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Freiwillig den ganzen scheißkalten Winter im Wald eingeschneit

Bojan lebt den ganzen Winter lang bei diesem verdammten Schnee am liebsten im Wald. Und wir Luschen fangen schon an zu heulen, wenn mal jemand für zehn Sekunden das Fenster auflässt.

Es hat geschneit—schon wieder! Seit einem gefühlten halben Jahr sind wir in der Schneekugel gefangen und lassen uns lieber im warmen Zuhause von der Glotze berieseln, als in den matschigen, kalten Dauerschnee zu stapfen. Die Frühjahrskollektion setzt Staub an. Nichts da mit draußen sitzen im Caé, Sonnenbrille und dem Ende des Zwiebelprinzips an der Feiergarderobe. Der Endloswinter verursacht aber auch ganz echte Probleme. Für Menschen ohne Wohnung wird er zum lebensbedrohlichen Dauerzustand. Gerade starben wieder zwei Obdachlose, als sie in einem leer stehenden Plattenbau Schutz vor der Kälte suchten.

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Bojan Peterka hingegen lebt seit 19 Jahren auf der Straße—freiwillig und zu jeder Jahreszeit. Zweistellige Minusgrade, Unterernährung, Einsamkeit—an all das hat er seinen Körper gewöhnt. Bojan ist ein Experiment.

Hier irgendwo inmitten der Bäume in der Großstadt liegt sein Versteck. Die Spuren im Schnee, die zu seinem Unterschlupf führen, werden eskortiert von verschiedenen Abdrücken heimischer Wildtiere.

Seit acht Tagen ist er nicht mehr an seinem Baum aufgetaucht, seiner festen Stelle, dort, wo er seit 19 Jahren sitzt und bettelt. Die kältesten Nächte des Jahres liegen hinter uns. Bojan verbrachte sie im Wald, unter einer Plane, auf einem Lager aus Schlafsack, Decke und Plastiktüten. Es ist schon dunkel, als ich im Schein der Taschenlampe seine Unterkunft entdecke. Ich rufe seinen Namen, Bojan antwortet.

„So richtig gefroren habe ich nicht", sagt er, „aber schlafen konnte ich acht Nächte lang nicht. Ich hätte nicht gedacht, dass mich bei den Temperaturen eine Erkältung erwischt, aber das musste mal wieder sein. Ich habe um jeden, dem ich begegnet bin, einen Bogen gemacht. Ich wollte niemanden anstecken. So wie ich mich gefühlt habe, das wünsche ich wirklich keinem." Ich denke an meine eigene, ein paar Tage zurückliegende Erkältung. Ich war mir sicher, mein Ende nahen zu spüren, inmitten von Apothekenschachteln, Wärmflasche und Daunendecke. „Seit gestern geht es wieder aufwärts, ich bin aus dem Totenreich zurückgekehrt", klärt mich Bojan auf. „Was für ein irres Gefühl, sich zu strecken und zu recken ohne Schmerzen. Wie ein Baum habe ich mich gefühlt, als wäre ich zwei Meter größer als sonst. Und wenn ich Glück habe, ist in zwei bis drei Tagen alles vorbei und nur noch eine weitere alte Erinnerung."

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Bojan trinkt nicht, wahrscheinlich rettet ihm dieser Umstand das Leben. Er ist sich seiner selbst und der Umwelt, die ihn umgibt, voll bewusst. Seine Worte sind von einer Aufrichtigkeit und Gelassenheit, wie ich sie mir selbst oft wünsche. Bojan ist mit sich im Reinen. „Irgendwann hab ich den Bammel verloren, die Angst vor dem Frieren und der fehlenden Geborgenheit einer Hütte", sagt er. „Ich glaube, das ist auch ein Grund, warum ich raus bin, um zu sehen, was der Körper so alles aushält—und der Geist. Ich habe mir das ja ausgesucht." Was sich für ihn verändert hat in den letzten 19 Jahren, möchte ich wissen. „Nichts", antwortet er mir nach kurzem Überlegen. „Ich bin ein bisschen klarer geworden … und dünner. Ich denke, wir tun alle dasselbe. Wir suchen nach Klarheit."

Ob er noch etwas braucht, frage ich mehr aus Höflichkeit. Bojan wiegelt ab, er sei versorgt und zufrieden. Neulich habe er von seiner Freundin Gabi drei Stück Geburtstagskuchen aufgenötigt bekommen, damit habe er den benachbarten Mäusen ein Festmahl bereitet. Er selbst vertrage das nicht so. „Durch die Kälte und die Krankheit habe ich irgendwie tiefer geatmet, deshalb hatte ich auch keinen Hunger", ergänzt er.

Meine Ohren frieren. Ich kann vor Kälte kaum die Kamera halten. Nach 30 Minuten spüre ich meine Füße nicht mehr. Es ist Zeit zu gehen. Ich wünsche Bojan zum Abschied baldige Genesung und sage ihm, dass er auf sich aufpassen soll. „Du bist mit dem Auto hier", antwortet er. „Dir kann viel mehr passieren als mir."