Erotika, Weihnachstbäume und Alltägliches – Die vergessenen Fotos Deutschlands

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Erotika, Weihnachstbäume und Alltägliches – Die vergessenen Fotos Deutschlands

Siegfried Sander sucht auf Flohmärkten nach alten, verschollenen Fotos und hat mittlerweile ein riesiges Archiv an nackten Frauen, Eisbären, Hunden und nasser Wäsche.

Jeder gelegentliche Flohmarktbesucher kennt sie: Zwischen all den Ständen aus Trödel und Möbelstücken verstecken sich die unscheinbaren Kartons und Alben mit alten Fotos und Postkarten. Und auch wenn man eigentlich nichts sucht, wühlt man sich dennoch durch fremde Urlaube, Familienfeiern, und überflüssige Schnappschüsse; blättert manchmal durch ein ganzes Leben. Oft fragt man sich beiläufig dabei, wer diese Leute waren, warum die Fotos entstanden sind und was in aller Welt hat dazu geführt, dass sie sich so fotografiert haben.

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Siegfried Sander ist auf Flohmärkten unterwegs, um Fotos längst vergessener Geschichten zu finden. Was anderen ein unliebes Erbe ist oder schlichtweg nicht bedeutsam, kauft er auf und forscht sich durch die Aufnahmen.

Dabei sucht er gezielt nach Fotoserien, die abseits der typischen Flohmarktfotografie liegen: Er sucht die Einblicke, die nicht für die Öffentlichkeit angefertigt wurden und sich hinter der bürgerlichen Vorzeigefassade abspielten, genauso wie nach längst vergessenen professionellen Fotografen, deren Erbe Sander auf seiner Website in Erinnerung halten will.

Ein Schwerpunkt der Sammlung besteht aus Frauenporträts und Aktfotografie, in dem sehr unterschiedliche Sichtweisen und Motive auf Frauen, vor allem aus den 1920er bis 70er Jahren, zu sehen sind. Der andere Fokus liegt auf Fotografien, auf den Menschen in den ungewöhnlichsten und absurdesten Momenten festgehalten wurden: Postkarten, die Kleinwüchsigenshows als Attraktion anpreisen, genauso wie Porträts mit Eisbären, Weihnachtsbäume ohne Familie sowie Partnerlookaufnahmen.

Ein wahrer Fundus an vergessenen Verrücktheiten. Ich habe dazu mit ihm über seine Sammlung gesprochen.

VICE: Seit wann sammeln Sie und wie kam es dazu?
Sigfried Sander: Ich bin selbst Kunsthändler und Galerist in Hamburg und bewege mich daher bereits von Berufswegen ständig im Umfeld von Flohmärkten und Antikhändlern. Vor 30 Jahren habe ich mit meiner Frau mit Ankäufen von hauptsächlich Möbeln und Design angefangen. Die Initialzündung gab es, als wir einen Schrank—eigentlich fürs Büro gedacht—gekauft haben, in dem sich noch die Fotoalben der Vorbesitzer, einem kinderlosen Ehepaar, befanden. Diese 20-30 Fotoalben zeigten ausschließlich den Hund der Besitzer und seine Ehefrau. Allerdings hat der Mann seine Ehefrau in wirklich jedem Bild nur angeschnitten und ohne Kopf fotografiert. Man sieht zum Beispiel beim Gassigehen nur die Leine und den Arm. Über Jahre und Jahrzehnte hatte da einer seinen Hund dokumentiert und seine Frau keines Blickes mehr gewürdigt. Das fand ich psychologisch total interessant. Wenn man sich mit Fotonachlässen beschäftigt, findet man immer wieder die verrücktesten Sachen.

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Kennen Sie die Urheber oder Umstände der Aufnahmen?
Zu manchen habe ich Informationen über die Stempel auf der Rückseite herausbekommen. In der Sammlung „Frauen" stammen die Fotos alle von professionellen Fotografen, die die Frauen abgelichtet haben. Man kennt sie jedoch (noch) nicht durch die einschlägigen Ausstellungen oder Bücher und manchmal leider auch gar nicht. Dazu gibt es regelrechte Legenden:

Julian Mandel zum Beispiel war Fotograf in Paris in den 20er und 30er Jahren. Er hat Tausende Postkarten erstellt, aber weder im Buchhandel noch im Internet gibt es weitere Informationen über ihn. Es gibt die Vermutung, dass er vielleicht ein berühmter Fotograf war, der nur unter Pseudonym gearbeitet hat und seinen Ruf nicht ruinieren wollte, mit solchem „Schmuddelkram", also mit Frauenakten. Es gibt seine Fotos in Millionenauflage. Aber keiner weiß mehr!

Was wahrscheinlich am Thema und der Verschwiegenheit darum selbst liegt …
Genau, es gibt auch die Legende über Monsieur X: Man erzählt, es gab einen vermögenden Mann in Paris, der ein Auto hatte und mit einem Freund Damen aus dem Rotlichtmilieu oder Hostessbereich mit viel Geld kaufte, sich mit ihnen ein schönes Leben machte und sie vor allem in den Hotels und der Natur freizügig fotografiert hat. Als er dann alt war, ging er zu einem Verleger und hat ihm seine Tausenden Bilder anvertraut, mit dem Hinweis, dass alle Negative zerstört seien, und er die Bilder alle veröffentlichen kann, sobald er tot sei. Aber nur unter der Bedingung, niemals seine wahre Identität zu erzählen, da er Familie hat, die sonst tot umfallen würde. Das kann man glauben oder nicht … aber solche Legenden gibt es sehr viele. Manchmal weiß ich aber auch gar nichts—wie zum Beispiel bei den DDR-Aufnahmen.

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Weiterlesen zur Geschichte von Monsieur X und seinen Fotos: Das Leben von Pariser Prostituierten in den 1930ern

Man sieht auf den DDR-Bildern zwar katalogmäßig fotografierte Unterwäsche, aber neben diversen Hintergründen, die in einem Studio aufgenommen sein müssen, sind auch eindeutig Privatwohnungen zu sehen. Neben den offensichtlichen Katalogarrangements verstecken sich immer wieder Aufnahmen, bei denen der Fotograf eindeutig mehr die Modelle selbst im Blick hatte.
Man riecht hier regelrecht die 60er und 70er Jahre. Es sieht ein bisschen wie bei F.C. Gundlach aus, man sieht halbabstrakte Kompositionen aus Pappe, die in den Raum gestellt wurden. Gundlach hatte aber stabile Wände, hier sieht man leider nur an irgendwelchen Nylonfäden aufgehängte Pappen.

Bei der Frage nach dem Ursprung der DDR-Aufnahmen spielt der historische und soziologische Kontext sicherlich auch eine wichtige Rolle.
Auf jeden Fall. Ich habe zum Beispiel noch Kontakt zu einem ehemaligen Postangestellten aus Frankfurt/Oder. Dieser hat neben seinem Beruf zu DDR-Zeiten ein Netz zwischen Fotografen und semi-professionellen Modellen aufgebaut. Er hat als Hobby Hochzeiten fotografiert, vor allem solche mit Westbesuch. Die Fotos hat er dann schnell über Nacht entwickelt und am nächsten Tag gleich an die Westler verkauft und damit viel Geld gemacht. Über geheime Annoncen in Zeitschriften und Postkarten hat er im Anschluss Frauen für Aktaufnahmen angeworben und getroffen. Das waren normale Frauen: Ärztinnen, Verkäuferinnen—alle möglichen Berufe. Die Frauen wollten natürlich nicht, dass jemand weiß, dass sie sich gegen Geld fotografieren lassen. Viele haben damit aber sehr gutes Geld verdient, manchmal als Aktmodell mehr als im Beruf. Die Fotos hat der Postangestellte dann in seinem Freundeskreis wiederum verkauft und getauscht—es gab ja einfach keinen öffentlichen Erotikzeitschriftenmarkt.

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Es wäre daher interessant zu wissen, für wen diese Aufnahmen angefertigt wurden!
An den historischen Dimensionen bin ich weniger interessiert. Es sind vielmehr die Verrücktheiten, an denen ich interessiert bin. Ich habe zum Beispiel Aufnahmen eines Rechtsanwalts, der jedes Jahr den Weihnachtsbaum fotografiert hat, aber nie mit seiner Familie. Über viele Jahre hinweg immer den geschmückten Baum, aber immer alleinstehend. Es erinnert ein wenig an Harvey Keitel in dem Film Smoke: Der macht jeden Tag ein Foto von der Straßenecke. Diese Serien haben manchmal etwas Meditatives für die Menschen, obwohl es nach außen wie eine überflüssige Verrücktheit wirkt.

Die Sammlung zeigt eine wirklich große Bandbreite an verschiedenen Bildsprachen und Themen und wechselt dabei zwischen fragwürdigen und banalen, humorvollen und ernsthaften Momenten. Was hält das alles zusammen?
Manche Sachen kommen einem total fremd vor, manches aber auch sehr vertraut. Es gibt Sachen, die einen anziehen und man kann es nicht begründen. Für mich als Betrachter ist genau das immer wieder ein Selbsterfahrungstrip. Es geht für mich um einen persönlichen Diskurs, warum fotografiert jemand etwas genau so? Diese Fragezeichen im Kopf sind für mich der Ausgangspunkt für alle Fotos.

Mit der Veröffentlichung der gesammelten Serien möchte ich abseits meines persönlichen Diskurses zeigen, dass das Leben noch viel bunter ist, als wir uns das vorstellen können—ohne Moral und ohne Bewertung.

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Manche Serien der Sammlung, zum Beispiel „Nasse Wäsche", „Mann fotografiert Frau, Outdoor" oder „Flowerpower" zeigen sehr gewöhnliche Momente, die als Serie schon wieder absurd wirken—man fragt sich natürlich auch hier, warum die Leute sich in analoger Vorzeit die Mühe machten, das festzuhalten. Und warum sich sehr viele Motive in verschiedenen Familien wiederholen.
Ich bin damit aufgewachsen, dass Fotografie etwas Besonderes ist. Zum Fotografieren brauchte man einen Apparat, und der lag früher, wie so viele technische Anschaffungen der Haushalte, in der Hand des Mannes und wurde meistens auch nur von ihm benutzt. Mit dem Fotoapparat konnte er seinen Besitz anzeigen, daher gibt es so viele Aufnahmen von Autos, Fahrrädern, der Freundin und dem Hund.

Und dann gibt es viele dieser sich wiederholenden Motive, die nicht naheliegen—wie zum Beispiel die Ehefrau im Sonntagskostüm neben dem Magnolienstrauch. Vielleicht gab es dazu mal einen Film oder eine Vorlage in einer Zeitschrift, aber das Motiv gibt es häufig. Es gibt wohl regelrechte „Ur-Motive", die sich in der privaten Fotografie verselbstständigt haben—aber alle dachten, sie fotografieren etwas Einzigartiges und Besonderes.

Die Fotoserie um die „Geliebte Margret", die man auf vielen Blogs sehen konnte, haben Sie ja auch auf dem Flohmarkt entdeckt!
Ich habe meine Kontakte zu Trödlern und Entrümplern, die für mich Fotografien, Zeitschriften, Magazine oder Filme in unterschiedlichen Städten beiseite legen. Dabei fiel mir auch ein Koffer mit fotografischen Protokollen in die Hände, den ich dann an die Galerie Zander weiterverkauft habe. Ich habe mich sehr gefreut, dass dadurch die Aufnahmen bekannt wurden.

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„Margret – die Chronik einer Affäre" zeigt die akribische Protokollierung einer Affäre 1970 zwischen der verheirateten Angestellten Margret und ihrem ebenfalls verheirateten Chef in der BRD. Über Monate hinweg fotografiert er sie bei gemeinsamen Treffen und hält diese zusammen in einer Art Tagebuch fest: in Behördendeutsch abgetippte Stichpunkte, in denen der Ablauf der Treffen, ihre Stimmungsschwankungen notiert und ihre Hautschuppen und Schamhaare detailliert festgehalten werden. Obsessiv eignet er sich jeden Schnipsel seiner Geliebten an. Nach ein paar Monaten endet die Affäre und somit auch das Protokoll.
Nach der Veröffentlichung haben mir viele Bekannte erzählt, dass sie Leute mit ähnlichen Doppelleben kannten. Solche Geschichten interessieren mich. Man guckt durch die Fotografien von oben einmal kurz in eine kleine Sequenz ihres Lebens, wie in dem Film Down to Earth, mit einem unbekannten Anfang und Ende. Bei der Margret-Geschichte hat die Galerie jedoch rausfinden können, dass es keine Angehörigen mehr der beiden gibt.

Sie werden weiterhin auf Flohmärkten auf der Suche nach solchen Geschichten sein?
Ich hätte nichts dagegen, bei meinen Entdeckungen den zweiten Helmut Newton zu finden—wofür ich gerne belächelt werde. Es muss auch nicht von diesem Rang sein. Aber es gab so viele andere Fotografen und Serien, von denen ich nicht will, dass sie in Vergessenheit geraten. Ich freue mich daher über jeden auf meiner Seite, der sich auch dafür interessiert oder sogar mehr über die einzelnen Fotografien weiß.

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Josephine ist Fotoredakteurin und betreibt seit 2011 mit anderen ehemaligen Fotoredakteuren der Ostkreuzschule den Blog Edit for the Masses.