazu gesammelt, was Einwanderer bei ihren ersten Begegnungen mit der Schweizer Kultur wirklich komisch fanden. Spoiler: Es ist nicht der Käse.

Als Gentleman, der ich bin, beginne ich gleich mal mit meiner Geschichte: Obwohl ich lediglich zwei Kilometer hinter der Schweizer Grenze aufgewachsen bin, klaffen in manchen Lebensbereichen anscheinend Welten zwischen Liechtenstein und der Schweiz. Als ich vor knapp fünf Jahren nach Zürich gezogen bin, war ich ziemlich überfordert davon, wie man wen anspricht. Wer wird gesiezt? Wer geduzt? Wann ist es angemessen, vom Sie zum Du zu wechseln? Wann sage ich Grüezi? Wann Hoi? Da, wo ich herkomme, duzt man quasi jeden. Du, Polizistin. Du, Kassiererin. Du, Regierungsrätin.

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Ich verstehe bis heute noch nicht, wie das ungeschriebene Bundesgesetz der Ansprache lautet—und ob sowas überhaupt existiert. Irgendwann habe ich einfach angefangen, alle mit "Hallo" zu begrüssen. Oft denken die Leute dann, dass ich Deutscher bin und sind total überrascht, wenn ich ihnen in breitem Dialekt anstatt im erwarteten Hochdeutsch antworte. Vielleicht sollte ich tatsächlich mal einen dieser Integrationskurse besuchen, den die Stadt Zürich anbietet. Doch genug von mir, hier sind die weiteren Geschichten:

Karen, aus Deutschland, seit 33 Jahren in der Schweiz
"Ich bekam in der Schweiz nur Saisonier-Bewilligungen und arbeitete in verschiedenen Hotels an der Rezeption. Ich reiste also nach Ablauf der Arbeitsbewilligung aus und reiste wieder ein, um einen Sprachaufenthalt im französischen Teil der Schweiz zu machen.
So arbeitete ich auch in einem Hotel in St. Gallen und war dort für die Ausbildung der Lehrlinge verantwortlich. Der Vater eines Lehrlings hat sich bei meinem Chef beschwert: Warum muss es denn ausgerechnet eine Deutsche sein, die meine Tochter ausbildet? Mein Chef hat zu mir gehalten, aber es hat mich damals doch sehr geschockt. Je näher man an der deutschen Grenze gearbeitet hat, desto grösser war die Abneigung.
Ich habe auch in Genf, Neuchatel und Nyon gearbeitet. Dort mochten sie die Deutschen lieber als das die Deutschschweizer tun. Heute muss ich öfters sagen, dass ich nicht zu den 'neuen deutschen Einwanderern' gehöre und perfekt Schweizerdeutsch verstehe. Leider merkt man halt immer noch, dass ich ursprünglich aus Deutschland komme. Das war vorher nie ein grosses Problem. Ursprünglich hatte ich auch Probleme damit, dass man zur Begrüssung immer auch den Namen dazu sagt. In Deutschland war das viel einfacher, nur 'Hallo' und 'Tschüss'."

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Omar, eingewandert aus Saudi-Arabien/Eritrea, seit zwei Jahren in der Schweiz
"Mir ist aufgefallen, dass die Menschen in der Schweiz kälter sind, als ich sie mir vorgestellt habe. Ich dachte, jeder hier sei ständig fröhlich und würde mit einem Lächeln durch die Welt gehen—wie ich es eben aus Filmen kannte.
Da, wo ich herkomme, sagen wir jeweils 'Salem Aleikum' zu unserem Gegenüber, wenn wir etwas von ihm wollen, etwa zu einem Busfahrer oder beim Telefonieren. Das heisst soviel wie 'Friede sei mit dir', auf Deutsch sage ich jeweils 'Hallo, wie geht es dir?'. Die Leute haben mir geantwortet, dass es ihnen gut gehe, fanden meine Frage aber immer komisch, aber ich war mir das eben so gewohnt.
Mich hat auch erstaunt, wie die Menschen hier über die Strasse gehen. Da wo ich herkomme, achtet niemand auf die Ampeln. Ich erinnere mich an eine Situation an meinem ersten oder zweiten Tag in der Schweiz. Ich lief auf einen Fussgängerstreifen zu und ging einfach drüber, ohne mir etwas dabei zu denken. Schliesslich bemerkte ich, dass alle Leute hinter mir und auch alle vor mir stehen geblieben sind und manche mich anstarrten. Erst später habe ich von einem Freund erfahren, dass es hier üblich ist, bei roten Fussgängerampeln stehen zu bleiben. Seitdem mache ich das auch.
Was mir auch speziell aufgefallen ist, sind die Demonstrationen, die es in der Schweiz gibt. Im Land, aus dem ich komme, gab es sowas nicht."

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Felix, eingewandert aus Deutschland, seit fünf Jahren in der Schweiz
"Es gibt etwas, das ich nicht verstehe. Die Schweiz ist eines der wohlhabendsten Länder der Welt. Trotzdem scheinen die meisten Schweizer in ihren Ferien rund um den Globus fliegen zu wollen—Hauptsache möglichst weit weg. Die Schweiz selbst scheint den Leuten nicht zu genügen. Durch das ganze Herumfliegen wird auch die Umwelt ganz schön verschmutzt.
Letzthin habe ich mit Freunden gerade über die 2000-Watt-Gesellschaft gesprochen, aber die wird bei den Ferienzielen der Schweizer sicher nicht zur Realität.
Vorige Woche ist mir noch etwas aufgefallen: Als ich den Tatort geschaut habe, der in meiner Heimatregion gespielt hat, habe ich erst bemerkt, wie weitläufig und unbebaut dort alles ist. Die Schweiz ist im Vergleich dazu viel mehr zugepflastert."

Am meisten hat mich die Sprache überrascht. Vor allem, wie die Leute hier Hochdeutsch gesprochen haben.

Rosa, eingewandert aus Italien, seit 38 Jahren in der Schweiz
"Die Schweiz ist sehr korrekt und alles funktioniert sehr gut, zum Beispiel hängt an der Bushaltestelle ein Plan und der Bus kommt auch. In Italien muss man die Leute fragen, wann der nächste Bus kommt, wenn er dann überhaupt kommt.
Auch die Öffnungszeiten sind in der Schweiz angeschrieben und werden eingehalten. In Italien hängt einfach ein Schild mit einer Aufschrift wie 'komme gleich wieder' oder 'Ferien'. Auch wenn Öffnungszeiten angeschrieben sind, werden sie in Italien nicht unbedingt eingehalten. Auch beim Arzt oder auf der Post muss man hier nie lange warten, in Italien oft zwei bis drei Stunden.
Aber die Menschen in der Schweiz sind kalt, nichts geht spontan. In Italien kommen die Nachbarn auch mal schnell vorbei, man redet ein bisschen und gibt etwas zu essen oder zu trinken. Hier in der Schweiz heisst es 'Oh, Entschuldigung, ich habe nur für zwei Personen gekocht, du musst leider gehen' oder man kann gar nicht erst reinkommen. Aber man könnte doch einfach noch Käse dazutun und es würde für alle reichen.
Die Menschen hier sind auch nicht hilfsbereit. Mir ist schon passiert, dass ich um Hilfe gebeten habe, weil meine Schwiegermutter umgefallen ist und ich sie nicht alleine aufheben konnte. Die Nachbarn haben nur gesagt: 'Wir sind beim Essen, wir haben keine Zeit.' Ich musste dann den Arzt anrufen, der mir geholfen hat.
Wenn man nicht so gut Deutsch kann, ist es sehr schwer. Ich habe immer Schicht gearbeitet, mit meinem Mann gewechselt. Es gibt keine Deutschkurse für Schichtarbeiter. Eine Woche habe ich vormittags gearbeitet und eine Woche nachmittags."

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Seraphin, eingewandert aus Deutschland, seit zwei Jahren in der Schweiz
"Als ich das erste Mal zu Besuch in die Schweiz kam, war ich ziemlich irritiert von den verschiedenen Formen, wie man mich begrüsst hat und ehrlich gesagt weiss ich bis heute nicht, wie ich mich dabei verhalten soll. Wem gebe ich drei und wem nur einen Kuss auf die Wange? Anstatt sich einfach, wie in vielen anderen Ländern, auf einen Kuss links und einen rechts zu einigen, hat man anscheinend verschiedene Konventionen festgelegt.
In meinem Alter und Freundeskreis begrüsst man sich in Deutschland fast ausschliesslich auf zwei Arten: mit einem Handschlag oder einer Umarmung. Hier in der Schweiz aber gibt es so viele Wege, sich zu begrüssen, dass es bei ungefähr der Hälfte der Fälle zu einem Missverständnis oder zu einem 'Handshake Fail' kommt, weswegen ich mich jedes Mal, wenn ich eine neue Person kennenlerne, so darauf konzentriere nichts falsch zu machen, dass ich mich nach zehn Sekunden nicht mehr an ihren Namen erinnern kann."

Maggie, eingewandert aus Irland, seit 38 Jahren in der Schweiz
"Als ich in die Schweiz kam, war ich geschockt davon, wie unfreundlich die Menschen waren. Ich war schockiert, dass sich Menschen in meinem Alter—Anfang 20—gesiezt haben. Sie bemühten sich nicht, mir das Gefühl zu geben, ich sei willkommen, sie kamen mir nicht entgegen. Ich musste mich integrieren, assimilieren und an die Kultur anpassen—anders zu sein war ein No Go.
In Irland ist es zum Beispiel so, dass man die neuen Nachbarn begrüsst, wenn man an einen anderen Ort gezogen ist. Als wir hier in unser neues Haus gezogen sind, wollten wir unseren neuen Nachbarn Schokolade vorbeibringen und zwei von fünf Nachbarn meinten nur: 'Wir kennen euch nicht, wir können das nicht akzeptieren.' Ich habe ihnen erzählt, dass das zur Kultur in meinem Land gehöre. Sie machten mir dann aber klar deutlich, dass das hier nicht so gemacht wird. Erst als ich nach Zürich gezogen bin und hier Schotten, Amerikaner und Südafrikaner unterrichtete, fühlte ich mich wieder OK. Ich dachte vorher, niemand möchte mich hier haben.
Bis heute hat sich das massiv verändert. Ich würde sagen, die Schweizer haben sich in den letzten Jahrzehnten enorm geöffnet. Danke Gott, dass die Unfreundlichkeit nicht mehr auf dem Stand von damals ist."

Alice, eingewandert aus Deutschland, seit 40 Jahren in der Schweiz
"Als ich aus Deutschland in die Schweiz kam, hat mich vor allem die Verschlossenheit der Zürcher und der Schweizer an sich überrascht. Sie wollten alle unter sich bleiben. Ich habe zwei Jahre lang in Zürich studiert, ohne freundschafltichen Kontakt zu Schweizern zu haben—nur zu Ausländern. Wir Ausländer sind dann untereinander geblieben.
Einige Jahre später, als ich schon einen Sohn hatte und der in den Kindergarten ging, ist mir das erneut aufgefallen. Ich fragte meinen Sohn, wann denn der 'Räbeliechtli'-Umzug sei und er meinte nur: 'Du brauchst nicht zu kommen, die sprechen dort alle Schweizerdeutsch.' Mein Sohn hat also diese Trennung zwischen Schweizern und Ausländern übernommen, ich habe ihm das so nicht beigebracht."

Ladislav, eingewandert aus der Slowakei, seit vier Jahren in der Schweiz
"Als ich in die Schweiz kam, hat mich die Sprache am meisten überrascht. Vor allem, wie die Leute hier Hochdeutsch gesprochen haben. Sie hatten einen ganz anderen Akzent, als ich es gewohnt war und ich habe darum kein Wort verstanden. Ständig musste ich fragen: 'Was? Wie meinen Sie das?'
Auch die Wirtschaft hat mich erstaunt. Wie es die Schweiz geschafft hat, nach all diesen Krisen noch eine so starke Wirtschaft zu behalten. Generell sind die Leute einfach chillig und können ihr Leben besser geniessen als in anderen Städten Europas."

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