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Ich litt an Sozialer Phobie

Je mehr ich die angstauslösenden Situationen mied, desto stärker wurde die Angst. Ich konnte nicht mehr U-Bahn fahren, unter Freunden sein, und irgendwann war es mir unmöglich, aus dem Haus zu gehen, ohne panikartige Anfälle zu bekommen, und viel zu...

Foto von kouk

Ich war als Kind sehr schüchtern. Meine Mutter war zwar sehr lieb und gutmütig, opferte sich für die Familie auf, traute sich aber sonst nicht viel. Vor allem nicht, für sich einzutreten. Und schon gar nicht, gegen meinen jähzornigen Vater etwas zu sagen. Der brauste sofort auf und schrie rum. Ich hielt mir dann die Ohren zu und versteckte mich in meinem Zimmer.

Mit etwa acht Jahren lebte ich mit meiner Familie in einem Multikulti-Wohnviertel in München. Die, die hier lebten, bildeten einen Mix aus verschiedenen Charakteren. Ich war umgeben von verschiedenen Sprachen, aufeinanderprallenden Kulturen und Konflikten. Kein „einfaches, glattes“ Umfeld eben, wo man behütet aufwächst. Ich hatte einige Freundinnen, mit denen ich mich gut verstand. Ansonsten aber wurde ich gemobbt, weil ich schüchtern und ruhig war und viele Mitschüler mich beneidet haben, weil ich in der Schule sehr gut war. Ich war sehr erfolgreich und phasenweise einer der Klassenbesten. Als meine beste Freundin sich mit den „Feinden“ verbündete und sie in einer Gruppe die Köpfe zusammensteckten und tuschelten, brach für mich eine Welt zusammen. In der vierten Klasse hatte ich dann zu meinem Glück ein Poesie-Album—damit wurde ich dann beliebter. Bei den Jungs hatte ich noch mehr Glück, einige waren in mich verknallt. Das gab mir etwas Selbstbewusstsein.

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Die Jahre vergingen. Mit der Schüchternheit lief es schon besser. Ich war offener, hatte Freunde und konnte meinen Mund aufmachen. Doch schleppte ich noch viele Komplexe mit mir rum. In der siebten Klasse überkam mich von einem Tag auf den anderen die Angst, mich vor allen anderen zu übergeben. Ich erzählte niemandem davon und quälte mich durch die Stunden. Ich aß einfach nicht mehr. Damit mein Magen während der leisen Schulstunden nicht knurrte und mich so blamierte, lag auf meinem Schultisch ein Stück Brot, eingepackt in ein Küchentuch. Vorsorglich nahm ich während der Unterrichtsstunden kleine Bissen. Während andere rote Herzchen in ihre Hefte malten, schrieb ich unzählige Male „Hilfe!“. Jahre später erfuhr ich, dass diese Art von Angst Emetophobie bedeutet, die Angst vor dem Erbrechen.

Diese Angst verschwand mit der Zeit, aber es kam eine neue. Eines Tages entdeckte ich meine Angst vor dem Erröten. Es war im Lateinunterricht und ich liebte Latein. Ich saß ganz vorne links. Mich sahen also nur die Lehrerin und meine Tischnachbarin. Ich wurde etwas gefragt und wußte die Antwort nicht. Kam zwar öfter vor, diesmal war aber etwas anders. Ich wurde knallrot. Ich fühlte die Hitze in meinem Gesicht, das grelle Licht im Klassenzimmer, das direkt auf mein Gesicht gerichtet zu sein schien.

Die Hitze kroch an meinen Wangen hoch, und ich fühlte sie auf meiner Stirn. Meine Lehrerin blickte mich herablassend an, während sie mit ihren Fingern schnalzend auf meine Antwort wartete. Sie ließ nicht von mir ab. Meine Tischnachbarin starrte mich von der Seite an. Es herrschte Ruhe im Klassenraum. Wieso war es so totenstill? War die Zeit stehengeblieben? Irgendwann nach endlosen, grausamen Momenten wandte sich die Lehrerin ab und fragte jemand anderen. Die Angst namens Erythrophobie, die Panik vor dem Erröten.

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Ich begann zu kämpfen, Widerstand gegen diese Angst zu leisten, doch es half nichts. Ich konnte kein normales Leben mehr führen. Abends schlief ich voller Sorge ein, dass ich am nächsten Tag in der Schule erröten könnte und alle es sehen würden. Ich malte mir aus, von welchen Blickwinkeln aus die Anderen mein Gesicht sehen könnten. Wie ich mein Gesicht so verstecken könnte, so dass es möglichst wenige sehen. Ich litt und niemand wusste es. Meine Eltern waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt und daher fing ich an, so oft es ging, die Schule zu schwänzen. Am liebsten, wenn Tests anstanden.

Irgendwann hielt ich den Druck nicht mehr aus und brach die Schule ab. Ich wollte nur noch weg—fort von dieser Qual und von diesem extremen Druck, obwohl ich kurz vor dem Abschluss stand und zu den Klassenbesten gehörte.

Je mehr ich die angstauslösenden Situationen mied, desto stärker wurden die Ängste und es kamen neue dazu. Selbst die einfachsten sozialen Situationen, wie an der Kassa zu bezahlen, wurden zur nervlichen Zerreißprobe. Ich konnte nicht mehr in die U-Bahn steigen, aus Angst, mich dort zu übergeben. Nicht mehr unter Freunden sein, weil ich Angst hatte, rot zu werden. Irgendwann war es mir nicht mehr möglich, aus dem Haus zu gehen, ohne panikartige Anfälle zu bekommen.

Und so war der Punkt erreicht, an dem ich handeln musste—denn viel zu oft drehten sich meine Gedanken um Selbstmord. Ich begann zu lesen und zu recherchieren. Die Bücher zu dem Thema Angst halfen mir und ich fand entsprechende Kontaktadressen. Als ich mich endlich dazu entschloss, psychiatrische Hilfe in Anspruch zu nehmen, wurde bei mir „Soziale Phobie“ diagnostiziert.

Die Soziale Phobie hat verschiedene Ausprägungen und Intensitäten, sie bezieht sich jedoch stets auf Situationen, die im Beisein von anderen stattfinden und in denen du Schüchternheit, Unsicherheit und Hemmungen empfindest. Von einer Phobie kann man aber erst sprechen, wenn die Furcht vor Bewertung, Ablehnung und Blamage übermächtig geworden ist und die jeweiligen angstauslösenden Situationen zu einem Vermeidungsverhalten führen, wodurch der Menschen in seinem Leben und in seiner Entscheidungsfähigkeit eingeschränkt ist. Isolation und Rückzug sind Alarmsignale.

Die Soziale Phobie zählt heute zu den häufigsten Angststörungen. Schätzungen gehen davon aus, dass jährlich ungefähr 200.000 Österreicher von einer Sozialphobie betroffen sind. In der Schweiz erkranken sieben von hundert Menschen im Verlaufe ihres Lebens an dieser Phobie.  Die Dunkelziffern liegen weitaus höher, wie man vermutet. Bei der Psychotherapie haben sich vor allem verhaltenstherapeutische Maßnahmen als hilfreich erwiesen. Im Internet gibt es bereits einige Foren, in denen sich die Betroffenen austauschen können. Auch Anlaufstellen für Selbsthilfegruppen sind verzeichnet. Als effektive alternative Methoden gelten beispielsweise die Hypnosetherapie und auch die EFT-Klopfakupressur (Emotional-Freedom-Technique).

Ich selbst bin heute darüber hinweg. Dank einer Mischung aus Therapie, vielen Büchern zum Thema und vielen Gesprächen mit Freunden. In unserer Gesellschaft, in der der perfekte, erfolgreiche und immer selbstbewusste Mensch das Ultimum zu sein scheint, tun sich die Betroffenen verständlicherweise schwer, von Ängsten zu sprechen. Die Inakzeptanz von menschlichen Schwächen ist in der Gesellschaft leider tief verankert und führt bei psychischen Problemen zur Tabuisierung.