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Wir haben einen Kriegsberichterstatter gefragt, wie die ISIS entstanden ist

Der Kriegskorrespondent Anand Gopal spricht über die Risiken seiner Arbeit und erklärt den Unterschied zwischen dem Islamischen Staat und den Taliban.

Foto: Screenshot aus der VICE-Doku Islamischer Staat

Anand Gopal berichtet aus Krisengebieten. Er war jahrelang Korrespondent des Wall Street Journals in Afghanistan. In wenigen Monaten wird er sich in den Irak aufmachen, um Bilanz zu ziehen aus dem Chaos, welches die Region fest im Griff hat.

Am Vorabend der Ermordung des Fotografen James Foley durch den IS hat VICE Anand Gopal getroffen, um mit ihm über die Situation im Irak und die Risiken der Kriegsberichterstattung zu sprechen.

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VICE: Sie haben jahrelang in Afghanistan gelebt und von dort berichtet, zunächst für den Christian Science Monitor, danach für das Wall Street Journal. Der letzte Afghanistan-Korrespondent des Wall Street Journals, Daniel Pearl, wurde von pakistanischen Kämpfern mehr oder minder auf dieselbe Art ermordet wie James Foley vom IS. Ende des Jahres reisen Sie in den Irak, um über die dortigen Unruhen zu berichten. Ihr Beruf ist offensichtlich mit großen, potentiell tödlichen Risiken verbunden. Beschäftigen Sie diese Risiken oder sind Sie bereits abgehärtet?
Anand Gopal: Ich bin nicht abgehärtet. In dem Augenblick, in dem Sie sich an die Risiken gewöhnen, sind Sie am verletzlichsten. Zwar berichte ich aus Kriegsgebieten, aus Gegenden, die allgemein für gefährlich gehalten werden, aber ich ergreife bei meiner Arbeit Vorsichtsmaßnahmen. Ich vergewissere mich, dass ich die Gegend, aus der ich berichte, gut kenne. Ich habe ein Netz von Kontaktpersonen, denen ich vertraue. Ich gehe keine Risiken ein, die andere Korrespondenten vielleicht eingehen würden. Ich glaube, dass besonders Fotojournalisten größere Risiken eingehen als andere Journalisten, weil sie ja mitten im Gefecht sein müssen, um zu fotografieren. Mich interessieren immer eher die Hintergründe der Gefechte, vor allem die politischen Hintergründe. Deshalb renne ich auch nicht zum Schauplatz einer Explosion, was ein Fotograf wahrscheinlich machen würde.
Also ja, natürlich gibt es Risiken. Ich versuche allerdings, diese Risiken durch gute Vorbereitung und durch die Auswahl der Themen so gering wie möglich zu halten.

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Sie haben sowohl mit Fußsoldaten als auch mit Anführern der Taliban Interviews geführt. Auch afghanische Warlords wie Gulbuddin Hekmatyar gehörten zu Ihren Gesprächspartnern. All diese Männer sind gefährlich und in Gewalt- und Kriegshandlungen verstrickt. Aus der westlichen Perspektive scheint der Islamische Staat allerdings zu einer ganz anderen Kategorie zu gehören. Der Blutdurst des IS scheint weit über den der Taliban, der al-Qaida und anderer radikaler, islamistischer Gruppierungen hinauszureichen, die die USA in den vergangenen dreizehn Jahren bekämpft haben. Ist diese Einschätzung Ihrer Meinung nach richtig oder wird der IS überbewertet?
Zum Teil kann man schon sagen, dass sich der Islamische Staat von den Taliban unterscheidet. Auch von der al-Qaida, aber insbesondere von den Taliban. Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen waren die Ziele der Taliban schon immer national orientiert. Sie behaupten, im Namen des afghanischen Volkes gegen einen fremden Besatzer zu kämpfen. Ihr politisches Ziel ist es, Afghanistan wieder zum Status quo von vor dem US-amerikanischen Einmarsch im Jahr 2001 zurückzuführen. Sie konzentrieren sich also vornehmlich auf Afghanistan. Was ich außerdem von Kämpfern der Taliban erfahren habe, ist, dass die Gründe, die sie zum Kämpfen anspornen, auf die jeweiligen Gemeinschaft vor Ort beschränkt sind. Es geht zum Beispiel um das Tal, in dem sie leben. Es kann da einen Warlord geben, der Dörfer plündert oder Menschenrechte verletzt, gegen den sich die Menschen dann auflehnen. Und das ist es dann eigentlich schon, die Männer schließen sich den Taliban an. Diese Bewegung ist also in ihrem Kern lokal, was der IS nicht ist.
Interessant am IS ist, dass er anscheinend die internationale Ordnung insgesamt ablehnt. Das macht ihn meiner Meinung nach einzigartig. Selbst die Taliban haben sich, als sie an der Macht waren, bis zu einem gewissen Grad um internationale Anerkennung bemüht. Ich glaube nicht unbedingt, dass der IS blutrünstiger als das Assad-Regime, die Taliban oder al-Qaida ist. Der Unterschied ist nur der, dass der IS die Gräueltaten, die er begeht, nicht zu verheimlichen versucht. Er postet sie auf YouTube und Twitter. Das liegt daran, dass der IS die internationale Ordnung ablehnt und eine eigene Ordnung aufbauen will, eine islamische Ordnung, die bis in die Zeit des Kalifats zurückreicht. Aus diesem Grund wirkt der Islamische Staat deutlich blutrünstiger als andere Gruppierungen. Allerdings können Gruppierungen, die zurzeit an der Macht sind, wie z.B. das syrische Regime, oder oppositionelle Gruppierungen wie Teile der al-Qaida oder der pakistanischen Taliban genauso blutrünstig sein. Nur dass sie versuchen, die Zahl ihrer Gräueltaten gering zu halten und sie vor der Weltöffentlichkeit zu verbergen. Weil der IS die internationale Ordnung aber ablehnt, verfolgt er eine ganz andere Strategie. Er zeigt die begangenen Gräueltaten ganz offen und aus diesem Grund nehmen wir an, der IS wäre blutrünstiger als jede andere Gruppierung. Dabei ist dies meiner Meinung nach gar nicht der Fall.

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Journalist Anand Gopal. Foto: Brave New Films | Flickr | CC BY 2.0

Die Ermordung von James Foley in der letzten Woche kann entweder als Warnung an die Vereinigten Staaten verstanden werden, sich nicht in die Angelegenheiten des Irak einzumischen, oder auch als Provokation, die darauf abzielt, die USA zum erneuten Einmarsch zu bewegen. Können wir aber mit Sicherheit davon ausgehen, dass sich die Botschaft an den Westen richtete, oder ging es eher darum, unter den Irakern neue Kämpfer zu gewinnen?
Beides ist möglich. Ich denke, angesichts der Erfahrungen, die der Irak in den letzten Jahren mit den USA gemacht hat, erweckt die Ermordung eines US-Amerikaners in Teilen des Irak weit weniger Mitleid als beispielsweise die Ermordung von Irakern oder Syrern, die der IS ebenfalls tagtäglich anordnet. Es ist also gut möglich, dass die Ermordung von James Foley sich zwecks Rekrutierung an ein lokales Publikum richtete. Unbestreitbar ist aber auch, dass sie eine Botschaft an den Westen senden sollte.
Eine meiner Ansicht nach plausible Theorie geht davon aus, dass der IS und seine früheren Formen, die bis in die Jahre 2004, 2005, 2006 zurückreichen, am besten in einem ständigen Kriegszustand funktionieren. Er löst Chaos aus und nutzt dieses Chaos dann, um Kämpfer zu rekrutieren und überhaupt als Gruppe zu funktionieren. Das ist Teil seiner Strategie. Er funktioniert immer noch in dieser Art Kriegszustand. Seine Bemühungen, tatsächlich einen Staat aufzubauen, halten sich selbst an Orten wie Rakkah in Syrien in Grenzen, besonders wenn man ihn mit anderen islamistischen Gruppierungen wie z.B. mit der Hisbollah vergleicht, die sich im Libanon einen Mini-Staat aufgebaut hat.

So ungeheuerlich die Taten des Islamischen Staats auch sein mögen, der Erfolg dieser Gruppierung gründet sich auf die legitime Frustration einer sunnitischen Bevölkerung, die von der Maliki-Regierung diskriminiert und degradiert wurde. Diese Regierung wiederum konnte nur dank dem rücksichtslosen und kurzsichtigen Einmarsch der USA in den Irak und der Besetzung desselben an die Macht kommen. Jetzt fordert der IS eine erneute Intervention in diesem Bürgerkrieg geradezu heraus. Sind die USA imstande, eine konstruktive Rolle in diesem Szenario zu spielen, ob nun militärisch oder anders, oder sollte sich die Obama-Regierung möglichst aus dieser Situation heraushalten?
Ich glaube nicht, dass die USA hier konstruktiv eingreifen können. Wir müssen uns vor Augen halten, dass die Vereinigten Staaten indirekt für das Entstehen des IS verantwortlich sind, weil sie in den Irak einmarschiert sind und dadurch Chaos und letztlich einen Bürgerkrieg ausgelöst haben. Außerdem waren es Verbündete der USA, die die sunnitische Bevölkerung diskriminiert und desillusioniert haben und dadurch den Aufstieg des IS überhaupt erst möglich gemacht haben. Die Bilanz der USA im Irak ist also alles andere als positiv. Deshalb würde ich mich vor jedem weiteren Eingreifen hüten.
Aber selbst unabhängig davon gibt es in dieser Situation kaum Auswege. Es ist ja nicht so, dass eine ausländische Macht, eine Großmacht wie die USA, einfach einmarschieren und den IS besiegen könnte ohne dabei die Art von Schaden anzurichten, der den Aufstieg des IS erst ermöglicht hat. Wenn die Revolution in Syrien sich in eine andere Richtung entwickeln würde - was zurzeit nicht sehr wahrscheinlich ist - wenn die weniger radikalen islamistischen Kräfte und die nicht-islamistischen Kräfte stärker würden, dann könnte sich die Dynamik in der Region ändern. Im Augenblick sieht es aber nicht so aus, als ob man viel tun könne. Ich befürchte, uns stehen noch viele Jahre Blutvergießen bevor.
Was wir momentan sehen, ist die Konsequenz aus 30, 40, teilweise 50 Jahren säkularer Diktatur in der arabischen Welt. In diesen Diktaturen gab es nur sehr schwache linke Kräfte, die eine säkulare Vision von sozialer Gerechtigkeit hätten anbieten können. Diese linken Bewegungen sind deshalb so schwach, weil sich die Diktaturen, der arabischen Nationalismus und Baathismus und all die anderen Ideologien zwar rhetorisch an der politischen Linken orientieren, aber eigentlich sehr repressiv sind. Auf diese Weise werden viele authentische linke Bewegungen ihrer Legitimität beraubt. Was übrig bleibt sind linke Diktaturen oder Islamismus.
Während des arabischen Frühlings wurden die säkularen Diktaturen gestürzt oder es wurden Versuche unternommen, sie zu stürzen. Die einzigen, die das entstandene Vakuum füllen konnten, waren aber die Islamisten. Dies ist die Situation, mit der wir es im Augenblick in der arabischen Welt zu tun haben.
Ich glaube nicht, dass es eine einfache Lösung gibt. Das Problem besteht seit Generationen. Jetzt müssen Formen von Politik und Widerstand wiederentdeckt werden, die nichts mit Islamismus oder Baathismus oder anderen schädlichen Ideologien zu tun haben. Das braucht Zeit. Und wird vermutlich viele Leben kosten.

Portrait des syrischen Diktators Bashar Assad in Damascus. Foto: James Gordon | Flickr | CC BY 2.0

Zum Thema Syrien haben Sie geschrieben, dass es im Westen eine starke Tendenz gebe, die chaotische Wirklichkeit in ein einfaches und eigennütziges Narrativ zu zwängen. Sehen Sie die gleiche Tendenz in den aktuellen Berichten über den Irak?
Mit Sicherheit. Ich glaube, die Menschen lernen nicht dazu. Im Moment wird darüber gestritten, ob der Abzug der US-amerikanischen Truppen in den Jahren 2010/2011 dazu geführt, dass der IS an Macht gewinnen konnte, oder ob es die Tatsache war, dass man die syrischen Rebellen nicht bewaffnet hat. Diese Überlegungen zeugen allerdings von einer selektiven und vereinfachenden Wahrnehmung ohne jegliche Weitsicht. Wir müssen bedenken, dass all dies im Kontext der radikalen Umstürze geschieht, die durch den Einmarsch der USA in den Irak und die Besetzung des Irak überhaupt erst möglich gemacht wurden. Das muss der Ausgangspunkt unserer Überlegungen sein.
Hinzu kommt, dass die Menschen den IS für das personifizierte Böse halten. So wird häufig über den IS geschrieben. Natürlich sind sie barbarisch und verabscheuungswürdig. Aber es bringt uns nicht weit, den IS abzustempeln. Wir müssen uns Gedanken über die sozialen und politischen Wurzeln des IS machen. Welche Bedingungen im Irak, besonders nach 2008/2009, haben Gefühle der Desillusionierung und Entrechtung unter der sunnitischen Bevölkerung hervorgerufen? Welche Bedingungen haben die Wut auf die Maliki-Regierung geschürt, die ein Erstarken von Gruppierungen wie dem IS überhaupt erst möglich gemacht hat?