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Vice Blog

Ich habe ein Trump-Malbuch koloriert und dabei über den Zustand der Welt nachgedacht

Immer mehr erwachsene Menschen greifen in ihrer Freizeit zu Buntstiften und Malbuch. Wir erklären euch, warum ihr mit dem Scheiß gar nicht erst anfangen solltet.

Anschläge, Amokläufe, ein Putschversuch, das Brexit-Votum und die mögliche Aussicht auf Donald Trump als nächsten Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika: Im Jahr 2016 hat ganz offensichtlich irgendjemand drauf vergessen, zwischendurch auch mal wieder auf die Pause-Taste zu drücken. Neben dem neuen Gilmore Girls-Trailer sind meine Timelines derzeit voll mit Echtzeit-Informationen von Ereignissen, die man ohne den Gilmore Girls-Trailer kaum ertragen könnte.

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Der daraus resultierende Eskapismus ist mittlerweile mehr als offenkundig: Während die eine Hälfte der westlichen Weltbevölkerung drauf und dran scheint, Pokémon-Trainer als ernsthaften zweiten Bildungsweg für sich in Erwägung zu ziehen, scheint die andere ihr Zen bereits gefunden zu haben. Und zwar in Malbüchern. Ich wollte zu zweiteren gehören.

Der Wahnsinn hat einen Namen

Das Phänomen nennt sich "Adult Coloring" und ja, es geht dabei um erwachsene Menschen, die wie besessen Malbücher ausmalen. Ausgehend von einer Handvoll Esoteriker, die mit Mandalas den Weltfrieden herbeimalen will, hat sich diese Bewegung zu einem weltweiten Trend entwickelt, dem mittlerweile Millionen von Menschen folgen.

Das gipfelt darin, dass Malbücher für Erwachsene seit geraumer Zeit sowohl englisch- als auch deutschsprachige Bestsellerlisten dominieren. Stifte-Hersteller, die in den vergangenen Jahren aufgrund der Digitalisierung mit wirtschaftlichen Einbußen zu kämpfen hatten, müssen neuerdings Sonderschichten fahren. Und obwohl die positive Wirkung von Malbüchern wissenschaftlich nicht erwiesen ist, sprechen Psychologen in diversen Medienberichten von einer stresslösenden und entspannenden Wirkung, die das Kritzeln auslösen soll. Wurden zu Beginn der Bewegung noch bevorzugt kitschig-romantische Motive aus dem Tier- und Pflanzenreich koloriert, bleibt mittlerweile kein einziges popkulturelles Thema mehr von der Mal-Wut verschont. Ein paar besonders ausufernde Beispiele sind Malbücher von Star Trek , Ryan Gosling oder Drake.

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Der Selbstversuch

Können sich Millionen von Menschen wirklich irren? OK, ja, sie können, aber noch bevor mein Verstand zu dieser Antwort kommen kann, landet schon ein Trump-Malbuch in meinem virtuellen Warenkorb. Ein kurzer Blick hinein verspricht unter anderem Trumps Gesicht auf Mount Rushmore, Trump als ägyptische Sphinx oder Trump schachspielend mit Putin. Ich spitze vorsorglich den orangen Buntstift, warte auf die Lieferung und lasse mich von allen abendlichen sozialen Verpflichtungen für die kommende Woche entschuldigen.

Als erstes Ausmalmotiv wähle ich das ikonische "We Can Do It"-Poster, bei dem das Gesicht der fiktiven Figur Rosie the Riveter, mit der die amerikanischen Behörden im Zweiten Weltkrieg für das Engagement von Frauen in der Rüstungsindustrie geworben haben, durch jenes von Trump ersetzt wurde. Noch bevor ich mir über diesen politischen Aspekt Gedanken machen will, entwickle ich einen pathologischen Ehrgeiz dafür, nur ja nicht über den Rand hinaus zu malen und eine beeindruckende Schattierung hinzubekommen.

Zugegeben: Der Geruch der Farbe und das Geräusch des Stiftes, wenn er über das Papier fährt, haben eine beruhigende Wirkung. Die Zunge seitlich rausgestreckt und auf den Knien hockend nach vorne gebeugt, fühle ich mich tatsächlich ein bisschen an die Zeit von vor über 20 Jahren zurückerinnert.

Am Ende der zweistündigen Malsession bin ich sogar ein wenig stolz—auf was auch immer. Spätestens am vierten Abend, an dem ich Malbuch und Stifte meinen Freunden und Trash-TV auf der Couch vorziehe, dämmert mir, dass es da eigentlich etwas gibt, das ich gemeinhin für mein Leben halte und das ich wirklich nicht für ein Malbuch aufgeben möchte. Und ich frage mich: Wer würde so etwas ernsthaft tun?

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Wer also sein letztes Stückchen Freiheit aufgibt, um nach Vorgabe Motive auszumalen, der hat das Game, das sich Leben nennt, verloren.

Leute, die nämlich noch immer glauben, ein Malbuch könnte sie vor ihrem nächsten Burnout bewahren oder den Kollaps der Welt erträglicher machen, sollten nun anstatt ihrer Buntstifte lieber die Ohren spitzen:

1. Ihr werdet nicht der nächste Picasso.

Ihr habt von euren Freunden und Bekannten und wahrscheinlich auch von eurer Mutter anerkennende Worte für eure "Kunstwerke" bekommen. Vielleicht habt ihr sogar ein Herz oder ein staunendes Emoji dafür auf Facebook abgestaubt. Die Wahrheit ist aber: Auch wenn man absolut taltentbefreit ist, sollte es machbar sein, ein vorgefertigtes Motiv auszumalen. Das soll natürlich nicht die Leistung, einen Stift von rechts nach links und von oben nach unten zu bewegen, schmälern, ABER: Das hat nichts mit Talent, Kreativität und schon gar nichts mit Kunst zu tun.

2. Es gibt keinen Weg zurück.

Das Leben im Uterus eurer Mutter war mit Sicherheit unbeschwerter als es das heute ist. Nachdem ihr den ersten Schock des Geburtstraumas überwunden hattet, folgten ein paar mehr oder weniger annehmbare Jahre, bevor euch die Pubertät auf den grausamen Boden der Tatsachen geholt hat. Es ist also mehr als verständlich, dass ihr euch in euren Urzustand zurückwünscht, aber: It's not gonna happen, ganz egal wie viele Bildchen ihr noch ausmalt.

Ich mal Trump die Welt, wie sie mir gefällt | Alle Fotos von der Autorin

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3. Fuck the System.

Wenn Justin Bieber in "As Long As You Love Me" die Textzeile "Seven billion people in the world trying to fit in" singt, dann steckt dahinter leider sehr viel mehr Wahres über unsere Gesellschaft, als ihr bei einem Justin-Bieber-Song wahrhaben wollt. Seit besagtem Geburtstrauma werden wir darauf hin getrimmt, uns gefälligst anzupassen und ja nicht aus der Reihe zu tanzen. Wer also sein letztes Stückchen Freiheit—im Fall einer werktagsversklavten Seele ist das nach 17:00 Uhr—aufgibt, um nach liniengetreuer Vorgabe Motive auszumalen, der hat das Game, das sich Leben nennt und den letzten rebellischen Funken in sich wirklich verloren.

4. Die Welt macht keine Pause.

Wer glaubt, nach einer Malbuch-Session digital gedetoxt und damit frisch für die Grausamkeiten dieser Welt gewappnet zu sein, der irrt. In Wahrheit wird sich das Malbuch mitsamt seiner Entschleunigung sogar noch gegen euch wenden. Je mehr Zeit ihr damit verbringt, desto härter wird euch danach die Realität treffen. Zurück im Leben werden euch nämlich die Überlegungen darüber, ob das Kobaltblau, das ihr für das Ausmalen einer Blüte gewählt habt, auch wirklich realistisch kommt, aufgrund der momentanen Nachrichtenlange recht absurd vorkommen. Wenn das nicht so ist, seid ihr hoffnungslos verloren.

5. Malbücher machen diese Welt zu keinem besseren Ort.

Nennt es Realitätsflucht, Neo-Biedermeier oder Rückzug ins Private: Diese Begriffe sind allesamt Synonyme für Adult Coloring. Sie stehen der Idee gegenüber, dass unsere Gesellschaft nur funktionieren kann, wenn wir kollektiv für Solidarität, Zusammenhalt und proaktive Mitbestimmung einstehen. In der derzeitigen Lage wäre es angebracht, das vielleicht einmal wieder zu probieren. Zumindest gibt es in diesem Malbuch-Wahnsinn ein bisschen Hoffnung; nach der Zeit des Biedermeier folgte ja immerhin auch eine Revolution.

Mehr zu Elisabeths malerischen Gedanken findet ihr auf Twitter.