Im Gespräch mit der Mutter eines Dschihadisten – „Ich war bei seiner Geburt dabei, aber nicht bei seinem Tod"
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Im Gespräch mit der Mutter eines Dschihadisten – „Ich war bei seiner Geburt dabei, aber nicht bei seinem Tod"

„Die von der Moschee hier haben mir bestätigt, dass er tot ist, als ich sie gefragt habe. Mein Sohn sei ein Märtyrer."

Frau N. gehört zu einer ganzen Gruppe von Müttern von Dschihadisten, die in einem offenen Brief die Kämpfer aufgefordert haben, ihre Waffen niederzulegen. Der auf verschiedenen Social-Media-Kanälen veröffentlichte Aufruf wurden von Müttern aus sieben Ländern (Kanada, USA, Deutschland, Frankreich, Dänemark, Belgien und Schweden) unterzeichnet, die sich im Netzwerk „Mothers for Life" zusammengeschlossen haben. Mit Frau N. hatte ich die Möglichkeit ein vertiefendes Gespräch zu führen. Ihr Sohn zog in den Dschihad nach Syrien und kam im Kriegsgebiet um. Im Interview berichtet sie, warum Mütter für Dschihadisten eine besondere Rolle spielen und erzählt, wie schwer es ist, ein Kind zu verlieren und nicht darüber sprechen zu dürfen. Aus Angst, in ihrem Heimatort in Norddeutschland ausgegrenzt zu werden und um zu verhindern, dass täglich ein Journalist vor ihrer Tür steht, will Frau N. anonym bleiben.

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VICE: Frau N., sprechen Sie öfters mit den Medien?
Frau N.: Nein, das ist ehrlich gesagt überhaupt nicht mein Ding. Ich habe erst einmal mit einem Journalisten gesprochen. Ich war mit dem Artikel ganz zufrieden. Aber insgesamt habe ich den Eindruck, die Medien verbreiten immer nur ein Bild: die, die ins Kriegsgebiet gehen sind alles Killer, Kopfabschläger. Sie sind nicht wert, zu uns zu gehören. Ich kenne einige Mütter von Dschihadisten. Wenn die sagen, dass diese Menschen auch liebenswürdige Seiten haben, will das keiner hören.

Warum denken sie, dass niemand so etwas hören will?
Schlimm waren die Kommentare unter dem Artikel. Die fand ich einfach abstoßend. Da wurde mit meiner Geschichte Stimmung gegen Muslime gemacht. Diese Stammtischscheiße kann ich einfach nicht ertragen. Ich selbst bin auf dem Papier Christin. Ich war immer tolerant gegenüber allen Religionen, so habe ich meinen Sohn auch erzogen. Aber ich bin nicht sicher, ob wirklich die Mehrheit in Deutschland den Islam generell verurteilt oder ob solche Leute einfach besonders fleißig kommentieren. Jedenfalls gingen 90% der Kommentare in diese Richtung.

Jede Mutter besucht ihren Sohn lieber im Gefängnis als auf dem Friedhof in einem fremden Land.

Warum haben Sie und die anderen Mütter diesen offenen Brief geschrieben?
Einige von uns haben schon unsere Söhne und Töchter verloren. Mein Sohn ist 2013 nach Syrien ins Kriegsgebiet gegangen und ist jetzt seit über einem Jahr tot. Zum Teil leben sie aber noch und sind in Syrien. Wir wollen alle, die in den Dschihad gezogen sind, zum Nachdenken bewegen. Deshalb verurteilen wir in unserem Brief die jungen Männer und Frauen nicht, die als Dschihadisten in den Nahen Osten gegangen sind. Stattdessen versuchen wir, an ihr Ehrgefühl zu appellieren. Wir schreiben zum Beispiel

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„Even if you think death will give you that "better" life, remember that even the Prophet Muhammad (peace and blessings be upon him) said: ,Paradise lies at the feet of your mother' [Musnad Ahmad, Sunan An-Nasâ'i, Sunan Ibn Mâjah]."

Sie sollen ihre Entscheidungen überdenken und wieder aus dem Kriegsgebiet zurückkommen. Nach Hause. Jede Mutter besucht ihren Sohn lieber im Gefängnis als auf dem Friedhof in einem fremden Land. Oder noch besser: sie sollen gar nicht erst gehen.

Warum denken Sie, dass Sie damit Erfolg haben könnten?
Die Mutter ist im Islam sehr wichtig. Auch diese Gruppen, die den Islam benutzen, um junge Männer wie meinen Sohn für ihren Kampf zu ködern, können sich dem nicht so leicht widersetzen. Im Koran heißt es zum Beispiel

„Und Wir haben dem Menschen anbefohlen, gegen seine Eltern gütig zu sein. Seine Mutter trug ihn mit Widerwillen, und mit Widerwillen brachte sie ihn zur Welt." (Koran 46:15)

Es ist deshalb nicht so leicht, die Mütter beiseite zu schieben. In unserem offenen Brief machen wir das geltend: versteht, dass eure Mütter nicht wollen, dass ihr in den Dschihad zieht - und folgt ihrem Willen.

Das heißt wenn die Mutter will, dass ihr Kind zurückkommt, müssten die Rekrutierer und Dschihad-Anführer das akzeptieren?
Ja, aber die versuchen natürlich, die Verbindung zwischen den Müttern und ihren Kindern zu lösen. Sie behaupten zum Beispiel, dass die Mütter mit den westlichen Geheimdiensten zusammenarbeiten und der Medienpropaganda verfallen sind. Deshalb ist es sehr wichtig, dass die Mütter unterstützt werden. Denn sie können es den Dschihad-Rekrutierern sehr leicht machen, aber auch sehr schwer, wenn sie wissen, wie sie sich verhalten sollten. Deshalb ist es so wichtig, dass die Eltern beraten werden, dass es Stellen gibt, wo sie anrufen können und Gruppen wie unsere, an die sie sich wenden können.

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Wie meinen Sie das?
Mein Sohn hat mal zu mir gesagt „Mama, die Religion macht mich glücklich." Da habe ich mich gewundert und für einen Moment auch wirklich zugehört. Aber das hat nicht gereicht. Ich hätte mich viel mehr mit seinen Gedanken beschäftigen und ihn mit seiner Religion ernster nehmen sollen. Es ist einfach unermesslich wichtig, dass man weiter miteinander redet.

Alles, was nicht ins Bild passt, wird als Medienlüge dargestellt.

Sie haben im Vorgespräch erwähnt, dass die Dschihadisten sehr individuelle Geschichten haben, aber auch Gemeinsamkeiten. Welche?
Auch wenn ihre Biografien recht unterschiedlich sind—sie sind meist nicht die Loser, die nicht ausgebildeten jungen Menschen, wie es die Medien gerne beschreiben. Aber sie kennen Ungerechtigkeiten, Gewalt und Ausgrenzung. Oft fehlt ein Elternteil der Familie, der Vater oder die Mutter. Sie haben oft psychische Erkrankungen, zum Beispiel Depressionen. Das Internet hat großen Einfluss auf ihre Radikalisierung, aber es gibt immer auch persönliche Kontakte, die sind sehr wichtig im Radikalisierungsprozess. Von denen kriegen sie dann was über einen Krieg erzählt, von dem sie keine Ahnung haben. Alles, was nicht ins Bild passt, wird als Medienlüge dargestellt. Aber nicht alle begehen im Kriegsgebiet die Gräueltaten, von denen wir soviel lesen.

Woher wissen Sie das alles?
Aus Gesprächen mit anderen Müttern.

Was können Sie mir über Ihren Sohn erzählen?
Auch mein Sohn hatte, wie viele andere Dschihadisten, nur einen Elternteil, der Vater fehlte. Er ist irgendwann zum Islam konvertiert. Er war auf der Suche und hat Gemeinschaft gesucht und die haben wohl Versprechen gemacht. Ich glaube, dass er über die LIES Bewegung zu den Leuten und der einschlägigen Moschee gekommen ist. Ein paar Wochen hat er das ernster genommen, dann nicht mehr so. Er hat gefeiert, getrunken und manchmal gekifft. Aber ein paar Monate, bevor er gefahren ist, hat er sich wieder mehr mit dem Islam beschäftigt. Was der Auslöser war, weiß ich nicht genau, wahrscheinlich die Leute aus der Moschee. Die Salafisten beobachten dich, wenn sie den Eindruck bekommen, du würdest dich lösen, holen sie dich zurück, erinnern dich daran, dass sie doch die Brüder sind und eine Abkehr vom Glauben ihnen das Paradies verwehren würde und sie in die Hölle kämen—die arbeiten mit der Angst.

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Dann kam der Fastenmonat Ramadan und er hat mit einigen Kumpels abgemacht, alle Regeln einzuhalten, fasten, beten, alles. Er hat nichts mehr gegessen und getrunken und zog sich sehr zurück. Man muss ja auch Nachts beten und dafür ist er dann jedes mal aufgestanden und in die Moschee gegangen. Er hat da ziemlich viel Zeit verbracht und dort muss er sich radikalisiert haben. Das ging ganz schnell, innerhalb von wirklich nur zwei Wochen. Es gab da so Hinweise, er hat zum Beispiel auch mal die Hosenbeine hochgekrempelt. Vorher war er immer ganz normal angezogen. Aber es war Sommer und ich dachte er macht das, weil es warm ist. Ich habe mich zu der Zeit schon über sein Verhalten gewundert, aber ich wusste nur sehr wenig über Radikalisierungsprozesse und hatte auch niemanden, den ich fragen konnte.

Haben Sie eine Vorstellung davon, wer genau Ihren Sohn rekrutiert hat?
Wie genau er sich radikalisiert hat, kann ich heute nur vermuten. Es gab da einen Tschetschenen mit fragwürdigen Kontakten. Und einen jungen Mann, der war kurz vor dem Ramadan aus Syrien zurückgekommen. Er ist vermutlich zurückgeschickt worden, um hier Stimmung zu machen und die Muslime aufzufordern, ihren Brüdern und Schwestern in Syrien zu helfen. Der hatte wohl auch Videos mitgebracht, in denen angeblich Assad-Soldaten Frauen vergewaltigen und dann umbringen und sowas. Das hat mir später jemand erzählt, der zu der Zeit auch in diese Moschee ging.

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Es hat sich in der Moschee eine größere Gruppe junger Menschen gebildet, die nach Syrien sind, und da ist mein Sohn vermutlich recht spontan mitgefahren. Er hatte ja noch Pläne geschmiedet, zwei Wochen bevor er weg ist: er wollte seine Matura auf dem zweiten Bildungsweg nachmachen und hatte schon einen Wohnheimplatz. Aber dann war er plötzlich weg.

Kann es nicht sein, dass er Sie ganz gezielt angelogen hat?
Nein. Da bin ich ganz sicher.

Wie ging es dann weiter?
Zuerst habe ich gar nicht an Dschihad oder so gedacht. Das war Mitte 2013, da war das Thema noch nicht so allgegenwärtig. Aber ich hatte schon so einen Verdacht und habe mich an die Beratungsstelle Radikalisierung des deutschen Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge gewandt. Die haben mir geraten, mit der Polizei zu sprechen. Die hat mich allerdings beruhigt. Sie hatten in ihren Akten nichts über meinen Sohn gefunden. Bestimmt sei er mit einem Mädel durchgebrannt, so haben sie es gesagt. Ich war dann erst mal ganz erleichtert. Es hat sechs Wochen gedauert, bis ich wieder was von meinem Sohn gehört habe . „Ich bin eine Weile weg. Ich melde mich bald." stand da einfach. Ein bisschen später hat er mich dann per Skype angerufen. Und ausgerechnet: kurz bevor er anrief, stand einer vom Staatsschutz vor meiner Tür. Die haben so eine Sonderermittlertruppe und weil ich ihnen gesagt hatte, dass er in diese Moschee gegangen war, kam der routinemäßig bei mir vorbei. Er hat mir noch versichert, dass sie eigentlich nicht glauben, dass mein Sohn in den Dschihad gezogen ist, da klingelt Skype auf meinem Computer.

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Haben Sie den Anruf in dem Moment angenommen?
Ich wusste nicht, was ich machen soll. Ich konnte mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen, mit meinem Sohn zu sprechen. Also bin ich rangegangen. Aber ich konnte ihm auch nicht sagen, dass da ein Ermittler sitzt. Der hat dann ständig irgendwelche Fragen auf Zettel geschrieben, die ich stellen sollte. Ob mein Sohn kämpft. Aber das habe ich nicht gefragt. Ich wusste, dass ihm der Weg nach Hause erschwert wird, wenn er ja sagt. Und ich hatte auch keine Lust, Fragen für den Staatsschutz zu stellen. Ich hatte wochenlang außer einer SMS nichts von meinem Sohn gehört. Und dann ruft er endlich an und ich muss Fragen für den Staatsschutz stellen. Aber ich habe ihn dann selbst gefragt, ob er in Syrien ist - und er hat ja gesagt.

Wie ist er nach Syrien gekommen?
Das weiß ich nicht genau. Ich denke, die sind nach Istanbul geflogen und von da weiter Richtung Grenze. Sie müssen Kontaktpersonen gehabt haben, die ihnen geholfen haben, über die Grenze zu kommen. Sie landeten bei einer Truppe, die sich später dem Islamischen Staat angeschlossen hat.

Und was hat Ihr Sohn dort gemacht?
Ich weiß nur wenig über seine Zeit in Syrien. Aber es gibt einen Rückkehrer, der mit meinem Sohn in Syrien war und mit dem ich intensiv kommunizieren konnte. Er hat erzählt, dass er und mein Sohn für die Küche bei einer militärischen Einheit des Islamischen Staates zuständig waren. Sie haben eingekauft und gekocht für die Kämpfer, abgewaschen und so. Und er hat mir erzählt, dass sie dort auch gekifft haben.

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Er hat gar nicht gekämpft?
Nach meiner Information hat er nicht gekämpft. Er war auch nicht der Typ dafür. Er war ein sehr sozialer Mensch, kämpfen war nicht sein Ding.

Ich war bei seiner Geburt dabei, aber nicht bei seinem Tod, nicht mal bei seiner Beerdigung. Das ist ein Trauma.

Wie ist er dann gestorben?
Die Umstände sind mir nicht genau bekannt. Ich bin dabei, die weiter zu recherchieren, so weit das möglich ist. Die von der Moschee hier haben mir bestätigt, dass er tot ist, als ich sie gefragt habe. Mein Sohn sei ein Märtyrer. Soweit ich das bisher rekonstruieren kann, hat es irgendwie Ärger gegeben und meine Info ist, dass er bei einer Auseinandersetzung von eigenen Leuten erschossen wurde.

Von den eigenen Leuten?
Ja. Das ist mein bisheriger Wissensstand.

Gibt es denn ein Grab?
Hier in Deutschland habe ich mir ein Ritual überlegt und einen Ort der Trauer, um an meinen Sohn zu denken. Das hat mir auch mein Therapeut geraten. Es ist unglaublich schwer, ein Kind zu verlieren. Aber diese Umstände, dass ich es geheim halten muss, um mich nicht zu outen, macht es um ein vielfaches schwerer. Ich war bei seiner Geburt dabei, aber nicht bei seinem Tod, nicht mal bei seiner Beerdigung. Das ist ein Trauma.

Haben Sie mittlerweile denn eine offizielle Bestätigung über seinen Tod?
Nein. Ich kriege immer noch Post für ihn. Etwa von seiner Bank, da hat er noch ein Konto. Ich will aber nicht aller Welt sagen, was passiert ist. Hier in meiner Heimatstadt hat sich das auch so rumgesprochen und die Leute reagieren ganz komisch. Sie wechseln die Straßenseite, wenn sie mich sehen. Irgendwie scheinen alle zu denken, dass es meine Schuld ist.

Und arbeiten Sie mit den Behörden zusammen?
Nein. Ich mache das nicht. Aber andere Mütter aus unserer Gruppe machen das. Besonders eine Mutter entwickelt Trainingsprogramme, gegen Radikalisierung, Gremien zum Umgang mit den Rückkehrern. Sie arbeitet jetzt beim Deutschen Institut für Radikalisierungs- und Deradikalisierungsforschung.

Warum haben Sie diese Müttergruppe gegründet?
Ich war bei einem Treffen betroffener Eltern dabei, dort ist diese Idee entstanden. Der Gedanke war dabei von Anfang an, uns gegenseitig zu stützen, aber auch an Konzepten gegen Radikalisierung mitzuwirken, wir haben unsere Kinder abgleiten sehen und es nicht richtig eingeschätzt. Ich habe Kontakt zu zwei weiteren Müttern, die in Deutschland leben und zu einem Dutzend Müttern in anderen Ländern. Wir wollen weitere Eltern dazu gewinnen, so dass die besser beraten werden, als ich das wurde. In Belgien hat das zum Beispiel gut funktioniert. Die Müttergruppe ist schnell gewachsen. In Deutschland allerdings noch nicht.

Wie finden Sie sollte Deutschland umgehen mit Dschihadisten, die zurück kommen?
Sie müssen individuell und je nach dem, was sie gemacht haben, behandelt werden und gegebenenfalls verurteilt. Die, die dort Verbrechen begangen haben, sollten dafür verurteilt werden. Wenn sie ins Gefängnis müssen, sollte es ein faires Urteil sein und ich kann nur hoffen, dass ihnen geholfen wird, sich zu rehabilitieren. Oft sind sie ja auch traumatisiert. Um die anderen müssen wir uns kümmern. Sie brauchen Unterstützung von uns. Sonst nehmen sich genau die wieder ihrer an, von denen sie nach Syrien geschickt wurden.


Foto: Imago/Xinhua