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Jedem Kinderheim seinen Kindsmissbrauch: Das Folterkloster Fischingen nimmt Stellung

Die Vorwürfe waren zahlreich und wurden ausnahmslos bestätigt: Schläge mit Holzscheiten, Internierung im Kohlekeller, sexueller Missbrauch—und Zwangsmedikation. Nächstenhiebe statt Nächstenliebe im Kloster Fischingen.

Kindsmisshandlung und -missbrauch beschränken sich nicht auf katholische, nicht auf evangelische, nicht auf staatliche und nicht auf Gspürrschmi-Fühlschmi-Institutionen. Aber was mir Opfer und Historiker im ehemaligen Kinderheim St. Iddazell, Kloster Fischingen, geschildert und bestätigt haben, aktivierte all meine Zölibatspäderasten-Vorurteile. Von 1879 bis 1976 war das Kinderheim samt Sekundarschule in Betrieb.

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Lange Zeit verweigerten die heutigen Verantwortlichen die Anerkennung der entstandenen Schuld. Als sich 2006 eine erste Gruppe von ehemaligen Heimkindern und Angehörigen an Werner Ibig, Geschäftsführer des „Vereins Kloster Fischingen", wandten, klemmte dieser das Anliegen ab: „Für mich ist das keine Schuldfrage. Das Kinderheim hat einen öffentlichen Auftrag erfüllt. Für mich sind die damaligen Kinderheime und Verdingfamilien nicht mehr und nicht weniger als ein Spiegel der damaligen Gesellschaft."

Ibig wurde an diesem Treffen mit Horror-Erfahrungen konfrontiert: „,Dich wirft man in den Ofen!' sagten sie mir, wenn ich ins Bett gemacht hatte. Und man hatte mich wirklich eines Tages geholt. Ich klammerte mich ans Bett, der Heizer stand dabei und die Nonne verordnete, dass man mich dort reinwirft. Ich hatte Todesangst!"

Doch seit 2006 hat der öffentliche Druck zugenommen: Ehemalige Heimkinder erzählten ihre Geschichte den Medien. Die Artikel trugen Titel wie „In den Händen des Sadisten". Die durchaus glaubwürdigen Vorwürfe sind zahlreich: Schläge mit Holzscheiten, Internierung im Kohlekeller, sexueller Missbrauch—und Zwangsmedikation.

Walter Nowak wurde erst missbraucht und dann wegen Schlafmangel und „depressiver Verstimmung" in der psychiatrischen Klinik Münsterlingen behandelt. Auch andere ehemalige Heimkinder berichteten wie sie regelmässig in die „Psyche" Münsterlingen gefahren und dort mit Medikamenten gestopft wurden.

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Anfang 2013 kommunizierte der „Verein Kloster Fischingen" schliesslich, dass er die Anschuldigungen extern untersuchen lassen wolle. Nun, am Montag, 5. Mai 2014, präsentierte die Beratungsstelle für Landesgeschichte ihre Ergebnisse der Presse. Herr Ibig erklärte im Vorfeld allen Opfern, dass sie nicht an die Pressekonferenz zugelassen werden. Dementsprechend gross war die Wut und dementsprechend zahlreich sind Opfer aus Kinderheimen der ganzen Schweiz erschienen. „Nächstenliebe statt Nächstenhiebe!" steht auf einem Transparent.

„Der Medikamentenabfüllung nach Münsterlingen konnte niemand entgehen. Der Bus kam und wir mussten mit. Das war die einzige Klassenfahrt, die wir kannten!" erzählt ein ehemaliger Schüler von Fischingen. Käthi wurde im Kinderheim Männedorf missbraucht: „Immer haben sie uns Schuld eingeredet. Uns, den Opfern! Immer und wegen allem. Kurz nach der Anzeige der Vergewaltigung, als ich 10 war, hat man mich auf dem Amt zusammengestaucht. Und warum? Nur weil ich Frau statt Fräulein gesagt habe."

Poldi, der im Kinderheim Rorschach aufgewachsen ist, hat eine dicke Rolle Gaffa-Tape mitgebracht: „Andere würden uns an die Pressekonferenz lassen, wenn wir uns den Mund zuklebten, hier müssen wir uns den Schritt verbinden. Das ist für Katholiken die Quelle allen Übels."

Der derbe Witz ist kaum verflogen, als mir Poldi erzählt: „Mit sieben, acht habe ich gewusst, was anal ist. Nicht so toll, wenn man es nicht will. Das kleinste Opfer war ein dreijähriges Mädchen. Es erlitt eine Analkonvulsion. Das heisst, dass seine Gedärme nach aussen gestülpt wurden."

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Schliesslich zeigt sich auch Herr Ibig bei der Pforte und bittet zur Verwunderung aller auch die Betroffenen und Solidarischen zur Pressekonferenz herein. Der Weg durch die langen Hallen des Klosters Fischingen ist beklemmend. Das heutige Kongresszentrum und Hotel spart nicht mit katholischem Prunk. Jedes Zimmer trägt einen biblischen Namen. Irgendwo wird ein Bankett vorbereitet. Die Konferenz findet in der Klosterbibliothek statt. Für uns Presseleute gibt es Früchtebrot.

Applaus erntet als einziger der für die Untersuchung verantwortliche Historiker Dr. Thomas Meier. Er stellt klar: Neun von vierzehn Interviewten erlebten direkt oder indirekt sexuellen Missbrauch. Gewalt war ebenso alltäglich wie Arbeitszwang. Die Täter seien Geistliche, Lehrer, Gärtner und auch ein Direktor gewesen. Ein ehemaliger Schüler habe die Heilphase nach einem Sturz aus dem Fenster als schönste Erinnerung an die Zeit im Kinderheim geschildert. Die Redner neben Thomas Meier drücken Bedauern im jeweiligen Berufsjargon aus: Regierungsrat Claudius Graf-Schelling bedauert die damalige Zurückhaltung des Kantons, der „Verein Kloster Fischingen" spendet 250 000 Franken und alle Redner macht das happy.

Persönlich frustriert hat mich Pater Prior Gregor Bazerol von der Benediktinergemeinschaft Fischingen: Der Pater Prior habe oft mit dem angeschuldigten Mitbruder—dem letzten überlebenden Angeschuldigten—gesprochen, der begegne in „psychologisch-therapeutischer Begleitung" seiner Vergangenheit. „Ob unserem Bruder konkretes Verschulden angelastet werden muss,.." könne weder der Pater Prior noch die historische Untersuchung entscheiden. Die Ausführungen des Pater Priors sparten auch nicht an katholischem Schuld-Denken: „Jeden Abend sprechen wir zu Beginn des Nachtgebetes im Rückblick auf den vergangenen Tag das Schuldbekenntnis. (…) Irdische Instanzen können offensichtlich nicht in jedem Fall Recht und Ausgleich schaffen, so auch hier nicht. Ich will sie aber auch nicht auf das Jenseits vertrösten." Darum freute sich auch der Pater Prior über die 250 000 Franken im Diesseits und bat mit innigen—im Skript kursiv gesetzten—Worten um Verzeihung.

Nach der Veranstaltung waren manche Opfer froh über die Anerkennung der Untaten. Viele hoffen jetzt darauf, dass alle anderen Kinderheime der Schweiz ihre Geschichte aufarbeiten. Lisa Hilafu vom Verein „Zwangsadoption-Schweiz" akzeptiert die Entschuldigung aber nicht: „Die Betroffenen nehmen die Entschuldigung nicht an."

Nachdem die Radio- und TV-Stationen mit ihrem Equipment wieder weggefahren sind, besuchen wir mit Walter Nowak den ehemaligen Kohlekeller, in welchem er und andere zur Strafe gesperrt wurden. In die Kellerwände haben viele ihre Initialen geritzt.

Der Weg zum Kohlekeller führt durch die Klosterkirche. Ein Bildersturm brächte hier zigfach 250 000 Franken zusammen—sehr prunkvoll. Auch wenn im Kloster Fischingen alles nach Katholizismus stinkt, sind die aufgedeckten Missbräuche nur die Spitze eines Eisbergs. Erst die umfassende Untersuchung der Geschichte aller katholischen, evangelischen und staatlichen Kinderheime in der Schweiz würde das wahre Ausmass der körperlichen und seelischen Misshandlungen und Missbräuche aufdecken.