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Popkultur

'The Wolf of Wallstreet' hat mich NICHT zum koksenden Arschloch gemacht

Warum Scorseses Neuer so unglaublich gut ist, wichtige Diskussionen lostritt und die ganze Wahrheit über das Leben des echten Jordan Belfort.

Eine Freundin hat mich zur Vorpremiere von The Wolf of Wallstreet eingeladen, aber da ich ihn schon gesehen hatte, habe ich abgesagt. Ihre SMS-Reaktion am Tag danach fand ich aber sehr amüsant: "Hammer film! Jetzt kenn ich eine zusätzliche art wie man kokaien zu sich nehmen kann :-D" (sic). Das ist defintiv eine der vielen Lektionen, die uns dieser saugeniale Film erteilt.

Leonardo DiCaprio assimiliert seine Rolle, Jordan Belfort, und mutiert ohne große schauspielerische Anstrengungen zu einem gottlosen Gatsby des Börsengangs. Wir sehen ihn beim Sex, mit Friedenslicht im Popo und beim Befüllen fremder Popos mit dem Money-making Zauberpulver. Diese gesamte Produktion war von Anfang an DiCaprios persönliches Baby, so als ob er schon wusste, dass diese Geschichte Leute entsetzen, begeistern und eine Menge Erfolg haben würde.

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Er steht zu seiner—von nun an—Paraderolle, zu seinem vollblütigen Karrierezenit. Ein bisschen ist Leo ja tatsächlich der Geld scheffelnde Playboy mit den Supermodels im Arm. Klären wir also, warum The Wolf of Wallstreet der beste Scorsese seit langer Zeit ist und man über die Moralapostel nur lachen kann, die diesem jaulenden Jahrhundertfilm dramaturgische Gewissenlosigkeit und das Fehlen von Moral vorwerfen.

Ein neues Meisterstück des Königs der Regisseure mit seinem Schauspieler-Crush—seit Gangs of New York. (Foto von Universal Österreich)

The Wolf of Wallstreet zelebriert die 80er, beziehungsweise deren exzessive Überstilisierung von Gier und Geld wie wir das vielleicht aus GTA - Vice City noch kennen. Ich war in jenem Jahrzehnt leider zu klein für Quaaludes oder 'Ludes, die in diesem entgleisten Bio-Flick, weggeschluckt werden wie Smarties. Dieser zu Recht nominierte Oscar-Anwärter ist wie eine unzensierte Version von Das Geheimnis meines Erfolgs. Man fühlt sich so herrlich dreckig, wenn man den schleimigen Börsen-Betrügern ohne Ausbildung—aber mit smartem Schlachtplan—dabei zusehen darf, wie sie Hackler abzocken und ihre Taten feiern wie Primaten in Polo-Shirts.

Martin Scorsese, der 71-jährige König der Regisseure, hat ein ungeniertes Meisterstück abgeliefert, das keiner so schnell vergessen wird.Seid mir nicht böse, aber Departed war doch nur eine Ansammlung irischer Proleten (der menschliche Bodensatz Bostons ist in Mystic River, The Town oder Gone Baby Gone erinnerungswürdiger verhandelt), Boardwalk Empire ist nie richtig hängengeblieben und auch der Erfolg von Hugo scheint irgendwie schwer nachvollziehbar. The Aviator und Gangs of New York waren eigentlich Martys letzte Glanzstücke. In The Wolf of Wallstreet findet er zurück zu einem ganz frühen, unbeschwerten, frontal-in-die-Goschn-Stil, der ein bisschen verloren gegangen schien. Der Spaß am Verbrechen von Goodfellas sowie die erzählerische Egomanie und Skrupellosigkeit von Raging Bull sind zurück und lebendiger denn je.

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Foto von Universal Österreich

Die täglichen Motivationsansprachen, in denen Jordan Belfort seine Legion der Telefonisten geifernd in den Kampf ums Geld hetzt, sind perfekt inszeniert.Millionen-Beträge werden erschlichen und dementsprechend ausgelassen sieht der Feierabend aus.Das bedeutet Büroaktivitäten wie Marathonficken mit nach Qualität eingestuften Nutten, Whiskey- statt Wasserspender und Kokskonsum á la Popeye-Spinat.Und der Sekretärin werden 10 000 Dollar dafür bezahlt, dass sie sich die Haare abrasieren lässt. Warum so ausschweifend? BECAUSE WE CAN! The Wolf of Wallstreet musste genau deshalb auch einiges an schlechter (sowie qualitativ schlechter) Kritik einstecken, wie beispielsweise im Spiegel.

Plötzlich scheint jeder mit der großen Moralfrage ganz unschuldig davon ablenken zu wollen, dass sich die boshaften Abartigkeiten der Wallstreet-Partys echt lustig und verführerisch präsentieren. Seit wann haben aber Filme dieses Kalibers einen Bildungsauftrag? Und müssen die hedonistischen Verbrecher tatsächlich von der Narration bestraft oder mit der Obvious-Ethik-Keule mit „Sowas tut man nicht!" gekennzeichnet werden? Wir sind alle mündig und können uns moralisch orientieren. Nur weil echte Mafiosi damals begonnen haben, die Corleone Familie zu imitieren, nachdem The Godfather angelaufen war, stellt der Klassiker trotzdem keine Gefahr dar und war unglaublich wichtig für die Filmgeschichte. Der Anspruch von The Wolf of Wallstreet ist gerade deshalb so spannend, weil nicht erzogen, sondern unkommentiert konfrontiert wird—und das mit hohem Unterhaltungswert.

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Die göttliche Opening-Szene habe ich (komischerweise) nirgends als Screenshot gefunden. Deshalb habe ich es grob skizziert. (Foto von VICE Media)

Ja, Exzess wird glorifiziert und ja, man kann den ganzen amoralischen Wahnsinn sogar spannend finden. Aber wer The Wolf of Wallstreet nur aufgrund des ausartenden Drogen-Sex-Luxus unreflektiert verurteilt, übt nicht wirklich Kritik am Film, sondern an einem gesichtslosen, saudummen und durch alles beeinflussbaren Publikum. Dann hoffen wir mal, dass jetzt nicht alle in unserer Idioten-Gesellschaft im Affekt zu Wallstreet-Brokern werden und sich gegenseitig Koks in den Arsch blasen.

Genau dafür schauen wir doch Filme, um komplett fremde Schicksale, deren Glamour oder unmittelbare Bösartigkeit live mitzuerleben—auch wenn es „bloß" für ein paar Stunden ist. The Wolf of Wallstreet ist stolz und für niemanden außer sich selbst verantwortlich. Hier nimmt uns niemand schützend bei der Hand. Wer nicht erkennt, dass die Protagonisten des Films menschlicher Abschaum sind, obwohl es quasi laut in die Kamera geschrien wird, gehört wohl zu der bereits erwähnten, gefährlich einfach beeinflussbaren Demografie. Jordan Belfort hat es gegeben und als er in den 90ern medial als verbrecherischer Wallstreet-Player angegriffen wurde, bekam er mehr Jobangebote und Job-Bewerbungen als je zuvor. So gesehen, ist der Film selbst auch wie eine von Belforts Power-Ansprachen. Wir lassen uns den gierigen Kopf verdrehen und sobald wir brutal gegen die Wand donnern, verurteilen wir den Typen, dessen Leben wir gerade noch haben wollten.

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Die schrägsten Szenen und Fakten in The Wolf of Wallstreet sind von Time Entertainment auf Wahrheitsgehalt überprüft worden. Die Betrugsmillionen, die Belfort mit Hilfe von eingeheirateten Verwandten in die Schweiz schmuggelte, seine von Coco Chanel gekaufte Yacht, die er bei Italien versenkte, sowie die Prostituierten-Partys, die auf der Firmenkreditkarte verbucht wurden, sind Fakt! 2004 verbrachte Belfort 22 Monate im gemütlichen, bundesstaatlichen Gefängnis von Kalifornien mit Tommy Chong, das Hippie-Kiffer-Maskottchen der letzten 30 Jahre, als Zellengenossen. Der hat Belfort dann—nach Chongs eigenen Angaben—überredet, seine Memoiren zu schreiben.

Jordan Belfort, der originale Wolf der Wallstreet, war schon lange ein Guru für die Geldgeilen. Seine Bücher The Wolf of Wallstreet (2008) und Catching The Wolf of Wallstreet (2009) waren bereits wie heilige Testamente für Wallstreet-Lifestylisten und Yuppies. Manche verehren diese guten alten Zeiten Ende der 80er und Anfang der 90er, so wie jeder Möchtegern-Gangster 50 Cent hört und Scarface schaut—an den The Wolf of Wallstreet übrigens auch sehr stark erinnert. Patrick American Psycho Bateman hätte Belforts Bücher und die Verfilmung seines High-Lebens sicherlich in der Mediathek.

Der echte Jordan Belfort gibt heute noch seine Straight Line-Seminare für die Typen, die schnell reich werden wollen … und küsst das eine oder andere unglückliche Baby. (Foto Jordan Belfort !!!)

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Belfort selbst bezeichnet sich in diesem Video-Interview (2007) als einen „vorsichtigen Verbrecher". Eine kranke, ambivalente Antihelden-Sympathie entsteht für diesen Schleimo. Er ist ein Archetyp, eine Metapher, die sich selbst am besten beschreibt. Der Sack, der interessiert. Gerade dann, wenn Geschichten kursieren, dass seine sämtlichen Einnahmen—Tantiemen, Film- und Buchrechte—beschlagnahmt werden sollen. Gerichtlich wurde nämlich verfügt, dass er 50% seiner Einkünfte abgeben müsse um die Opfer seiner Abzockereien in den 90ern zu entschädigen. Er rückt aber nichts raus. In den letzten Wochen gab Belfort wie ein verdammter Heiliger an, dass er mit Freuden 100% der Buch- und Filmeinkünfte abgegeben würde, aber leider verdiene er NULL an den Bestsellern und am Oscar-Kino. Seine Anwälte reagieren auf Drängen der Exekutive mit der Argumentation, dass nun die Zeit der gesetzlichen Finanz-Überwachung Belforts vorbei sei und seine Verpflichtungen nicht nachweisbar eingefordert werden können. Somit scheint es, als ob der Leitwolf immer noch frisch und munter alle verarscht.

Von seiner echten Flickr-Seite aus, teilt Belfort noch immer gerne Fotos seiner Glanzzeiten als Leute bescheißender Broker-Gott. (Foto von Jordan Belfort)

Was The Wolf of Wallstreet so perfekt macht, ist, dass er nicht ganz perfekt ist. An vielen Ecken und Kanten spürt man die Unmittelbarkeit des Filmemachens wie bei Kratzern auf Zelluloid oder dem Surren eines Projektors. Scorsese inszeniert absurde Unterhaltungen über Zwergenweitwurf, Homophobie und asiatische Restaurantketten, die alle um ein paar Minuten zu lang wirken. Tatsächlich wurde in der Post-Production des Films etwas gestresst und der finale Schnitt ist voreilig fertiggestellt worden. Und man merkt das auch, aber es macht verdammt nochmal Spaß.

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Das selbstreferenzierende Hollywood ist auch durch Rob Reiner (This is Spinal Tab, Misery, When Harry met Sally, …) und Spike Jonze (Her, Being John Malkovich, die besten Musikvideo-Projekte seit den 90ern und das Sabotage Video von den Beastie Boys) vertreten. Beide sind stadtbekannte Regisseure und besetzen in The Wolf of Wallstreet ziemlichwitzige Nebenrollen. Eigenen Angaben nach sind Schauspieler, die das Leid der Regie wirklich kennen, sehr kooperativ und zurückhaltend. Jonah Hill als Tennis-Pullover-Tic-Tac-Fresse und Partner von Belfort, entlockt uns auch viele grausliche Lacher und onaniert überzeugend auf jeder Poolparty—auch wenn ich seine Annäherungen zu Oscar-Filmen in den letzten Jahren nicht ganz verstehe. Margot Robbie ist auf den ersten Blick nur Dekolleté-ration und auch die Tatsache, dass sie wie die meisten weiblichen Figuren des Films mindestens in einer Szene komplett nackt ist, macht sie nicht wirklich integer oder zur nächsten Meryl Streep. Aber wie sie ihren langsam gärenden Abscheu gegenüber dem herumhurenden Ehemann subtil aufblitzen lässt, macht einiges an Talent deutlich. Die 23-Jährige ist echt mehr als nur ein Barbie-Gesicht mit Schenkel zum Anbeißen.

Foto von Universal Österreich

Es ist ein netter Fun-Fact, dass The Wolf of Wallstreet die meisten Fucks der Filmgeschichte zählt—wenn man die eine Doku über das Wort Fuck nicht mitrechnet—, nämlich 569 Mal in drei vollen Stunden, die erstaunlicherweise nie fad werden. Danach kann man wunderbar bei Bier und Nüssen die Message oder das Fehlen einer solchen diskutieren. Wollen wir nicht auch in Wirklichkeit viel Geld, Sportwägen und geile Partner, und sind trotzdem nicht genau solche Arschlöcher mit ihrer Gier nach schnellem Geld Schuld, dass wir keine Pensionen mehr bekommen?! Brauchen wir den Wegweiser zwischen „Gut" und „Böse" oder kann ein Film einfach unmoralisch Spaß machen? Entscheidet selbst, ihr seid eh schon groß. Seit gestern ist The Wolf of Wallstreet im Kino und es schleicht sich tatsächlich das Gefühl ein, dass da auf der Leinwand—auf drogensüchtige und niederträchtig kopulierende Art und Weise—Filmgeschichte geschrieben wird.

Wohlsein

Josef Zorn auf Twitter: @theZeffo

Foto von Universal Österreich