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Ich habe eine Woche von zwei Franken am Tag gelebt

Selbst in der wohlstandsverwöhnten Schweiz können sich viele Menschen ihr Leben kaum leisten. Ich habe in einem Selbstversuch eine Woche lang von zwei Franken am Tag gelebt.

Ich stehe vor meinem vollen Kühlschrank und kann nicht entscheiden, was ich essen soll. Vielen bleibt diese Wahl verwehrt: 590.000 Menschen in der Schweiz leben unter der Armutsgrenze und müssen beim Einkauf von Lebensmitteln jeden Franken zweimal umdrehen—und das im reichsten Land der Welt. Besonders alleinerziehende Eltern gehören in der Schweiz zur grössten Risikogruppe. Mütter und Väter, die sich das notwendige Essen für ihre Kinder nicht vorbehaltlos leisten können. Diese traurige Tatsache ging mir nicht mehr aus dem Kopf und deshalb habe ich mich entschieden, eine Woche lang von zehn Franken zu leben.

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Anfangs versetzte mich die blosse Vorstellung an eine Woche der Spar- und Enthaltsamkeit in Panik. Fünf Arbeitstage mit so wenig Geld auskommen? Und das in Zürich! Unmöglich.

Die soziale Ausgrenzung würde mich mit voller Wucht treffen: Kein „Eis go zieh", keine Kinobesuche, keine Abendessen mit Freunden oder ähnliche Aktivitäten. Freizeit kostet Geld, selbst zum süssen Nichtstun im Sommer gönne ich mir gerne ein kühles Bier. Ein Leben auf Sparflamme erwartete mich—adieu ausgewogene Ernährung, auf die ich sonst so viel Wert lege. An mögliches Hungern oder die bevorstehende emotionale Belastung während meines Experiments verschwendete ich im Vorfeld keinen Gedanken.

Montag: Reis, Reis und nochmals Reis

Normalerweise esse ich zum Frühstück Fruchtmüsli oder Rührei mit Vollkornbrot. Stattdessen wartete eine Schüssel Reis auf mich. Da ich kein Frühaufsteher bin, hatte ich am Abend zuvor 500 Gramm gekochten Reis vorbereitet.

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Beim ersten Einkauf dachte ich noch, dass ich diese Challenge mit einem Lächeln absolvieren würde. Zwei Franken pro Tag? Das ist durchaus machbar. Man rechne: Zwei Kilogramm Reis gibt es in der Migros für 2.30 Franken. 500 Gramm Reis pro Tag würden meinen Kalorienbedarf ausreichend decken—alles andere wäre Luxus. Darum kaufte ich mir, in meinem Leichtsinn, gleich noch einen Liter Milch für 1.20 Franken.

Also startete ich mit Ausgaben von 3.50 Franken—und damit mit einem Defizit—in meine Woche der Entbehrung. Ich hoffte inständig, dass sich der eingekaufte Reis-Grundstock nicht als Fehlinvestition entpuppen würde.

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Die erste Mahlzeit bestand aus einem ungewürzten Milchreis und schmeckte überraschend gut. Ich würde meinen Standard lediglich ein bisschen anpassen müssen und alles wäre in Ordnung, redete ich Idiot mir tatsächlich ein. Den übrigen Reis verteilte ich auf zwei Portionen für Mittag- und Abendessen. Doch bereits am Nachmittag fand ich mich vor der ersten kleineren Hürde: Mein plötzliches Verlangen nach einem Süssgetränk musste im Keim erstickt werden. Um die dekadenten Gelüste zu vertreiben, trank ich schnell ein Glas Wasser. Um meinem Appetit vorzubeugen, hatte ich mir vorgenommen, möglichst viel Wasser zu trinken. Abends hatte ich meine Zuckerkrise überwunden und ging nach der dritten Portion Reis zufrieden ins Bett. Zwar verspürte ich ein leichtes Knurren im Magen, doch damit konnte ich fürs Erste leben.

Gesamtausgaben bis und mit Montag: 3.50 CHF

Dienstag: Der Glace-Traum entsteht

Am Vorabend hatte ich einer Freundin von meinem Experiment berichtet. Sie erzählte mir, dass sie am Mittwochabend nach Deutschland fahre, um im Aldi günstig einkaufen zu gehen. Sie fragte mich, ob ich mitkommen wolle. Ich müsse weder für Benzin noch sonstige Kosten aufkommen. Sofern ich dort maximal zwei Franken ausgeben würde, verstosse ich gegen keine Regeln. Schliesslich kauft jeder zweite Schweizer ab und zu im Ausland ein. Mit meinem Minimal-Budget würde ich auf Feldstudie jenseits der Grenze gehen.

Mein erklärtes Ziel waren: Kartoffeln und Eier. Doch bis dahin musste ich noch fast zwei Tage mit dem vorhandenen Reis klarkommen. Gewappnet mit den restlichen 6.50 Franken peilte ich die nächste Migros an. Ich begab mich auf die Suche nach neuen Zutaten. Möglicherweise würde ich einem Schnäppchen über den Weg laufen. Da ich sowieso vor Ort war, fragte ich am Info-Schalter, ob es möglich sei, von den überschüssigen Esswaren etwas abzubekommen. Sofort wurde zum Hörer gegriffen und beim Filialleiter angerufen. Als dieser dann vor mir stand, fragte ich—schüchtern, da ich mir bewusst wurde, wie unverschämt meine Frage ist: „Was passiert eigentlich mit dem abgelaufenen Essen, das ihr nicht mehr verkauft? Kann ich davon etwas abhaben?" In sachlichem Ton erklärte er mir, dass die hiesige Migros kein Gratis-Essen an einzelne Personen weitergeben würde. „Wir wollen keine Klagen haben, wie die in den USA," grinste er mich an, sie hätten aber eine Abmachung mit der Organisation „Tischlein deck dich". Armutsbetroffene Familien können dort Lebensmittel beziehen.

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Aus lauter Neugier hakte ich nach: „Gibt es keine Leute, die plötzlich hier stehen und um Essen bitten?" Er antwortete mit einem schlichten Nein. Fünf Minuten später verliess ich den Laden mit einer Banane, zwei Tomaten und einer Karotte im Rucksack. Für diese Kostbarkeiten liess ich 2.05 Franken liegen.

Mein Körper schrie nach Abwechslung. So verfeinerte ich gleich die nächste Mahlzeit mit einer Tomate. Ein halber Liter Wasser half, den Reis runterzuspülen. Am Abend gestattete ich mir zu später Stunde nochmals Reis und ass dazu die Karotte. Ein ständiger Hunger hat mittlerweile Besitz von mir ergriffen. Aber noch viel schlimmer war die Lust auf Zucker, irgendwas mit Zucker. Ich überlegte mir ernsthaft einen Löffel Zucker ins Wasser zu rühren—heimlich, ohne dass es jemand mitbekam. Ich widerstand.

Und just in diesem Moment entstand ein Traum, der zuckersüss und eiskalt-cremig meinen Verstand vereinnahmte. Komme was wolle, ich würde mir Ende Woche eine Schokoladen-Eiscreme kaufen. Ein kurzer Blick in meinen Geldbeutel bremste die aufkommende Euphorie abrupt aus: 4.45 Franken lagen vor mir auf dem Tisch. Aber man wird ja wohl noch träumen dürfen.

Zum Nachtisch gab's immerhin noch eine halbe Banane. Damit wollte ich dem nächtlichen Heisshunger vorbeugen. Dennoch ging ich hungrig ins Bett.

Gesamtausgaben bis und mit Dienstag: 5.55 CHF

Mittwoch: Der Reis ist tot, lange lebe die Kartoffel!

Der Tag begann mit einem kulinarischen Highlight. Was auf dem Speiseplan stand? Drei Mal darfst du raten. Ach was, ich halte die Spannung kaum aus: Es gab Reis! Mit wachsendem Hass gegenüber meinem Grundnahrungsmittel—es wurde langsam persönlich—musste ich mir für die nächste Mahlzeit etwas einfallen lassen. Ich konnte nicht mehr mit dem Reis, aber auch nicht ohne ihn. Diese Hassliebe durfte auf keinen Fall so weitergehen.

Meine Reise nach Deutschland war noch einige Stunden entfernt. Da ich mir den langweiligen Reis kaum noch schmackhaft machen konnte, suchte ich während des Essens nach Ablenkungsmöglichkeiten. Ich entschied mich für das „Game of Thrones"-Finale. So kam es, dass ich meinen verdammten Reis essend, mitansehen musste, wie mein Lieblingscharakter abgeschlachtet wird!

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Fick dich Game of Thrones, fick dich George R. R. Martin und fick dich Reis!

Meine Laune liess inzwischen sehr zu wünschen übrig. Wer sonst rastet beim blossen Geruch von Pizza in der Nachbarschaft aus? Ich kam mir wie eine Mutter von zehn ADHS-Kids vor. Auch mein Körper hatte sich gegen mich gewandt und mein Darm erklärte mir jetzt offiziell den Krieg. Nur der Reis in meinem Bauch grinste hämisch vor sich hin. Die andauernde Unterzuckerung war das biochemische i-Pünktchen meiner desolaten seelischen Verfassung. Für einen Fruchtsalat und eine Cola-Dose hätte ich, ohne mit der Wimper zu zucken, einem Baby den Schnuller geklaut.

Die Fahrt nach Deutschland würde mich hoffentlich auf andere Gedanken bringen. Folgenden Deal hatte ich mit meiner Freundin vereinbart: Sie kaufte im Wert von zwei Euro für mich ein, dafür würde sie zwei Franken von mir bekommen. Im Nachbarland vor dem Aldi stehend, staunte ich nicht schlecht, als ich auf dem Parkplatz hauptsächlich Zürcher-Nummernschilder vorfand. Das sei immer so, erklärte mir meine Begleiterin.

Der Stress vom darauffolgenden Einkauf war mit „letzte Weihnachtseinkäufe an der Bahnhofstrasse erledigen" vergleichbar. Doch zuvor mussten wir für einen Einkaufswagen vor dem Aldi Schlange stehen. Schliesslich änderten wir die Strategie und fingen die Leute mit dem passenden Kleingeld in der Hand beim Einladen der Esswaren ins Auto ab. Mit dem ergatterten Einkaufswagen betraten wir schliesslich das Geschäft. Jetzt musste es schnell gehen: Links und rechts wurde gedrückt und ich musste die Ellbogen ausfahren. Unter gemütlichem Einkaufen verstand ich etwas anderes. Nachdem wir uns alle nötigen Nahrungsmittel erkämpft hatten, verliessen wir fluchtartig die Filiale. Ich konnte mir für zwei Franken ein Kilogramm Kartoffeln und eine Schachtel Eier (10 Stück) erbeuten. Das musste fürs Erste reichen.

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An diesem Abend ass ich mich endlich mal wieder satt. Zuhause kochte ich das ganze Kilo Kartoffeln und machte aus vier Stück (ca. 350 Gramm) eine Rösti, der Rest wanderte in den Kühlschrank. Neben der Rösti genehmigte ich mir gleich drei Spiegeleier. Zum Dessert gab's die zweite Hälfte der Banane. Mein Kontostand zählte zu diesem Zeitpunkt noch 2.45 Franken.

Gesamtausgaben bis und mit Mittwoch: 7.55 CHF

Donnerstag: Der Tiefpunkt

Nach dem gestrigen Festschmaus bereitete ich zum Frühstück ein kleines Rührei (zwei Eier) zu und trank die restliche Milch (3dl) aus. Das Mittagessen bestand aus vier gekochten Kartoffeln, die ich bei einem Glas Wasser kalt verzehrte. Zu diesem Zeitpunkt überlegte ich mir ernsthaft, das Projekt abzubrechen. Die Rösti und die Spiegeleier vom Vorabend waren nur ein Tropfen auf dem heissen Stein gewesen. Das ewige Kochen ging mir gehörig auf den Sack—der Aufwand lohnte sich meist kaum. Reis und Kartoffeln, na toll! Kaum Gemüse, kein Fleisch und nichts an Gewürzen zur Auswahl—Essen wurde zur mühsamen Pflicht. Und wirklich satt wurde ich so gut wie nie.

Hinzu kam, dass einige Freunde später ins Kino gehen würden. Auch ich wollte mir den neuen „Jurassic World"-Streifen ansehen und später ein Bier trinken. Das lag aber natürlich nicht drin. Frustriert und unsicher, ob ich das Experiment durchziehen kann, fuhr ich an den Flughafen. Dort angekommen, kaufte ich mir einen Apfel (55 Rappen). Die süssliche Frucht kauend, entschied ich mich, das Experiment trotz allem zu Ende zu führen. Einen einzigen Tag, das würde ich ja wohl noch hinkriegen! Möglicherweise gab mir auch der im Apfel enthaltene Fruchtzucker die dazu nötige Energie.

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An dieser Stelle geht mein persönlicher Dank an jenen köstlichen Apfel. Anschliessend holte ich noch einen Sack Mehl für 90 Rappen. Nach dem kürzesten Kassensturz meines Lebens zählte mein Konto noch genau einen Franken. Zum Abendessen bereitete ich Spätzli zu: Drei Eier, 600 Gramm Mehl und Wasser (da keine Milch mehr im Haus war). Es schmeckte ganz passabel, obwohl ich mir sehnlichst etwas Salz wünschte.

Gesamtausgaben bis und mit Donnerstag: 9.00 CHF

Freitag: Ein Traum wird wahr

Der letzte Tag war angebrochen. Wahrscheinlich konnte ich deshalb wieder gelassener an die Situation herangehen. Morgens verspeiste ich die übrigen Spätzli. Zum Mittagessen gab's die letzten Kartoffeln in Form von Rösti inklusive zwei hartgekochter Eier. Diese Portion musste für Mittag- und Abendessen ausreichen. Meine Vorräte gingen, bis auf den Mehlsack, zur Neige. In Gedanken sass ich bereits mit Freunden quatschend vor einen fetttriefenden Burger und trank genüsslich mein Bier. Mit dem verbleibenden Franken würde ich auf den Putz hauen!

Für 75 Rappen holte ich mir die ersehnte Eiscreme—at last we meet again, old friend. Nichts und niemand hätte mir diesen Moment zerstören können. Nicht einmal ich selbst, denn ich brach das Glace beim Auspacken in zwei Teile.

Der erhoffte Zucker-Flash blieb leider aus, dennoch genoss ich jeden einzelnen Bissen. Nach gefühlten fünf Sekunden blieb nur noch der hölzerne Stiel in meiner Hand zurück.

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Gesamtausgaben: 9.75 CHF

Fazit

Was bleibt, ist ein zwiespältiges Gefühl. Auf der einen Seite rutscht mir meine Hose nach dieser Woche regelmässig über den Arsch und scheint eine Nummer zu gross. So dass ich froh bin, dass es vorbei ist. Auf der anderen Seite bin ich dankbar diese Erfahrung gemacht zu haben. Mit zwei Franken am Tag macht das Leben keinen Spass. Wenn die Nahrungsaufnahme nur noch zur Pflicht wird, entfällt ein wichtiges Stück Lebensqualität.

Den täglichen Kalorienbedarf eines Erwachsenen konnte ich zwar ohne weiteres decken. Ich frage mich jedoch, was mein Körper an Proteinen, Vitaminen und Sonstigem eingebüsst hat. Ein gesundes Leben lässt sich so kaum führen. Je weniger Geld man zur freien Verfügung hat, desto grösser wird der Aufwand für Einkauf und Zubereitung. Und hungrig ins Bett zu gehen, macht keine Freude. Ganz zu schweigen von der sozialen Isolierung. Wenn alltägliche Dinge nicht mehr bezahlt werden können, nimmt die Tristesse ihren Lauf: Ein gemeinsames Mittagessen im Restaurant, spontane Kinobesuche (habe „Jurassic World" immer noch nicht gesehen) oder ein gemütliches Feierabendbier liegen einfach nicht mehr drin.

Sollte ich in Zukunft jemals in eine solch prekäre Lebenssituation geraten, würde ich Menü für Menü im Voraus durchplanen müssen. Die meisten von uns haben hingegen die tägliche „Qual der Wahl" beim Essen—aber bei weitem nicht alle wissen diesen Luxus gebührend zu schätzen.

Koch-Tipps nimmt Ivan gerne auf Twitter entgegen: @iiivanmarkovic

VICE Schweiz auf Twitter: @viceswitzerland