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Reisen

Ich bin lesbisch und von Paris nach Istanbul gezogen und keiner kann's verstehen

Als Frau hat man es in Istanbul nicht immer leicht, vor allem, wenn man ein Problem mit gierig stierenden Männern hat. Und vor allem, wenn man auf Frauen steht.

Der Bosporus: einer der Gründe dafür, dass ich nach Istanbul gezogen bin. Alle Fotos mit freundlicher Genehmigung der Autorin

Ich bin eine Frau, die in Istanbul lebt und die in der lokalen Presse immer häufiger auf Artikel stößt, in denen der Autor erklärt, warum er der Türkei den Rücken zugewandt hat. Und weil ich aus keiner geringeren Stadt als Paris hergezogen bin, will einfach jeder von mir wissen, warum zum Teufel ich in die Türkei gegangen bin. Oh, und habe ich schon erwähnt, dass ich auf Mädels stehe?

Laut den Leuten, mit denen ich in Istanbul viel Zeit verbringe, verkommt die Türkei dank der AKP—der konservativen Regierungspartei—immer mehr zu einem reaktionären Staat. In den letzten Jahren wurden kontinuierlich die Rechte von Frauen, Homosexuellen und so ziemlich jedem, der nicht zu Recep Tayyip Erdoğans Fantasiegebilde eines osmanischen Reichs passt—beschnitten. Das wird schon deutlich, wenn du hier das politische Geschehen verfolgst—oder einfach nur durch die Straßen gehst. Seitdem ich vor zwei Jahren nach Istanbul gezogen bin, wurde mir schon mindestens dreimal nachgestellt. Das eine Mal übrigens am hellichten Tag und auf einer belebten Straße! Ich wurde auch schon ein paar Mal beschimpft und mehrere Männer kamen auch auf die tolle Idee, mich begrabschen zu müssen. Die genauen Umstände dieser Übergriffe sind übrigens sekundär. Viel schlimmer ist die Tatsache, dass bisher noch kein Tag in dieser Stadt vergangen ist, an dem ich nicht wie ein Objekt behandelt wurde.

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Istanbul Gay Pride 2013. Auf dem Schild steht: „Wir sind Freddie-Mercury-Soldaten"

Meine türkischen Freunde sind größtenteils sehr rabiate Frauen. Sie schicken aufdringliche Männer mit einer solchen Virtuosität weg, dass mir jedes Mal die Spucke wegbleibt. Ich bin leider noch in der Lernphase, was diese Kunst betrifft. Dafür habe ich schon andere Superkräfte entwickelt: Ich kann beispielsweise durch die Straßen gehen, ohne mich im Geringsten um meine Umgebung zu kümmern—oder sagen wir besser: um meine männliche Umgebung. Das wiederum heißt aber in vielen Fällen, dass ich gar nichts mehr anschauen kann. Eine Freundin von mir hat es ziemlich gut zusammengefasst: „Die Stadt ist echt wundervoll—hier kannst du alles machen, was dein Herz begehrt. Aber was du auch tust, kannst du sicher sein, dass dir ein Mann dabei zuschauen wird."

Um besser zu verstehen, was in den Straßen Istanbuls passiert, muss man eigentlich nur mal eine Zeitung aufschlagen. Im vorletzten Jahr haben mehrere hochrangige Politiker erklärt, dass lautes Lachen in der Öffentlichkeit nicht mit der Tugendhaftigkeit türkischer Frauen zusammenpassen würde. Außerdem würde die Arbeitslosigkeit höher ausfallen, weil auch Frauen arbeiten dürfen. Und, klar, Vergewaltiger sind natürlich weniger kriminell als Frauen, die abtreiben. Doch damit nicht genug: Zwischen 2002 und 2011 ist die Zahl an Ehrenmorden um 1400 Prozent gestiegen.

Party im Şarlo—eine tolle Bar, die mittlerweile geschlossen ist

Also, hier kommt meine Antwort an alle meine besorgten Freunde: Ich weiß selber nicht mehr so genau, warum ich eigentlich hierher gezogen bin. Vielleicht lag es daran, dass die Istanbuler Clubszene in ganz Europa einen super Ruf besitzt. Ich habe sogar schon so einige gehört, die zum Besten gaben, dass „Istanbul das neue Berlin" ist. Bei dem Satz kann ich aber nur lachen. Wenn ich auf dem Taksim-Platz feiern gehe, erlebe und genieße ich eine Brüderlichkeit—und eine Vielfalt—die ich in dieser Form in Paris noch nie gesehen habe (übrigens auch nicht in Berlin). Doch du musst wissen, dass du als Tourist die Stadt ganz anders wahrnimmst. Du kannst Istanbul hundertmal besuchen und trotzdem nichts von all der sozialen und sexuellen Gewalt mitkriegen. Selbst wenn du dich hier niederlässt, merkst du anfangs gar nicht, wie groß die Stadt eigentlich ist. Erst nach und nach dämmert dir, dass die Bezirke, in denen du als Zugezogene für gewöhnlich lebst oder weggehst—also Taksim, Beşiktaş oder Kadıköy—die Ausnahme und nicht die Regel darstellen.

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Als ich damals ankam, fiel meine Wahl auf einen konservativen Stadtteil—zum Entsetzen meines schwulen türkischen Mitbewohners in spe. Der wollte am liebsten in Cihangir wohnen, ein moderner Bezirk, der vor allem bei Expats sehr beliebt ist. Doch weil mich Letztere meistens langweilen, habe ich das abgelehnt und stattdessen meinen Kopf durchgesetzt. In meinem Wunschbezirk angekommen, haben wir für mehrere Monate unsere Nachbarn glauben lassen, dass wir verheiratet sind, denn das schien uns das Einfachste zu sein. Bis Erdoğan dann verbieten wollte, dass unverheiratete Studenten und Studentinnen zusammenwohnen. Denn da begannen für uns ziemlich stressige Zeiten.

Die Autorin und ihre Freundin bei der letzten Gay Pride in Istanbul

Heute leben meine Freundin und ich in Cihangir. Im nächsten Sommer wollen wir in Frankreich heiraten, obwohl ich weiß, dass unserer Bund der Ehe in der Türkei rein gar nichts wert sein wird. Ich habe eigentlich nie besonders viel von der Institution Ehe gehalten, aber mittlerweile kreisen meine Gedanken fast ausschließlich darum, wie lange wir noch in Istanbul bleiben können, bis die Situation hier so richtig aus den Fugen gerät.

Laut den Vereinten Nationen befindet sich die Türkei nur auf Rang 123 (von insgesamt 130 Ländern), was die Gleichstellung der Geschlechter betrifft. Hier kann es schon ausreichen, dich als homosexuell zu outen, damit du am Ende ohne Job, Wohnung oder sogar deine eigene Familie dastehst. Und das alles in einem Land, das den Frauen schon 1934 das Wahlrecht zusprach—mehr als zehn Jahre früher als Frankreich—und wo viele erfolgreiche Popstars transsexuell sind. Die Türkei ist einfach ein grenzenlos paradoxes—um nicht zu sagen schizophrenes—Land.

Ich bin eine privilegierte Frau. Ich besitze einen Pass, der es mir erlaubt, zu jeder Zeit das Land zu verlassen. Nicht so meine türkischen Freunde, die Himmel und Erde in Bewegung setzen müssen—und dazu noch viel Geld auftreiben sollten—, um ein für drei Tage gültiges Schengen-Visum zu bekommen. Manchmal glaube ich fast, ich werde erst dann voll integriert sein, wenn ich mich für die wohl türkischste Sache entscheide und einfach das Land verlasse.

Aber warum bin ich überhaupt nach Istanbul gekommen? Da ich (leider) immer besser darin werde, unbequemen Fragen dieser Art aus dem Weg zu gehen, weiß ich natürlich auch auf diese keine Antwort. Das einzige, was mir dazu einfällt, ist der folgende Gedanke: Ich habe mich einfach in diese Stadt verliebt.