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Wirre Welt

Impfgegner, Holocaustleugner und Chemtrailaufdecker gegen die „Lügenpresse“

Auf Facebook rufen Verschwörungstheoretiker zum Medienboykott auf.
Foto: Imago | xcitepress​

„Die Medien" sind spätestens seit „Lügenpresse"-Pegida zum Lieblingsfeindbild einer bestimmten Art Mensch geworden. Dieser Mensch findet zum Beispiel, dass über sein Lieblingsthema (sagen wir mal die Impflüge) nicht berichtet wird. Oder aber, dass bestimmte Themen in den Medien verschwiegen werden (Chemtrails). Bei andern Themen findet er, dass ein zu großes Gewicht darauf gelegt wird und/oder falsch darüber berichtet wird (der Holocaust). In den guten alten Zeiten, als Facebook noch nicht mehr als ein Glitzern in den Augen eines jungen Mark Zuckerberg war und Leserkommentare noch Leserbriefe, blieben dieser Mensch, seine Gesinnungsgenossen und deren Meinungen ziemlich unter sich. Mittlerweile ist das anders und jeder und jede fühlt sich bemüßigt, ihre oder seine Meinung unter jeden Artikel zu posten, der in diesem Internet veröffentlicht wird.

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Aber jetzt wird alles anders. Es findet nämlich ein Medienboykott statt, natürlich per Facebook-Veranstaltung. Der Account „Kundgebungen" koordiniert seit dem 21. Dezember und bis zum 31. März den Widerstand und schreibt unter anderem: „Wir boykottieren alle Printmedien, indem wir das Abo kündigen und diese Zeitungen nicht mehr lesen. (…) Bitte denkt daran, wärend des Medien-Boykott, keine Onlinezeitungen der System- und Hetzpresse zu konsumieren. Kauf von Zeitungen am Kiosk unterlassen. Teilen von Zeitungsberichten aus der Lügenpresse bei Facebook und Twitter unterlassen. Und das wichtigste, der Lügenpresse keine Interviews geben." (sic, aber das konnte man sich wohl schon denken) Zur Zeit gibt es 254 Boykottteilnehmer.

Jetzt könnte man darüber sprechen, wie sinnig es ist, auch noch die letzten Nachrichten zu ignorieren, wenn man ohnehin schon die meisten Informationen von der YouTube-Universität bekommt oder sich in dubiosen Facebook-Gruppen rumtreibt. Oder man könnte auch über „Kundgebungen" reden, einen Account, der aus der Szene rund um Pegida, den Montagsmahnwachen und Reichsbürgern kommt und der schon mehrmals einen Sturm auf den deutschen Reichstag ankündigte.

Aber viel interessanter ist doch eigentlich die Dynamik, die bei dieser ganzen Sache entsteht. Menschen, die ohnehin schon glauben, dass die NWO alle Fäden in der Hand hält, Flüchtlinge eine Massenvernichtungswaffe gegen das „Deutsche Volk" sind und Angela Merkel eine Reptiloiden-Marionette ist, wollen jetzt endgültig unter sich bleiben.

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Leider gibt es relativ wenige Informationen auf der Seite der eigentlichen Veranstaltung. Aber (wie konnte es auch anders sein) es gibt es noch andere Facebook-Seiten, die sich ebenfalls einem Medienboykott verschrieben haben und die einen Eindruck vermitteln, wie die Welt der selbsternannten Medienkritiker eigentlich so aussieht.

Zum Beispiel ist da „Medien Boykott", eine Seite mit immerhin 10.800 Likes, die ein Video präsentiert, in dem die ehemalige deutsche Tagesschausprecherin, heute Verschwörungstheoretikerin Eva Hermann in den Nachrichten des Kopp-Verlages eine Nachricht über einen angeblichen Vertrauensverlust gegenüber „den Medien" verliest, der auf einer Schweizer Website gemeldet wurde. Dass der Kontakt zur Realität nur noch eher periphär ist, zeigen auch die Kommentare der Fans.

Dann gibt es Bilder, die quellenfrei Manipulationen durch Medien beweisen sollen, aber nur unleserliche Schriftzüge zeigen. Immer wieder wird vor einem kommenden Krieg mit Russland gewarnt, der aus dem ein oder anderen Grund offenbar täglich ausbrechen kann.

Und natürlich dürfen aus dem Zusammenhang gerissene Meldungen nicht fehlen. Sicherheitslücken in Windows sind der Beweis dafür, dass Microsoft Teil der CIA ist, nachdenkliche Sprüche mit Bildern werden geteilt, die den Gläubigen einbläuen, dass alle anderen da draußen noch schlafen und man selbst der aufgeweckte, abenteuerlustige Facebook-Infokrieger ist, von dem man immer geträumt hat.

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Man wäre nicht auf einer Verschwörungsseite, wenn es nicht ziemlich schnell ganz schön unangenehm werden würde. Da gibt es zum Beispiel einen geteilten Post einer österreichischen Anti-TTIP-Seite, in dem die heutige Situation (welche jetzt genau, kann sich jeder selbst ausdenken) mit Deutschland 1933 verglichen wird. Abgesehen davon, dass TTIP in seiner Drastik vermutlich eher nicht mit dem Holocaust vergleichbar ist, geht es natürlich auch noch weiter, und man findet heraus, dass „wir" uns heute wehren müssen, weil es das Internet gibt und wir im Nachhinein nicht sagen könnten, dass „wir nichts gewusst" hätten. Im gleichen Atemzug wird „dem Volk" quasi eine Generalamnestie ausgestellt:

„Wie war das nach Weltkrieg II, als die neueren Generationen empört die Frage stellten: 'Wie konntet Ihr das nur zulassen?' Nun, die Generationen, die das "zugelassen haben", waren ganz sicher nicht so gut informiert, wie wir das heute sind oder sein könnten. Wenn die Alten hilflos stammelten: 'Das haben wir nicht gewusst' ist das glaubwürdiger, als das heutige Gewusel so vieler Deutscher, deren Kenntnisse der Situationen (ich wähle bewusst den Plural) eigentlich ausschließlich aus der Presselandschaft stammen, einer Presselandschaft, die sich aus meiner Sicht nicht von der vor 1933 unterscheidet. Und unsere Ahnen hatten kein WWW, keine Handys, keine PCs, keine Autos, ja die meisten hatten nicht einmal Telefon. Ihre Möglichkeiten, zu kommunizieren, waren auf Stammtische und Treffen mit Freunden beschränkt und Gespräche drehten sich dabei nur um Politik, wenn es die Arbeit und die Renten betraf und kritische Presse gab es nach 1933 nicht mehr."

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Immerhin haben wir gelernt: Mit Handy wäre der Holocaust offensichtlich nicht passiert.

Sowieso der Holocaust. Da belehrt „Medien Boykott" selbstverständlich auch. Ein Facebook-User verlinkt einen Artikel auf einer rechtsradikalen Website, der belegen soll, dass der Holocaust nicht stattgefunden hat. Dieser Post stört offensichtlich niemanden. Weder wurde er von den Administratoren gelöscht, noch irgendwie kommentiert.

Aber die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt. Vielleicht führt der Medienboykott zu einem Biotop für Impfgegner, „Asylkritiker", Holocaustleugner und alle anderen da draußen, den sie nicht mehr verlassen und in dem sie sich gegenseitig Links zuschicken, die sonst ohnehin niemanden interessieren.

Stefan ist auf Twitter Pro-Lügenpresse.


Titelfoto: Imago | xcitepress