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Die Absurdität der Verschwörungstheorien um Flug MH370

Das Verschwinden des Flugzeugs mit 239 Menschen an Bord ist eine Tragödie, über die eine Menge Lügen verbreitet werden.

Eine Boeing 777 der Malaysian Airlines, die auch beim verschwundenen Flug MH370 eingesetzt wurde (Foto via)

Es kommt vor, dass Flugzeuge abstürzen. In einer Welt nach dem 11. September scheint dies jedoch nicht mehr interessant genug sein. Es scheint nicht mehr möglich zu sein, einfach zu berichten, dass der Flug MH370 abgestürzt ist, wir aber nicht wissen, wo und aus welchem Grund. Stattdessen wird erwartet, dass wir mit allen Informationsfetzen, die wir nur kriegen können, den exakten Verlauf des Geschehens nachzeichnen.

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Nachrichtenagenturen geben alles, um die 24-Stunden-Nachrichtenkanäle zu versorgen, und Liveblogs stürzen sich auf die noch so dürftigen Informationshäppchen, die ihnen vorgeworfen werden, und kauen sie durch, bis nichts mehr von ihnen übrig bleibt. Sollten die Fakten einmal ausgehen, ist immer noch auf die sogenannten Experten Verlass, die aus den dünnsten und fragilsten Indizien ganze Geschichten spinnen.

Für die meisten von uns ist die Boeing 777 wahrscheinlich das, was der Vorstellung eines Wunders am nächsten kommt. Das Flugzeug besteht aus drei Millionen Teilen, die von 500 verschiedenen Lieferanten stammen, aber Millionen Meilen lang perfekt harmonieren. Autohersteller würden für das Sicherheitsprotokoll dieser Maschine Morde begehen. Von einem Wunder zu sprechen, wäre jedoch eine Beleidigung der Fähigkeiten und Anstrengungen der Tausenden Ingenieure, die für die Konstruktion des Flugzeugs verantwortlich sind. Im Grunde sollte es jedes Mal, wenn eines dieser Luftfahrzeuge einen erfolgreichen Flug hinter sich bringt, einen Jubelsturm ob dieser großartigen Leistung geben.

Außerdem sind von einem Flugzeugabsturz im Vergleich zu einem Zugunglück oder bei allen Autounfällen jährlich relativ wenig Menschen betroffen. Es besteht kein Zweifel darüber, dass das Verschwinden des Flugs MH370 für die Passiere und ihre Familien furchtbar ist. Aber wie viele Menschen kommen jeden Tag bei Unfällen mit Autos, Motorrädern und Fahrrädern ums Leben?

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Dies ist jedoch nicht das Einzige, was die Presse in ihrem Wettlauf um Berichte und Leser nicht verstanden hat. Die weitaus bedenklichere Fehleinschätzung betrifft die Berichte um die gestohlenen Pässe, die in den letzten Tagen für die Konstruktion eines absurden „Terrorismus“-Narrativs genutzt wurden, das jeder Beweisgrundlage entbehrte und nun ja auch verworfen wurde.

Zwei Pässe, die für den Flug genutzt wurden, sind als verloren bzw. gestohlen identifiziert worden, was darauf hindeutet, dass zwei Passagiere unter falschem Namen an Bord gegangen sind. In Verbindung mit dem großen muslimischen Bevölkerungsanteil in der Region reichte dies bereits aus, um Theorien über einen terroristischen Hintergrund des Vorfalls zu entfachen.

Interpol bestätigte zwar, dass zwei der für den Flug genutzten Pässe in ihrer Datenbank für verlorene und gestohlene Reisedokumente registriert sind, wies aber zugleich darauf hin, dass bis zu 40 Millionen derartiger Pässe im Umlauf sein könnten. Die Kontrollen seien in den meisten Ländern so lax, dass „Passagiere mehr als eine Milliarde mal an Bord eines Flugzeuges gehen konnten, ohne dass ihre Pässe mit der Interpol-Datenbank abgeglichen wurden.“

Es stellte sich heraus, dass gefälschte Pässe erstaunlich häufig sind. Aber selbst, wenn es anders gewesen wäre: Seit wann benutzen Terroristen gestohlene Pässe? Die Entführer vom 11. September haben es jedenfalls nicht getan.

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Dennoch waren die Medien nicht davon abzuhalten, sich an diesem Verschwörungsnarrativ festzuklammern. Dienstag hatte der „Experte für Luftsicherheit“  Philip Baum in einem Bericht für die Daily Mail die Hypothese eines militanten Komplotts zusammengebastelt, in dessen Zentrum die Islamische Partei Ostturkestans (ETIM) stand. „Könnte es sein, dass die ETIM, der es durch inländische Anschläge nicht gelungen ist, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf sich zu ziehen, nun international agiert?“ Wenn dem so sein sollte, hält sie sich sehr bedeckt mit ihrer Aktion.

Unter den skurrileren Theorien findet sich die Annahme, dass die 20 Angestellte der Halbleiterfirma Freescale, die mit dem Flug verschwundenen sind, an einem Experiment elektronischer Kriegsführung beteiligt waren. „Es könnte ,Tarnungs‘-Technologien umfassen, bei denen hexagonal angeordnete glasähnliche Platten dazu benutzt werden, Licht auf ein Objekt, zum Beispiel ein Flugzeug, zu beugen, wie es in einem Bericht auf Beforeitsnews.com hieß“, spekulierte man in der Daily Mail und ließ dabei die Tatsache unter den Tisch fallen, dass die zitierte Seite auch Berichte mit Titeln wie „Alientechnologie in Menschenzähnen entdeckt?!“ veröffentlicht.

Das äußerste Ende des Spektrums der Verschwörungstheorien wird fraglos von Mike „Health Ranger“ Adams besetzt, dem Gründer von Natural News, einer Seite, die sich darauf spezialisiert hat, Leute, die dämlich genug sind, auf Facebook auf die Seite hereinzufallen, mit Schwachsinn zu versorgen. Der Slate-Journalist Brian Palmer beobachtete kürzlich, dass Adams äußerst geschickt darin ist, das soziale Netzwerk für seine Zwecke zu nutzen, und über die „unheimliche Fähigkeit [verfügt], gebildete Menschen von harmlosen Diätbeiträgen über medizinischen Unsinn hin zu einem regierungsfeindlichem Fanatismus zu lenken“. Natural News hat eine ganz eigene Sichtweise auf Facebook: „Schlimmer als Meth: Facebook verändert deine Psyche und macht dich zum Sklaven“. Die Posts von Natural News werden dich wahrscheinlich nicht versklaven, vielleicht aber verdummen.

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Auch Adams hat eine Theorie über den Flug 370, vorausgesetzt, man kann sechs Hirnfurze und eine unlogische Folgerung als „Theorie“ bezeichnen. Wie bei den meisten Verschwörungstheorien nimmt Adams eine Reihe kaum zusammenhängender und aus dem Kontext gerissener „Fakten“ und vermengt sie mit einer starken Dosis paranoider Schuldzuweisungen. Ein plausibler Sinnzusammenhang lässt sich daraus jedoch nicht rekonstruieren.

Für die pseudoreligiösen Gemüter der Verschwörungstheoretiker ist das bisherige Unvermögen, die Blackbox oder Trümmer des Flugzeugs ausfindig zu machen, nicht nur ein Beweis dafür, wie schwierig es ist, auf hoher See eine winzige Box zu lokalisieren (die Suche nach dem Flugschreiber des Air-France-Flugs 447 dauerte zwei Jahre), sondern vielmehr der Beweis dafür, dass dunkle und mysteriöse Kräfte am Werk sind.

„Wenn wir keine Überreste finden, bedeutet das, dass eine völlig neue, mysteriöse und mächtige Kraft auf unserem Planeten aktiv ist, die Flugzeuge vom Himmel ziehen kann, ohne auch nur den Hauch einer Spur zu hinterlassen“, postulierte Adams. „Wenn es eine Waffe mit derartigen Fähigkeiten gibt, dann ist derjenige, der sie kontrolliert, in der Lage, alle Nationen der Erde mit einer furchterregenden Militärwaffe von unvorstellbarer Stärke zu beherrschen.“

Es ist recht einfach, sich über Verschwörungstheoretiker aus dem Internet lustig zu machen, doch im Grunde genommen sind ihre Spekulationen nicht besonders weit von denen der Mainstreammedien entfernt. Mit all den Hypothesen wird ein Vakuum gefüllt—der Unterschied besteht nur darin, dass einige Berichte aus einem etwas plausiblerem Boden sprießen. Dennoch gibt es für einen Terrorangriff ebenso wenige Beweise wie für einen Raketenangriff—beide Theorien gründen auf der Vorstellung eines Monsters unter dem Bett. Für Verschwörungstheoretiker ist dieses Monster die US-Regierung oder die Neue Weltordnung, für die Daily Mail sind es muslimische Extremisten mit unbehaglich klingenden Namen.

Das Szenario hat religiöse Anklänge, vielleicht ist es sogar in gewisser Weise religiös. Es scheint auf das tiefsitzende Bedürfnis nach einer Entität—einer unsichtbaren Hand—zu verweisen, die die Ereignisse lenkt. David Aaronovitch hat in Voodoo Histories darauf hingewiesen, dass die Alternative zu entsprechenden Theorien noch beängstigender sein könnte: Die Alternative ist ein Universum, das sich nicht darum kümmert, ob wir leben oder sterben, das nichts auf die Narrative gibt, mit denen wir unserem Leben Sinn verleihen, und in dem sich der Tod einfach ereignet, zufällig und unvorhergesehen.

Die Ironie bei der Sache ist, dass es—unter der Lawine der Spekulationen—durchaus ein paar interessante Berichte gibt, die weitgehend ignoriert worden sind. Zum Beispiel darüber, dass die Kontrollen trotz all der angeblichen Ausweitungen der Flughafensicherheit nach 9/11 noch immer so schlecht sind, dass Leute mit gestohlenen Pässen reisen können. Oder darüber, dass—in einer Ära der Highspeed-Breitbandverbindung, in der mit Hilfe von 40 Jahren alten Technologien Daten aus allen Ecken des Sonnensystems übertragen werden können—bei der Suche nach Flugzeugdaten noch immer Schiffe und Taucher losgeschickt werden müssen. Warum werden diese Daten nicht einfach in Echtzeit übertragen?

Diese und andere Fragen erscheinen mir bei Weitem interessanter als Theorien über unsichtbare militante Muslime oder Laserstrahlen sendende Regierungen.