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The Children of the Dragon Issue

Extremisten im Namen der Thora

Auf eine Cola mit Israels Staatsfeind Nummer 1.

Der Autor im Wohnzimmer von Rabbi Meir Hirsh, mitten im ultraorthodoxen Jerusalemer Stadtteil Mea Shearim. Obwohl es am Tag des Interviews locker 35° hatte, trug Rabbi Hirsh Hut und schwarze Tracht. Der Nahostkonflikt ist bekanntlich ein fröhliches Jeder-gegen-Jeden: Auf Seiten der Palästinenser bekämpfen sich Hamas und PLO, Christen und Muslime, Säkulare und religiöse Fundamentalisten. Bei den Israelis konkurrieren europäisch-stämmige und Juden arabischer Herkunft mit Einwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion, rechte Hardliner mit einer vernachlässigbaren Friedensbewegung und immer häufiger mit gewalttätigen religiösen Extremisten. Diese ultra-orthodoxen Juden tragen ausschließlich ihre jahrhundertealte Tracht; die Frauen schneiden sich eine Glatze, tragen Perücken und ebenfalls schwarze, schlichte Kleidung. Sie fühlen sich vom, in ihren Augen, zu weltlichen Staat Israel nicht nur diskriminiert, sie zweifeln auch dessen Rechtmäßigkeit an. Obwohl sie bislang nur etwa zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen, fordern sie etwa die absolute Geschlechtertrennung in der Öffentlichkeit: Frauen, finden sie, sollen im Bus hinten sitzen und andere Bürgersteige benutzen. In den letzten Wochen konnte man verfolgen, wie sie dabei vorgehen: Weder schrecken sie davor zurück, mit aufgenähten Judensternen und in KZ-Insassenmontur den israelischen Staat mit dem NS-Regime zu vergleichen, noch davor, ihre Kinder zu den zum Teil gewaltsamen Protestmärschen zu bringen. Gleichzeitig finden immer mehr Demonstrationen säkularer Israelis statt, die verhindern wollen, dass der Einfluss der Ultraorthodoxen auf die Gesellschaft noch größer wird. Die Ultraorthodoxen nennen sich selbst Haredim, zu Deutsch: die Gottesfürchtigen. Und auf eine Weise trifft es der Begriff sehr gut. Denn die Haredim befolgen tatsächlich einzig und allein die Regeln des Judentums, akzeptieren kein Gesetz jenseits der Bibel und keine Autorität, die nicht von ihrem Gott kommt. Und das ohne Einschränkung oder Kompromiss. Das geht bei der ultraorthodoxen Organisation Neturei Karta (zu Deutsch: „Die Wächter der Stadt“—gemeint ist Jerusalem als heilige Stadt) soweit, dass sie sogar den Staat Israel ablehnen und bekämpfen, gemeinsam mit den Fundamentalisten von Hamas und Hisbollah. Ihr Anführer trifft sich hierzu sogar mit Mahmut Ahmadinedschad, dem Israel-feindlichen iranischen Präsidenten. Die Begründung: Einen Staat Israel könne es nur geben, nachdem der Messias gekommen sei. Deshalb sei der existierende Staat nicht nur illegitim, sondern auch gegen den Willen Gottes errichtet worden. Überhaupt scheint es, als wäre jeder Feind Israels ein Freund der Neturei Karta. Experten gehen davon aus, dass Neturei Karta und andere ultraorthodoxe Organisationen sogar Geld von islamistischen Gruppen erhalten. Gleichzeitig tun die Neturei Karta alles, um Israel in einem möglichst schlechten Licht erscheinen zu lassen—und sich selbst als harmlose Gläubige zu inszenieren. Schon bei meinem ersten Besuch in Jerusalem 2007 führte mich ein in Israel lebender Fotograf in den Jerusalemer Stadtteil Mea Shearim, der das Herz des ultraorthodoxen Lebens in Israel ist. Wenige hundert Meter von der großen Einkaufstraße Jerusalems und von den Touristenströmen betrat ich eine sehr eigene Welt, wenn nicht sogar eine andere Zeit: Alle, alle Männer, Frauen und Kinder trugen die traditionelle Tracht und sprachen vornehmlich Jiddisch. Die Straßenzüge und Läden wirkten in etwa so, wie ich mir ein jüdisches Stadtviertel im späten Mittelalter in Osteuropa vorgestellt hatte. LINKS: Rabbi Meir Hirsh zeigte uns an seinem Computer Bilder von mit Stacheln gespickten Handschuhen, die der israelischen Polizei gehören sollen.
RECHTS: Während in der israelischen und internationalen Presse meist die Gewalt durch Ultra-orthodoxe im Fokus steht, präsentieren sich die Neturei Karta selbst vor allem als Opfer von Gewalt. Also begann ich mich bereits damals für die Haredim zu interessieren. Beinahe jedes Mal, wenn ich seitdem in Israel war, fuhr ich nach Mea Shearim. Bald stellte ich fest, dass es sich nicht bloß um harmlose, religiöse Spinner handelt, die möglichst ungestört ihr Leben verbringen wollen, sondern um eine rapide stärker werdenden, radikale politische Kraft. In den vergangenen Jahren haben die Haredim durch ihre Parteien und durch Demonstrationen mit bis zu hunderttausend Teilnehmern immer mehr Sonderregelungen für die Schulen ihrer Kinder und für die Busse in ihren Stadtvierteln erstritten. Ende 2010 kam es zu großen Aufläufen und gewaltsamen Konfrontationen zwischen sakulären Israelis, ultraorthdoxen Haredim und der Polizei. Bei vielen der Demonstrationen kommt es zu Ausschreitungen, zu Gewalt und zu bizarren Szenen: Auf YouTube kann man sich Videos von Straßenschlachten in Jerusalem anschauen, bei denen junge Männer in schwarzen Anzügen und mit langen Bärten große Mülleimer in Brand setzen und bergab in eine Polizeieinheit jagen. Der 1. Mai in Kreuzberg ist dagegen ein Spielplatz. In der israelischen und internationalen Presse werden die Ultraorthodoxen meist immer noch als Spinner abgetan, als radikale Minderheit, mit der man sowieso nicht reden kann und es deshalb auch nicht braucht. Mich aber faszinierten die Haredim und ich wollte verstehen, was sie denken, und wurde bei meinem letzten Besuch in Israel nach langem Hin und Her per Fax und Telefon und SMS in das Haus von Rabbi Meir Hirsh nach Mea Shearim eingeladen. Bei einer Cola sprach wir über die Neturei Karta, den Staat Israel, die Polizei und Mahmud Ahmadinedschad. Vice: Rabbi Hirsh, in den vergangenen Jahren ist es bei den Protesten immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der israelischen Polizei gekommen. Welche Rolle hat Neturei Karta dabei gespielt?
Meir Hirsh: Ja, wir haben an diesen Demonstrationen teilgenommen, wie wir in den letzten 62 Jahren an all diesen Protesten teilgenommen haben. Und ja, wir führen diesen Kampf auf vielfältige Art. Grundsätzlich sind wir gegen Gewalt, aber wenn die politischen Mächte des jüdischen Staates extreme Gewalt anwenden und uns zu Brei schlagen—und das passiert, gegen friedliche Juden, die nur ihrer religiösen Betroffenheit Ausdruck verleihen wollen—in solchen Momenten finde ich solche Formen des Widerstands verständlich. In welchen Momenten meinen Sie genau?
Wenn wir beispielsweise in Jaffa [das früher eine arabische Stadt war und heute der südliche Teil Tel Avivs ist] stehen und gegen die Schändung von altertümlichen Gräbern protestieren und die Polizei exzessiv Gewalt einsetzt. Wir haben auch Beweisbilder von Ultraorthodoxen, deren Haut in Polizeigewahrsam verbrannt wurde. Es ist wirklich widerlich. Die Gewalt kommt tatsächlich von der Polizei. In deren Augen sind gläubige Juden wie Katzen oder Hunde, die man einfach tritt. Wenn man dem folgt, was in der Presse über Ihre Organisation zu lesen ist, sind die Neturei Karta verrückt und gefährlich. Wer sind die Neturei Karta?
Neturei Karta wurden 1935 mit dem Ziel gegründet, die Ideen des Zionismus zu bekämpfen. Zu dieser Zeit war der Großteil der orthodoxen Juden antizionistisch—fast alle orthodoxen Rabbiner sprachen sich damals gegen den Zionismus aus. Wie viele Mitglieder hat Ihre Organisation heute?
In Israel sind das mehrere Zehntausend, grob 30.000. Aber in den USA sind es Hunderttausende, vor allem in Williamsburg in Brooklyn, New York, aber auch in anderen Zentren des jüdisch-orthodoxen Lebens in den USA. Wie kamen Sie persönlich zu den Neturei Karta?
Ich bin in den USA geboren und US-Bürger, aber ich kam mit meiner Familie nach Israel, als ich ein Jahr alt war. Ich habe mein Leben lang die Thora studiert, und auch heute, im Alter von 55 Jahren, bin ich noch Schüler einer Jeschiva, einer Thora-Schule. Tatsächlich kommt es bei den Protesten immer wieder zu blutigen Auseinander-setzungen; Hintergrund und Umstände der von der Neturei Karta zu Verfügung gestellten Bilder sind allerdings unklar. Ihr Vater war schon prominentes Mitglied der Neturei Karta …
Mein Vater war der erste Mensch in Israel, der einen persönlichen Kontakt zu Jassir Arafat hatte! Später war er Minister für jüdische Angelegenheiten unter Arafat. Die Neturei Karta hat auch viele Gemeinsamkeiten mit den Palästinensern—wir waren auch die erste Gruppe, die 1968 die Rechtmäßigkeit der Charta der PLO anerkannt hat! Dass Neturei Karta in Israel so umstritten ist, liegt auch daran, dass Sie nicht nur mit den Palästinensern, sondern auch mit der iranischen Regierung zusammenarbeiten. Viele Israelis haben den Eindruck, Neturei Karta würde sich im Grunde mit jedem Feind Israels verbünden. Wie sehen Sie das?
Zunächst einmal sind wir überzeugt, dass die anti-israelische Stimmung, die es in der Welt heutzutage gibt, daher kommt, dass Israel ein anderes Volk unterdrückt. Über viele Jahrhunderte wurde Juden in der gesamten muslimischen Welt Zuflucht gewährt. Vor 500 Jahren, während in Spanien die Inquisition die Juden vertrieb, fanden Juden in Algerien ein neues Zuhause. Und vor 60 Jahren, während des Holocaust, fanden Juden Zuflucht in vielen muslimischen Ländern. Worauf ich hinaus will: Es gab in muslimischen Ländern nie Feindseligkeiten wegen unseres Judentums. Im Iran leben beispielsweise auch heute noch 30.000 Juden, die mehr Freiheitsrechte haben als die muslimische Bevölkerung des Irans! Während es im Iran verboten ist, Alkohol zu kaufen, dürfen die dort lebenden Juden Wein für die Sabbat-Zeremonie erwerben. Wollen Sie damit sagen, es gäbe keinen Antisemitismus in der arabischen Welt?
Dieser Antisemitismus ist eine israelische Erfindung! Die Zionisten wollten, dass alle Juden aus aller Welt nach Israel auswandern, um hier einen Staat aufbauen zu können. Und was den Iran angeht, die iranische Regierung hat nichts gegen Juden und nichts gegen das Judentum—die Rede ist auch niemals von Juden, nicht einmal von Israelis, sondern ausschließlich von Zionisten und Zionismus. Hatte Sie persönlich Kontakt zur iranischen Regierung?
Selbstverständlich! Wir haben sehr enge Beziehungen in den Iran und haben Ahmadinedschad mehrfach getroffen, im Grunde treffen wir ihn jedes Mal, wenn er in New York ist und bei der UN spricht. Und wir sind auch mehrfach im Iran gewesen. Welche Lösung schlagen Sie denn dann für den Nahostkonflikt vor?
Dieser zionistische Staat muss von den Landkarten verschwinden. Die einzig denkbare Lösung ist ein palästinensischer Staat für zwei Völker. In der Thora steht, dass es den Juden verboten ist—in Israel, sonst wo im Nahen Osten oder irgendwo auf der Welt—einen Staat zu gründen, bis zu dem Tag der Erlösung, an dem Gott uns alle erlöst. Der Zionismus dagegen hat nichts mit dem jüdischen Volk zu tun, nichts mit diesem Land hier und spricht nicht im Namen des jüdischen Volkes. Würden Sie Israel als Staat anerkennen, wenn die Thora zum Gesetz würde?
Nein, würden wir nicht. Es geht nicht allein um die Gesetze der Thora. Es geht vor allem darum, dass dem jüdischen Volk jede Form politischer Macht verboten ist. Kurz gesagt: Erst wenn der Messias kommt, darf es einen Staat Israel geben. Rabbi Hirsh stellte sich bei diesem Besuch als überraschend ruhiger, höflicher und fast schüchterner Gesprächspartner heraus. Einen verrückten Eiferer und durchgeknallten Radikalen hätte man sich anders vorgestellt. Hirsh antwortete ausführlich und geduldig auf alle Fragen, führte freundlich durch seine schlichte Wohnung und nahm sich alle Zeit für das Gespräch. Man sollte sich von dieser Freundlichkeit nicht einlullen lassen: So bedächtig Hirsh sprach, so radikal äußerte er sich in der Sache. Und Rabbi Meir Hirsh weiß natürlich, dass die Zeit für ihn und die Neturei Karta spielt. In Israel sind schätzungsweise zehn Prozent der Bevölkerung mittlerweile ultraorthodox, Tendenz: steil ansteigend. Weil haredische Familien im Schnitt sieben Kinder haben, verdoppelt sich die Zahl der Haredim schätzungsweise alle 12 bis 20 Jahre. Es ist kein Zufall, dass sich die Zusammenstöße zwischen der israelischen Polizei und den religiösen Fundamentalisten häufen. Die Haredim wissen natürlich, dass sie immer wichtiger werden und dass sie längst zu einer veritablen politischen Macht in Israel geworden sind. Noch hält die israelische Regierung, an der auch zwei eher gemäßigte ultraorthodoxe Parteien beteiligt sind, die Extremisten im Namen der Thora in Schach. Aber man muss kein Hellseher sein, um zu sehen, dass da in den kommenden Jahren auf Israel ein massives Problem zukommt. Mit äußeren Staatsfeinden kann man vermutlich noch umgehen—aber mit furchtlosen, tief gläubigen Feinden mit schwarzen Anzügen und Hüten im Inneren?

Fotos und Übersetzung aus dem Hebräischen von Alexander Lewin