Im Interview: Der Journalist, der zwei Jahre lang Geisel von al-Qaida in Syrien war
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Im Interview: Der Journalist, der zwei Jahre lang Geisel von al-Qaida in Syrien war

"Ich denke, für diese Leute ist Gewalt ein Weg zum Glück" – Theo Padnos über die Folter, die Angst und seine Freundschaft mit den IS-Kämpfern im Knast.

Der Gegenstand, den Theo Padnos am meisten mit seiner Gefangenschaft verbindet, ist ziemlich banal: ein Stromkabel. Ungefähr 80 Zentimeter lang und schwarz ummantelt, bis auf das eine Ende, an dem die ausgefransten Drähte eine stachelige Kugel bilden. Wenn seine Peiniger ihn mit diesem Kabel peitschten, blieben die Drahtenden im Fleisch auf seinen Armen, den Schultern oder im Nacken stecken.

"In zwei Jahren und dreizehn verschiedenen al-Qaida-Gefängnissen habe ich nie eines gesehen, in dem es nicht einen gesunden Vorrat von diesen Kabeln gab", erzählt Theo ein Jahr nach seiner Befreiung in Berlin. "Ich habe dieses Kabel sehr gut kennengelernt, vor allem am Anfang."

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Der Anfang, das war Oktober 2012. Theo hatte zu dem Zeitpunkt bereits einige Wochen in der türkischen Grenzstadt Antakya gelebt und versucht, von dort aus für US-amerikanische Magazine über den Bürgerkrieg in Syrien zu berichten. Der Schriftsteller, der ursprünglich aus Vermont stamm, konnte einiges an Erfahrung in der arabischen Welt aufweisen: 2005 hatte er ein Jahr im Jemen gelebt und ein Buch über seine Erfahrung in den radikalen Moscheen des Landes geschrieben. Doch die Aufträge ließen auf sich warten. Also beschloss Theo, auf eigene Faust die Grenze nach Syrien zu überqueren, um gute Geschichten direkt aus dem Kriegsgebiet zu bekommen.

Im Herbst 2012 klang diese Idee noch nicht ganz so gefährlich wie heute. Der Bürgerkrieg tobte zwar schon seit über einem Jahr. Aber die meisten westlichen Journalisten, die regelmäßig die Reise über die Grenze nach Aleppo machten, kamen unbehelligt zurück. Eines Nachmittags lernte er in Antakya ein paar syrischen Studenten kennen, die ihm anboten, ihn zur Freien Syrischen Armee zu bringen. Theo entschloss sich spontan, mitzukommen. Weil er glaubte, dass er in ein paar Tagen zurück sein würde, sagte er nicht mal seinem Mitbewohner in Antakya Bescheid.

Zuerst lief alles glatt. Theo und die Studenten kletterten durch ein Loch in einem Zaun nach Syrien und übernachteten in einem leerstehenden Haus. Am nächsten Morgen half Theo ihnen, das Haus ein bisschen herzurichten, dann bauten die Studenten eine Videokamera auf und schlugen Theo vor, erstmal einen von ihnen zu interviewen. Als das Interview fertig war, stand der Kameramann lächelnd auf, ging zu Theo und trat ihm mit voller Wucht ins Gesicht. "Wir sind von al-Qaida", sagte einer der Männer. "Wusstest du das nicht?" Theo dachte, er wäre in einem Albtraum gelandet. Drei Tagen vor seinen 44. Geburtstag war er eine Geisel im syrischen Bürgerkrieg geworden.

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Falls ihr in Berlin seid: Am Mittwochabend zeigt das BABYLON am Rosa-Luxemburg-Platz zum ersten Mal in Deutschland "Theo Who Lived", den Dokumentarfilm über Theo Padnos Entführung.

Die Männer waren jedoch keine professionellen Kidnapper und in derselben Nacht gelang Theo die Flucht aus dem Haus. Er rannte, bis er in einen Minibus springen konnte, der ihn nach Aleppo zur Freien Syrischen Armee brachte. Als er den Rebellen seine Notlage schilderte, brachten sie ihn in einen Raum, in dem er warten sollte. Ein paar Stunden später kehrten die Offiziere zusammen mit seinen Kidnappern zurück. Sie schlugen Theo und warfen ihn in ein Erdloch. Ein paar Tage danach übergab die FSA ihn endgültig an die al-Nusra-Front, die syrische al-Qaida, und der Albtraum begann erst richtig.

VICE: Was ging dir durch den Kopf, als du endgültig gefangen warst?
Theo Padnos: Am ersten Tag war ich überzeugt, dass sie mich in den nächsten paar Stunden umbringen würden. Als das nicht passierte, dachte ich: Dann bringen sie mich morgen um. Auch das passierte nicht, aber sie schlugen und quälten mich andauernd. Ich glaubte, dass sie mich sehr langsam zu Tode foltern würden. Ich hörte diese Art von Tod jede Nacht aus der Folterkammer am Ende des Ganges. Ich habe sechs Monate gebraucht, um zu verstehen, dass sie mich als Geisel behalten wollten.

Unter welchen Bedingungen hast du in diesen ersten Monaten gelebt?
Ich hatte sechs Monate dieselben Klamotten an. Ich hatte keine Zahnbürste, ich konnte nicht duschen, und ich wurde mehrmals die Woche mit diesen Kabeln geschlagen.

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Das erste Mal schlagen sie dich immer auf den Nacken, und zwar so fest sie können. Dann bist du im Schockzustand: Du bewegst dich gar nicht mehr, du kannst nicht mal schreien. Du bist wie ein Fisch. Du lebst, deine Augen zucken, aber du kannst nicht reagieren.

Warum haben sie dich so oft geschlagen? Wollten sie irgendwelche Informationen aus dir herausbekommen?
Das habe ich mich auch oft gefragt. Glauben die wirklich, dass ich an irgendwas Schuld habe? Oder ist das nur eine Möglichkeit für sie, ihre Wut an jemandem auszulassen?

Die Männer sagen immer, dass sie einen Islamischen Staat oder ein Kalifat aufbauen wollen, aber ich bin mir sicher, dass sie selbst nicht daran glauben. Ich denke, für diese Leute ist Gewalt zum Selbstzweck geworden—ein Weg zum Glück. Ohne Gewalt fühlen sie sich machtlos, erniedrigt, unglücklich. Wenn sie das Kabel in der Hand halten, dann fühlen sie sich gut. Wenn sie aufhören, fühlen sie sich nicht mehr gut, und deshalb wollen sie immer mehr davon. Warum sprengen sie diese alten Monumente in die Luft? Warum freuen sie sich, wenn sie im Fernsehen sehen, dass jemand Juden in Paris umgebracht hat? Dass James Foley geköpft wurde? Weil es ihnen ein gutes Gefühl gibt. Ein echter "Staat", Schulen, Krankenhäuser—das ist ihnen alles egal. Sie wollen die Zerstörung immer weiter ausbreiten.

Der amerikanische Journalist James Foley wurde fast genau einen Monat nach Theo in derselben Gegend entführt und endete schließlich als Geisel des Islamischen Staats (IS). Fast zwei Jahre später, im August 2014, köpften IS-Kämpfer Foley und verbreiteten im Internet ein Video davon, das um die ganze Welt ging. Auch Theos Entführer schauten sich das Video an und machten Witze darüber: "Hast du gesehen, was ISIS mit den Leuten macht? Wie fändest du es, wenn das mit dir passieren würde?"

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Wie sah dein Alltag aus?
Das Schlimmste war, dass ich absolut keine Kontrolle hatte. Sie kontrollierten, wie viel ich schlief, wie viel ich aß, wie viel Sauerstoff ich bekam. Ich wusste nie, wann das nächste Essen kommt, weil sie einen nie zur selben Zeit fütterten. Manchmal brachten sie die erste Mahlzeit um zwei oder drei Uhr nachmittags, manchmal brachten sie gar nichts.

Warst du immer alleine, oder gab es manchmal auch Kontakt zu anderen Gefangenen?
Ich war die ersten Monate in Isolationshaft, aber gegen Ende Januar brachten sie einen weiteren Gefangenen in meine Zelle, einen Amerikaner namens Matt Schrier. Als er kam, merkte ich, dass ich mit meiner Zeitrechnung zwei Wochen daneben lag. Ich hatte in meiner Zelle offenbar zwei Wochen zu früh Weihnachten gefeiert.

Wurde es besser, als Schrier kam?
Nein, die Zeit mit ihm war die schlimmste überhaupt. Er war schlimmer als die Terroristen. Er war krank im Kopf. Er wollte unbedingt in Schießereien geraten und ein berühmter Journalist werden. Er war schon vorher bekloppt, aber er wurde im Gefängnis noch bekloppter. Er hat alles getan, um mich zu quälen.

Wie das?
Er hatte genauso wie ich Angst, aber er wurde auch immer sehr schnell wütend und dann schlug er mich ohne Grund. Einmal spielten wir stundenlang "Promi-Raten", und irgendwann konnte ich nicht mehr und wollte aufhören. Da ist er komplett ausgerastet und hat mich ins Gesicht geschlagen. Manchmal schlug er mich auch, weil ich meine Läuse nicht richtig tötete. Er konnte kein Arabisch, also musste ich übersetzen, aber manchmal entging mir was, und dann rastete er wieder aus.

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Was ist dann mit ihm passiert?
Irgendwann kamen wir in eine neue Zelle, in der es ein Fenster gab. Durch das wollten wir fliehen. Er schaffte es raus und sollte mich eigentlich rausziehen, aber er rannte irgendwann einfach weg.

Matt Schriers Flucht hatte Erfolg, und er war der Erste, der der US-Regierung einen Hinweis darauf gab, dass Theo noch am Leben war. In einem Interview mit der Zeit erklärt Schrier, Theo habe sich bei der Flucht ungeschickt angestellt und einfach nicht durch das Fenster gepasst, sodass er ihn zurücklassen musste. Er gab aber zu, Theo während ihrer gemeinsamen Gefangenschaft mehrmals geschlagen zu haben.

Hattest du danach Kontakt zu anderen Gefangenen?
Ja, irgendwann kam ich in eine Zelle mit etwa 17 Offizieren der syrischen Armee, ein paar Palästinensern und ein paar Shabiha [Mitglieder einer Pro-Assad-Miliz]. Mit allen habe ich mich gut verstanden. Wenn man über 90 Tage 24 Stunden am Tag mit denselben Leuten eingesperrt ist, dann lernt man sie ziemlich gut kennen. Wir haben am Tag an die zehn Stunden Schach gespielt. Später kamen dann auch Sexualstraftäter ins Gefängnis, oder Leute, die als Regime-Kollaborateure verdächtigt wurden. Gegen Ende waren auch sehr viele IS-Kämpfer mit mir eingesperrt.

Hast du dich auch mit den IS-Kämpfern gut verstanden?
Ja, mit denen eigentlich am besten, wir hatten ja was gemeinsam: Wir hassten die al-Nusra. Außerdem hatten die Typen vom IS Privilegien. Die Regime-Leute hatten überhaupt keine Rechte, die durften nicht mal den Koran lesen. Aber wenn die Nusra-Leute den IS-Gefangenen blöd kamen, dann sagten die: "Wir sind Muslime, ich werde mich bei Allah über dich beschweren." Die durften also immer den Koran lesen, und sie lasen ihn dann gerne so laut, wie sie konnten. Die Nusra-Leute konnten nichts machen, sie konnten sie ja schlecht dafür bestrafen, dass sie ihren Glauben ausübten.

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Die IS-Leute versuchten, mich zu bekehren, und wenn die Wachen kamen und ihnen verbieten wollten, mit mir zu reden, dann sagten sie: "Wir versuchen gerade, diesen Idioten zum Islam zu bekehren, verpisst euch." Dann zogen die Wachen ab. Ich unterhielt mich gerne mit den IS-Menschen, und sie schenkten mir manchmal kleine Schokoladen. Die hatten sie bekommen, aber sie waren so fromm, dass sie keine Schokolade gegessen haben. Irgendwann wurden die dann alle exekutiert.

Nusra-Kämpfer in Syrien | Foto: Medyan Dairieh | VICE

Zu dieser Zeit ist der Konflikt zwischen al-Nusra und dem IS immer weiter eskaliert. Hast du davon etwas im Gefängnis mitbekommen?
Ja schon, ich war ja gerade in Deir ez-Zor gefangen, als der IS in die Stadt kam. Die IS-Kämpfer kamen aber nicht alle auf einmal, sondern sickerten eher Stück für Stück ein. Immer öfter verschwanden Wachen aus meinem Gefängnis. Wenn ich nach ihnen fragte, sagte man mir, sie seien "Märtyrer" geworden.

Irgendwann mussten wir Deir ez-Zor verlassen, und zwischen al-Nusra und dem IS herrschte offener Krieg. Die Nusra-Leute zogen jeden Tag los, um gegen den IS zu kämpfen, aber es lief nicht gut. Ihnen gingen langsam das Geld und die Munition aus.

Sind viele der Nusra-Leute zum IS übergelaufen?
Ja, ziemlich viele, das war wohl ziemlich einfach, die Seiten zu wechseln. Aber nicht für meine Wachen, die aus Deir ez-Zor waren. Wenn der IS sie erwischt hätte, wären sie sofort tot. Gegen Ende meiner Gefangenschaft war die Stimmung unter meinen Wachen nicht sehr gut, weil sie nicht nach Hause konnten. Sie fragten mich dauernd, wie das mit Asyl in Europa funktioniert und ob ich ihnen eine Frau in Schweden besorgen könnte.

Wie bist du am Ende befreit worden?
Am 24. August 2014 brachten mich meine Entführer in die Golan-Höhen und übergaben mich da UN-Mitarbeitern, die mich nach Israel überführten. Ich wurde freigekauft, da bin ich mir sicher. Ich glaube, bezahlt hat das eine Regierung im Mittleren Osten, die man normalerweise mit Hochhäusern und einer Fußballweltmeisterschaft verbindet, aber offiziell ist nichts bekannt.

Glaubst du, deine Gefangenschaft hat dich verändert?
Ich bin glücklicher als vorher, weil ich überlebt habe. Die meisten, die in solche Gefängnisse kommen, vor allem Amerikaner, schaffen es nicht lebend raus.

Theos Befreiung kam genau eine Woche, nachdem das Video von James Foleys Enthauptung veröffentlicht wurde. In dem Video ist auch der Journalist Steven Sotloff zu sehen. Das Video mit dessen Enthauptung veröffentlichte der IS neun Tage nach Theos Befreiung. Im November folgte die Enthauptung des Katastrophenhelfers Peter Kassig. Laut des Committe to Protect Journalists wurden seit Beginn des Konflikts 107 Journalisten im syrischen Bürgerkrieg getötet.

Falls ihr in Berlin seid: Mittwochabend zeigt das BABYLON am Rosa-Luxemburg-Platz zum ersten Mal in Deutschland Theo Who Lived, den Dokumentarfilm über Theo Padnos Entführung.