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Reisen

In Erinnerung an das Le Carillon – ein Pariser Lokal, das zum Ziel des IS wurde

Einer der Schauplätze der schrecklichen Terroranschläge von Paris war jahrelang ein fester Bestandteil meiner wöchentlichen Freitagabend-Planung.

Bis vergangenen Freitag habe ich nie ein Foto von der Pariser Bar Le Carillon gesehen.

Ich habe jedoch schon unzählige Male davor gestanden und dabei geraucht, geredet und gelacht. Meistens habe ich Letzteres gemacht. Ich saß schon draußen auf der brechend vollen Terrasse und auch jeder Stuhl, jeder Tisch, jede Couch und jedes Fensterbrett des Lokals wurden schon einmal von mir in Beschlag genommen. Ich habe mich sogar schon auf die Klobrille gesetzt—aber nur, wenn ich zu betrunken war, um darüber zu hocken.

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Als ich das erste Mal im Carillon war, wollte ich mir einfach nur die Kante geben. Mein damaliger Freund musste beruflich nach Angola und ich war sauer auf mich selbst, weil ich mich von ihm so allein gelassen fühlte. Obwohl mir am Telefon eine Wegbeschreibung durchgegeben wurde, hat es doch eine ganze Weile gedauert, bis ich schließlich in der Bar landete. Aus irgendeinem Grund ging ich auch davon aus, dass das Ganze „Le Carry On" (nach den britischen Komödien) heißt, und als ich das dem Taxifahrer so buchstabierte, meinte er korrekterweise, dass es ein solches Lokal nicht geben würde. Allerdings fragte er mich auch, ob ich nicht vielleicht das Carillon meinte.

Es war Liebe auf den ersten Blick, denn ich konnte direkt zur Bar gehen und mir ein Getränk bestellen—was im geschäftigen zehnten Pariser Arrondissement Freitagnacht einem Wunder gleicht. Das Bier war ein wenig wässerig, das Glas nur zu drei Vierteln gefüllt (was in Paris aber nicht ungewöhnlich ist), der Wein günstig und die Mojitos immer anders. Das Carillon wurde schnell zu meiner Stammbar und ich konnte auch einige Freunde und Kollegen, die genauso gerne mal einen über den Durst trinken, dafür begeistern.

Es war einfach, sich im Carillon sofort heimisch zu fühlen. Das Lokal war vollgestopft mit Möbeln: Holz- und Metallstühle, harte Sofas und Diwans sowie verschieden hohe Tische in allen möglichen Größen und Farben. In der Ecke stand ein Klavier, ein riesiger Stapel an Schallplatten war zu sehen und die schiefen Bücherregale enthielten keine Bücher. Die Wände waren alle unterschiedlich gestrichen—wenn überhaupt. Eine gefleckte Katze schlief auf dem Klavier oder (falls wenig los war) in einem ganz bestimmten Sessel. Diese Katze wollte nie gestreichelt werden, aber manchmal schlich sie sich auch nach draußen und setzte sich gerade so weit genug von den Rauchern weg, dass es ihr nicht zu viel wurde.

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Die Besitzer (zwei algerische Brüder und ein Freund der Familie) konnten unhöflich, bezaubernd und locker sein—und das alles am gleichen Abend. Oftmals zwangen sie uns, Karamell-Wodka-Shots zu trinken, die wie Süßstoff rochen und nach Terpentin schmeckten. Wenn wir lange genug blieben und genügend Komplimente über uns ergehen ließen, kam es auch schon mal vor, dass die Bar extra für uns geschlossen wurde und wir noch mehr Karamell-Wodka-Shots ausgeschenkt bekamen. Wir lachten, wir tanzten auf der Bar, wir kotzten die Klos voll und wir gingen heulend nach Hause.

Ein älterer Inder kam jeden Abend um die gleiche Uhrzeit ins Carillon und verkaufte Rosen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Lokalen ließ man ihn hier gewähren und seine Waren unters Volk bringen. Er machte einen so netten Eindruck, dass es fast weh tat, wenn man ihm keine Rose abnahm. Da wir allerdings keine Lust darauf hatten, die Blumen mit nach Hause zu schleppen, bezahlten wir sie und ließen ihn sie an ahnungslose Pärchen verschenken und waren immer ganz entzückt, wenn sich die beiden dann anlächelten oder—der Jackpot!—sogar küssten.

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Der Geheimtipp-Status vom Carillon hielt sich jedoch nicht lange und das Lokal wurde zu einem der geschäftigsten Etablissements der Gegend. Man veranstaltete Jazz-Konzerte, die Gäste wurden immer jünger und hipper und gegenüber wurde ein neues Lokal namens Le Petit Cambodge eröffnet. Die Schlange vorm Carillon wurde länger und länger, aber wir sind trotzdem immer wieder dorthin zurückgekehrt.

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Als ich vor zwei Jahren aus Paris wegzog, feierte ich im Carillon eine Abschiedsparty. Zuerst schlugen wir uns im Petit Cambodge den Magen mit Bobun voll und überquerten danach die Straße, um uns unter die Carillon-Meute zu mischen. Wir saßen mal drinnen, mal draußen und zeitweise sogar auf den Toiletten. Wir tanzten ein bisschen, aber nicht auf der Bar. Wir wurden von der Terrasse geschmissen, weil wir zu laut waren. Und nachdem wir nach ein paar Karamell-Wodka-Shots gefragt hatten—„Noch ein allerletztes Mal?"—, folgten wir schließlich dem Ruf der Nacht und zogen von dannen.

Ich sollte das Carillon erst wieder im Fernsehen sehen. Es überraschte mich dabei kaum, dass sich das Lokal mit den Tafeln am Eingang, auf denen Bier für drei Euro und kostenloses WLAN angepriesen wurde, und den ranzigen Markisen, die von jahre- oder gar jahrzehntelangem Schimmelbefall gezeichnet waren, kein Stück verändert hatte. Anstelle von Partygängern sah ich jedoch nur Polizisten und mit weißen Tüchern bedeckte Leichen.

Sofort machte ich mich daran, alle meine Freunde in Paris zu kontaktieren, und stieß dann einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus, als ich endlich Gewissheit hatte, dass es allen gut ging. Die Terror-Anschläge sind eine unglaublich schreckliche Tragödie und sie werfen auch viele Frage auf. So frage ich mich zum Beispiel: „Sie haben es ernsthaft auf das Carillon und das Petit Cambodge abgesehen?"

Es gibt so viele Frage, aber wie bei vielen sinnlosen Gewalttaten gibt es auch hier keine Logik und keinen Aha-Moment.

Antworten habe ich keine gefunden. Es bleibt nur das Unbehagen beim Gedanken daran, wie mein früheres Stammlokal in wenigen schrecklichen Momenten traurige Geschichte schrieb. Das Carillon, das Bataclan, das Petit Cambodge und das Belle Equipe sind jetzt zu Symbolen der Tragödie geworden. Im Anbetracht dessen, was diese Etablissements mal waren, ist dieser Umstand nur noch schwerer zu begreifen.

Das Carillon war nicht nur mein Lieblingslokal, sondern auch das Lieblingslokal vieler Pariser. Und ich hoffe, dass das bald wieder so sein wird.