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Musik

Es ist nicht leicht, ein Fan von Kanye West zu sein

Wenn Kanye mal eben öffentlich die Vergewaltigungsvorwürfe von 50 Frauen als falsch abtut, dann kann man sich auch als langjähriger Fan schon mal fragen, ob bei ihm nicht etwas gehörig falsch läuft.
Foto: Jason Persse | WikiMedia Commons | CC BY-SA 2.0

„Keeping it real" ist ein Konzept, das maßgeblich dabei geholfen hat, Kanye West seit über einem Jahrzehnt an sein Publikum zu binden. Seine Aktionen haben das doppelte Bewusstsein untergraben: Obwohl er in einem überwiegend von Weißen geprägten Umfeld agiert, trug er seine schwarzen, chicagoer Wurzeln immer offen zur Schau. Gleichzeitig weigerte er sich jedoch, sich von irgendwelchen monolithischen Konzepten schwarzer Kultur in seinen Ambitionen einschränken zu lassen.

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Seit Kurzem ist es aber genau die selbe Stärke, die dazu beigetragen hatte, ihn zu einer zentripetalen kulturellen Institution werden zu lassen, die ernsthaft schädliche Züge angenommen hat. Der Weg hin zu T.L.O.P. war vor allem geprägt vom Chaos: Die G.O.O.D. Fridays schafften es gerade mal auf zwei Freitage; ein ziemlich belangloser Twitter-Rant gegen Wiz Khalifa entpuppte West als zwanghaften Neurotiker—er sah sich geradezu dazu genötigt, seinen Anus vor Amber Rose verteidigen; der Titel seines anstehenden Albums wechselte dann von einer Onomatopöie (SWISH) zu einer Art Gameshow und jetzt verkündete er auch noch—in Großbuchstaben versteht sich—Bill Cosbys Unschuld.

Das ist vielleicht das erste Mal in der Geschichte von Kanye West als Kanye West—also, in seiner allseits bekannten Erst-reden-dann-denken-Art—, dass seine eigene Art seine Albumveröffentlichung ernsthaft behindert. Er hatte gerade erst angefangen, jegliche Gunst, die er mit dem letztjährigen „Facts" verspielt hatte, mit der Veröffentlichung von „Real Friends" und „No More Parties in L.A." zurückzugewinnen—den beiden G.O.O.D. Friday-Veröffentlichungen von 2016. Der Applaus fiel fast einhellig aus und beide Songs verfügen über quasi populistisches Potenzial: „Real Friends" ist eine mürrische Neuauflage des College Dropout Tracks „Family Business"—perfekt für die Kanye-Kenner—und „No More Parties in L.A." ist ein regelrechter Thriller über Kanyes momentanen Zustand. Leider konnten seine Songs aber nicht mit seinen PR-Patzern mithalten. Normalerweise hält der Trubel um einen großartigen West-Track gleich mehrere Wochen an. Dieses Mal aber verschwanden die Songs sofort wieder aus dem kollektiven Gedächtnis, wohingegen seine vermeintliche Vorliebe für anale Spielereien noch immer zahlreiche Memes inspiriert.

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West implodiert, während der Zeitgeist unermüdlich voranschreitet. Kendrick Lamars To Pimp a Butterfly ist ein Meilenstein schwarzer Kultur, der unzählige Grammy-Nominierungen einfahren konnte. Drake beherrscht inzwischen mit erfolgreichen Singles die Transparenz-Schiene, die Kanye West aufgebaut hat. Beyoncé wird mit zunehmendem Ruhm immer politischer und kritischer. Nein, es ist nicht nur West, der seine kulturelle Relevanz verliert: Ehrlich gesagt ist es ganz einfach leichter für Fans wie mich, die Energie, die wir sonst für die Verteidigung seiner Taten aufbringen, auf andere Künstler zu richten.

Ich kann aber einfach nicht von West loslassen. Es handelt sich hierbei immerhin um einen Künstler, der mir und Hunderttausenden anderen vorpubertären Kids und Teenagern (den Kreativen von heute) 2004 beibrachte, dass ihr Konzept von schwarzer Kultur durchaus gültig war; dass es nicht bloß eine Alternative war, sondern gleichberechtigt in der schwarzen Vielfalt Amerikas stand. Wir waren bei ihm, als er von einem pinke Polo-Hemden tragendem Außenseiter zu einem der bekanntesten Botschafter des HipHop wurde. Yeezus mag vielleicht—im besten Fall—ein Eitelkeitsprojekt gewesen sein, dessen Motivation sich vor allem in seiner Enttäuschung mit der Mode-Industrie gründete, aber immerhin berechtigte es ihn dazu, sich seine eigene Avant-Garde-Nische zu schaffen, in der er sich austoben konnte. Die Ankündigung seiner Präsidentschaftskandidatur für 2020 mag vielleicht aus einer wenig kohärenten Rede heraus motiviert sein, aber sie war durchaus nachvollziehbar. West tanzte oben auf dem Glasdach, das vielen von uns den Weg versperrt.

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Leider sind Wests letzten paar Monate geprägt von frauenfeindlichen Äußerungen, impliziter Homophobie und schamloser Selbstverherrlichung. Das, was im Mittelpunkt jener ersten beiden Alben stand, war das Erfassen der ungeschönten schwarze Seele in all ihren Dimensionen: Stolz, Unsicherheit, menschliche Makel und Potenzial. Als er mit Graduation dann seinen kommerziellen Höhepunkt erreichte, wurde er zum lebenden Beweis der Maxime „sei du selbst und der Rest wird folgen." Menschen werden nicht allein aufgrund ihrer Kunst derartig erfolgreich. West hatte einen Personenkult um sich erschaffen, indem er seine menschlichen Züge eng mit seiner Rolle als Celebrity verband.

Und ich glaube, dass das auch der Grund ist, warum ich Kanye West einfach nicht entkommen kann. Seine Kunst bleibt eine treibende Kraft. Bevor andere überhaupt zu ihm aufschließen können, kundschaftet er schon neue Ausdrucksformen aus. Wer sonst hat es bitte geschafft, in einem vornehmlich weißen Feld über so lange Zeit, derartig hörbar und populär zu sein? Ich sträube mich also weiterhin, wenn seine Kritiker wieder sagen, dass er bescheidener sein soll, dass er seinen Stolz zurückstecken soll—nur weil es ihnen unangenehm ist.

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Ich werde definitiv am Donnerstag dabei sein, wenn er endlich sein neues Album im Madison Square Garden enthüllt—nur dieses Mal treibt mich mehr die Neugier als die Vorfreude. Die Wahrheit ist nämlich die: „keeping it real" und „being yourself" kann Yeezus nicht von all seinen Sünden reinwaschen. Wenn West mal eben öffentlich die Vergewaltigungsvorwürfe von mehr als 50 Frauen abtut, muss sogar ich, ein Fan erster Stunde, mich fragen, ob sich in dem Bild, das er hier malt, nicht doch ein paar Fehler eingeschlichen haben. Wenn man etwas liebt, dann will man es auch von seiner besten Seite erleben. Ich liebe Kanye, aber er war definitiv schon mal besser.