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Bis so guet

In Olten, im Gleisfeld an der Aare

Wie gut ich schlafe, wenn ich mich nicht vom Nachtbus-Motor vergewaltigen lasse: Suffliteratur im Reich der Gleisfelder und Durchgangsstrassen bereitet Rücken und Niveau auf eine Nacht im Bahnhofshüsli vor.
Alle Fotos von Anna Kaspar

Endlich wiedermal in einem Bahnhofshüsli aufwachen. Ich fühle mich so 16. Mit 16 waren es aber keine Provinz-Hüsli, sondern die SBB-Hallen in den städtischen Notanker: Basel, Bern und (leider auch) Zürich waren die Absturzgarantien für Teenie-Umlandeier. Seit ich in einer Stadt wohne, bin ich kaum mehr an einem Bahnhof aufgewacht. Wieso auch? Das Leben ist schön. Und ich verliere meinen Ipod und meinen Mageninhalt nicht im Monatstakt in Zugabteilen.

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Trotzdem lebt die Mehrheit der Schweizer in Durchgangsstrasse-Orten in feuchten Modellhaus-Träumen. Der Schweizer zieht in lahmen Zügen an seine Arbeitsstelle. Der Schweizer wird vom brummenden Nachtbus-Motor vergewaltigt. In das Zentrum rein. Nachts wieder heim. WSB, RBS, Bremgarten-Dietikon-Bahn, S-Bahn- und Tram-Opfer. Der Schweizer erträgt seine Pendlerexistenz wie eine Kuh. Während Kühe gleichmütig Fladen lassen, kotzt sich das Nachtbus-Opfer seinen Selbsthass spätestens nach der vierzehnten Haltestelle im Agglo-Horror aus.

Das ist gut. Katharsis und so, aber nicht unbedingt nachhaltig. Zersiedlung. Die Schweiz als Kanton Aargau. Gleisfelder in Muttenz. Gleisfelder in Spreitenbach. Gleisfelder in Olten. Espace Mittelland? Agglo-Schlampe! Tut mir leid, ich mag Industrie-Charme, mag Hafenanlagen, auch stillgelegte. Aber täglich zwei Stunden in Zügen zu sitzen, nur um sich ins heckengeschützte Gärtchen in Möchtegern-Randregionen zu flüchten, ist ein Mastbetrieb-Leben.

Mein Nachti-Nachti-Bänkli im Eisenbahndrehkreuz Olten tat mir eigentlich gut. Heimwehprophylaxe quasi: Einen Ort mit grauem Ruf wiedermal sehen. „Früenr heds öppis golte, Olte, hüt wot niemer me holte in Olte!", singt unser liebster Krebssurvivor Endo Anaconda. In Olten im Bahnhofshüsli schlafen. Das ist wie Schwurschwengelkreuzen auf der Rütliwiese. Eine urschweizerische Sache. Statt frisch gevögelten Eichhörnchen hinterlässt man am Oltner Bahnhof nur einen Liegeabdruck, markiert aus Selecta-Automats-Einkäufen, Kippen und Serviettenbeigen als Kissen. Wieso Olten? Wieso Umsteige-Viertelstunde?

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Ein etwas naheliegender Grund für Leute, die ihre Energie und Arbeitskraft ins Tippen von Worten stecken, ist Alkohol. Denn Alkohol bietet meist eine Umwelt, um Kontakt mit Menschen statt mit Derridas schriftlicher Nachgeburt zu haben. Und wenn der Alkohol gratis ist, nimmt man auch Bloody Mary-Konsumzwang in Kauf. Das gehört sich so. Meiner Meinung nach, aber ich habe auch den Tag vor meinem 16. Geburtstag mit einer 1,5l-Flasche Montepulciano für unter drei Franken verbracht.

In Olten, diesem Gleisfeld an der Aare, gibt es einen wunderbaren Ort direkt am Bahnhof: Das Coq D'or. Wo ein im Fluss treibender Bürosessel in Endlosschleife projiziert wird. Wo im Fumoir noch gekifft wird. Wo man noch weiss, dass ein Stammtisch nicht der Schwafeltreff für werdende Steinerschul-Mütter ist.

„[…]wer aufbrechen will, muss Stuhlbeine entwurzeln, Rückenlehnen entasten, am Tischblatt klebende Fingerspitzen entharzen, flacht das Gespräch, vermoost der Stammtisch, Moderfäule nagt an den Sitzbänken und Speisekarten verfärben sich, gelbrote Geldscheine werden hingeblättert, die Serviertochter wirft den Laubbläser an. An den Stammtischen wird Abend für Abend Kulturland bestellt, Hartweizen und Urdinkel säen manche Stammgäste an […]" (Pino Dietiker: Stammtischkanton)

Das Coq D'or hat tippende Trinker zum Vorlesen eingeladen: Pablo Haller, im Flashback von Burroughs letztem Schuss daheim, Pino Dietiker, dessen Texte einen Nostalgie-Flash vorwegnehmen, und mich. „Shot Stories II"—Stories, die mit einer Shot-Runde am Tisch serviert werden. Mit Gin, mit Whiskey und leider auch mit Bloody Mary. Kein Konsumzwang, aber Konsumdrang. Sowas wie Absturz-Hostessen.

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„nur die bleichen oberschenkel zwischen rocksaum & kniesocken blitzten auf. sie ging weiter, als bemerkte sie nichts. er liess die scheibe runter. «willste mitfahren?» er hoffte nach einem enttäuschenden abend doch noch was klarzumachen. sie war wohl zwischen 15 & 25, aber das war immer schwierig bei frauen, fand er, ihr alter zu schätzen."(Pablo Haller: Süsser als Wein)

Wir sind an die Tische gegangen, haben Kantischülerinnen angehimmelt und unsere literarischen Strampelversuche besoffenen Hörern vorgelesen. Wenn ich so viel verwirrt verdunstete Erfahrungen machen dürfte, würde ich jede Woche mein Servietten-Nest im Bahnhofshüsli Olten bauen (So lange mich die 4.48-S-Bahn zurück in mein Basler Stadtgehege fährt.). Aber leider sucht das Coq D'or auf Wemakeit Geld zum Ausbau des Konzi-Kellers, weshalb ich mein restliches Selecta-Münz nicht für Junk Food-Bahnhofsnächte verschleudern darf. Kulturfeinde wie Kulturfreunde sollen sich im Coq D'Or die Whiskey-Fahne mit Bloody Mary verderben. Dank der Infrastruktur des Bahnhofshüsli-Landes Schweiz, ist jeder schnell wieder in seiner urbanen Biobistro-Blase.

Bevor ihr im Bahnhofhäuschen abkackt, haben wir noch ein paar Ideen, wie ihr das am besten macht:

Am Donnerstag geben wir uns harten Goa am harten Flösserplatz, total kaputten Psychedelic Rock in der Kaserne, eine durchgeknallte Goldbarne im La Catrina oder, falls wir plötzlich, aus was für Gründen auch immer, ein weniger ausgeprägtes Bedürfnis nach Gehirntotalschaden bekommen, eine Nacht mit Bild und Ton, Klang der Familie oder Bücher im digitalen Zeitalter.

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Freitags feiern wir 30 fette Jahre Grabenhalle. Oder wir verkaufen unser letztes Hemd, und alles, was wir sonst noch haben: Sale im Upstate. Natürlich [drehen wir fotografisch durch](http:// http://www.gepard14.ch/) im Gepard und wir stranden am Lunch Beat im Tram Basel.

Am Samstag starten wir mit Feuerfondue im umgenutzten Industriecharme der Aktienmühle Basel oder mit Vorplay im Betonparadies des Kreis 5. Bevor wir nach Solothurn fahren, um zu Deephouse zu delirieren im Kofmehl. Werden wir der vielen Heiterkeit überdrüssig, geben wir uns [solidarisch im Schwarzen Engel](http:// http://www.schwarzerengel.ch/veranstaltung) oder tanzen gegen Gewalt im Dynamo. Und zwischendurch quetschen wir noch ein paar ungepresste Indiekastraten rein: 7Dollartaxi in der Schüür.

Am Sonntag gibts Markt & Brunch im Sudhaus oder einen Roadtrip in Roman Signers Koffer im Kino Kunstmuseum.

Montags ergeben wir uns der Versuchung im Kleinthetaer.

Dienstags stürzen wir mit [heiterer Fahne](http:// http://www.dieheiterefahne.ch/de/hauptnavigation/veranstaltungen/kultur-dienstag-10.html) ins Geschehen oder wir frohlocken mit Ezra Furman im Bad Bonn. Ansonsten lieben wir es exotisch: Asiatisches Suppenclubbing in der Longstreet Bar oder karibische Dancemoves mit der K.O.S Crew im Exil.

Am Mittwoch sind wir süchtig. Süchtig nach Zellstoff im Südpol und abhängig von Gewalt im Filmpodium.