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Popkultur

Maren Ade und ihr 'Toni Erdmann' erfinden das deutschsprachige Kino neu

In Cannes gab es Standing Ovations und der Film ist in rund 60 Länder verkauft. Wir haben mit der Regisseurin über Geschäftsfrauen, den Ausverkauf Osteuropas und alte Männer mit Hund gesprochen.
(c) Filmladen Filmverleih

Schmecken rumänische Mehlspeisen mit Spermabelag wirklich so gut? Gibt es tatsächlich eine bulgarische Militäruniform aus Fell, die wie eine Mischung aus Furry-Dungeon und Sesamstraße aussieht? Und sind Beziehungen von Vätern und Töchtern immer ein bisschen kaputt?

Nach Toni Erdmann stellt man sich so einige Fragen. Es kann auch sein, dass ihr von diesem Hype-Film aus Cannes noch gar nichts gehört habt—dann stellt ihr euch wahrscheinlich sogar noch mehr. Zum Glück haben wir die Regisseurin interviewt und somit die besten Chancen auf solide Antworten.

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Kurz zur Handlung: Ein angegrauter aber kindgebliebener Klavierlehrer, gespielt von Peter Simonischek, versucht mit peinlich vehementem Papahumor seine Karrieretochter in Rumänien aus ihrem Dasein in der Ellbogengesellschaft zu retten. (Wenn man ihren SM-Fetisch mit den erwähnten Süßigkeiten und Ejakulat bedenkt, vielleicht auch an der Zeit.)

Vaters improvisierte Witzfigur namens Toni Erdmann, die mit falschen Zähnen und Parmesan im Haar hart an Helge Schneider entlang schrammt, führt sie aber weniger aus dem verbissenen Workaholism, sondern mehr in einen mittelschweren nackten Nervenzusammenbruch. Sandra Hüller spielt diese Tochter wie eine Schauspiellokomotive und hat nicht nur mich damit umgehauen.

Auch wenn ich Kunst-und-Kultur-Hypes immer mit Vorsicht genieße, ist Toni Erdmann tatsächlich außergewöhnlich cool geschrieben, beweist feinste Charakterarbeit und im Grundtenor vor allem sehr, sehr lieb. Sogar die Musikauswahl trifft genau auf den Punkt—auch wenn man den ganzen Film über damit beschäftigt ist, diesen Punkt zu lokalisieren. Hier das Gespräch mit der extrem integren Autorin und Regisseurin Maren Ade, die trotz ihrer heiseren Stimme und mehrerer Interview-Marathons ein bisschen Zeit für uns abgezweigt hat.

Filmemacherin Maren Ade. Alle Bilder von (c) Filmladen Filmverleih

VICE: Ich habe mich nach dem Kinobesuch von Toni Erdmann wohlig warm und leicht perplex gefühlt. In welchem emotionalen Zustand soll das Publikum aus deinem Film gehen?
Maren Ade: Also der Film gehört jetzt mal den Zuschauern und die können damit machen, was sie wollen. Da wird es sicher ganz viele verschiedene Reaktionen geben. Aber damit haben wir beim Dreh schon gespielt. Es wurden unterschiedliche Versionen der gleichen Szenen und gewisse Richtungen ausprobiert, und immer mit anderer Intensität oder einem etwas anderen emotionalen Subtext versetzt. Ich wollte Gegensätzlichkeiten und Widersprüche einbauen. Im Schnitt haben wir das Ganze mal so, mal so arrangiert, und dann das genommen, was schlussendlich die Handlung am meisten bereichert. Innere Konflikte der Figuren sollten sichtbar werden—aber ohne dass man wirklich was sieht, Man spürt es einfach beziehungsweise merkt: "Da beschäftigt Ines jetzt was."

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Sandra Hüller spielt Ines, die Tochter, und ihr Charakter ist dabei zirka in deinem Alter. Wie viel hat Ines mit dir zu tun?
Ich sehe mich ja in allen Figuren des Films. Ich bin die alle irgendwie, zum Teil auch Winfried. Sein Humor, da war sicher mein eigener Vaters bisschen Vorbild. Die Frauenfigur versteh ich halt dann doch nochmal einen Deut besser und bei Ines gibt es schon viele Parallelen. Ich bin auch in einer Führungsposition, muss mich mit viel Arbeitszeit rumschlagen, Regie und den vielen Bereichen der Filmproduktion. Wie in der Geschäftswelt geht es auch dort um Hierarchien und darum, dass das Projekt über das Individuum gesetzt wird.

Innere Konflikte der Figuren sollten sichtbar werden—aber ohne, dass man wirklich was sieht!

Mir ist die extrem authentisch wirkende Business-Sprache im Film aufgefallen. Diese Szenen fühlten sich extrem realistisch an; und das ist im Film ziemlich selten. Hattet ihr Consultants für die Consultant-Figuren?
Hier haben wir eine Menge Recherche investiert und ich habe mich mit verschiedensten Geschäftsleuten unterhalten, aus verschiedensten hierarchischen Positionen. Vom Top-Manager bis zum Praktikanten. In diesen Bereich des Consultings wollte ich mich richtig einarbeiten und wissen, wie wir das gut umsetzen in den Szenen. In die Stelle des Films mit der entscheidenen Business-Präsentation habe ich wahnsinnig viel Recherche reingesteckt. Die Szene war, glaube ich, tatsächlich die meiste Arbeit.

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Winfried, der Vater, hat diese peinliche, anstrengende und dabei liebe Art von Humor.
Wie gesagt, mein eigener Vater war eine lustige Person. Der hatte wirklich einen guten ausgefeilten Humor. Der Rest ist aber erfunden. Das Gefühl kennt man natürlich. Dieses ritualisierte Scherzen. Bei Ines wirkt das auf den ersten Blick vielleicht so, als ob sie extrem verkrampft wäre und keinen Sinn für Humor hätte, aber in Wirklichkeit ist es eben für sie einfach nicht mehr so lustig, wenn der Papa zum hundertsten Mal seine Perücke aufsetzt oder mit dem falschen Gebiss dasteht.

Ines ist sehr vieldimensional. Im Film nimmt sie den Vater, der gerade in seiner "Toni"-Rolle steckt, mit auf eine rumänische Baustelle. Sie wirkt so: "Er nervt mich zwar, aber hier schiebe ich ihn vor, weil mir ja die Chauvis am Bau sonst nicht zuhören."
Zum einen kann sie Toni da an der Baustelle bei ihrer Geschäftsberatung natürlich gebrauchen, als den Fake-Partner. Das passt in ihr durchdachtes Business-Spiel rein. Auf der anderen Seite will sie da aber auch zeigen, was sie eigentlich in ihrem Job macht und bringt ihn deshalb an diesen Ort. Die Tochter will sich gegenüber dem Vater beweisen, der dem Ganzen ja kritisch gegenübersteht und nebenbei einfach so Dinge fragt wie: "Bist du eigentlich glücklich?" In dieser Sequenz am Bau schwingt vieles mit. Da ist eben die Sehnsucht nach Bestätigung, wahrer Bestätigung, und nicht nur die elterlichen Floskeln: "Wir sind ja so stolz auf unsere Tochter." Sie möchte ein tieferes Verständnis bei ihrem Vater sehen, obwohl an diesem Punkt sind beide Figuren auch schon sehr tief in ihren "Rollen" drinnen.

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Rumänien als Schauplatz zeigt uns deutsches Big Business, arme Familien und edle Hotels. Hast du da eine engere Beziehung zum Land und zu diesen Elementen?
Da habe ich sehr viel erarbeitet. Die Tochter sollte ja im Ausland arbeiten. Und mich hat in dieser Hinsicht besonders Rumänien interessiert. Nach dem Kommunismus kam hier der große Ausverkauf. Viele Firmen, darunter auch österreichische, haben im Osten was von diesem Kuchen abbekommen. Das war und ist ein Feld, wo immer noch unheimlich viel Beratungsarbeit und Consulting stattfindet. Und ich fand diese Selbstverständlichkeit so erstaunlich, mit der sich Corporate-Leute aus Deutschland dort bewegen. Wie diese Hierarchien dort immer noch vorherrschen, obwohl das längst überwunden sein müsste. Beide Länder sind in der EU. Trotzdem gibt es immer noch diese leicht herabblickende "Das Know-how kommt von uns"-Haltung aus Zentraleuropa. Für mich war es ein interessanter Aspekt, gerade diese Dynamik kritisch zu hinterfragen. Rumänien hat außerdem natürlich auch diesen krassen Gegensatz zwischen Arm und Reich, der in den Film eingeflossen ist.

Mir ist auch aufgefallen, dass Toni Erdmann keine klassische Dramaturgie aufweist. Der Protagonist wechselt einfach mal plötzlich, es gibt keinen typischen 3-Akt-Aufbau. Trotzdem fließt und funktioniert alles perfekt. Wie geht das?
Ich denke beim Dreh relativ wenig über Dramaturgie nach. Es ist halt, wie wenn man ein Buch liest—man arbeitet sich vor. Man merkt im Moment oder später im Schnitt, was passt und was nicht. Ich habe früh aufgehört, die Strukturen und die ganzen Vorgaben der "Heldenreise" strikt zu befolgen. Ich denke, man findet sowas dann oft wieder. Erst im Nachhinein merkt man oft, das ist ja jetzt wirklich wie aus dem Lehrbuch geworden. Im Schnitt entscheidet sich dann das meiste. Ja, ich bin echt zufrieden, dass der Film über diese Länge, die auch nicht geplant war, sehr gut funktioniert.

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Warum lösen alte Männer wie Winfried so schnell mitleidige und traurige Gefühle aus? Alte Frauen strahlen meistens mehr eine Aura der Dominanz und des Respekts. Wie kommt das?
Dieser Mann-Frau-Vergleich ist eine interessante Vorstellung. Da müsste ich jetzt länger darüber nachdenken, besonders wenn man sich Toni jetzt als Frau vorstellt, die ihren Sohn überrascht. Der Film wäre wahrscheinlich ganz anders. Viel bizzarer.

Ich denke beim Dreh relativ wenig über Dramaturgie nach. Erst im Nachhinein merkt man oft, das ist ja jetzt wirklich wie aus dem Lehrbuch geworden.

Wird Winfried am Ende zu seinem eigenen alten Hund? Warum löst er so eine bemutternde "Ohhh"-Reaktion aus?
Ja, der alte Mann und sein Hund, das ist ja schon ein Genre für sich eigentlich. Winfried spiegelt sicherlich den Hund vom Anfang wieder in seiner Endszene, wie er da so liegt. In dem Film passieren auch sehr viele Abschiede. Vielleicht empfindet man das emotionaler, wenn ein Mann am Ende seines Lebens eine Weichheit aufweist und im Alter Schwächen entwickelt. Das rührt einen natürlich. Bei Winfried bricht da aber auch noch einmal was Neues auf. Es kommt halt auch wieder dieses stereotypische Männerbild hinzu. Aber wie gesagt, das müsste ich mal durchdenken, sonst red ich mich noch um Kopf und Kragen.

Nein, nein, ich verstehe schon. Irgendwie steht das festgefahrene Bild von Männlichkeit ja der Emotionalität von alten Menschen stark entgegen. Was meinst du mit "für Winfried bricht was Neues auf"?
Er hat durch Ines, die Power-Frau, den Vaterstatus verloren. Die Tochter hat das Ruder übernommen und mit Toni Erdmann versucht er das wieder rumzureissen. Er will was Neues erfinden, sie dabei wieder Tochter sein lassen. Er hat noch einmal die Chance Bedeutung zu finden oder zu geben.

Aus Cannes kamen begeisterte Kritikerstimmen zum Film. Hat euer Marketing beziehungsweise die PR das irgendwie schon vorhergesehen? Gab's da Kalkulationen?
Quatsch, das weiß man gar nicht. Bei einem Kinofilm, der 166 Minuten dauert, hast du vorher nicht die geringste Ahnung! Man weiß nie, was wie ankommt, ob da jemand lacht oder das so verstanden wird, wie erhofft. Es war echt überraschend, so tolle Reaktionen zu bekommen. Natürlich "hofft" man das, aber es war nichts kalkuliert.

Trailer: 'Toni Erdmann'
Josef auf Twitter: @theZeffo