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„Unter Kindern gibt es keine Vorurteile“ – Minderjährige Flüchtlinge in Wiener Schulen

Ein Wiener Lehrer erzählt aus dem Alltag mit minderjährigen Flüchtlingen.

Symbolbild von syrischen Kindern beim Lernen: DFID - UK Department for International Development | CC 2.0

Derzeit leben in Wien rund 10.000 Flüchtlinge. 3000 von ihnen sind minderjährig und davon sind wiederum 550 ohne Begleitung nach Österreich geflohen. Und da jedes Kind ab dem vollendeten sechsten Lebensjahr in Österreich das Recht auf Bildung hat, auch wenn die Dauer seines Aufenthaltes im Vorhinein noch nicht abzuschätzen ist, sind seit Schulbeginn in ganz Österreich etwa 5.000 schulpflichtige Kinder dazu gekommen.

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Zwei davon sind Amir und Yasin (Namen von der Redaktion geändert). Amir ist alleine aus Afghanistan geflohen, Yasin ist mit seinem Vater aus Syrien gekommen. Beide sind in Wien untergebracht und ohne jegliche Papiere in Österreich angekommen, weshalb ihr Alter nur geschätzt werden kann. Die beiden besuchen nun eine Wiener Schule und sowohl die Schüler als auch die Lehrenden stoßen täglich an ihre Grenzen. Wir haben mit einem ihrer Lehrer gesprochen, der anonym bleiben möchte.

VICE: Ist es das erste Mal, dass Sie unbegleitete Flüchtlinge unterrichten?
Markus B.: Für mich ist es das erste Mal, dass ich welche in der Klasse hab. Es sind auch die ersten Kinder, die ich unterrichte, die eigentlich erst einmal einen Alphabetisierungskurs bräuchten, da sie null Bildung haben. Das gravierende Problem ist einfach, dass durch die aktuelle Situation alle Kurse, die es für Flüchtlingskinder gibt, heillos überfüllt sind—vor allem die Alphabetisierungskurse, in denen sie von Anfang an alles lernen. Die beiden sind zwar zum Glück zumindest in einem von diesen „Neu in Wien-Kursen" untergebracht, bringen tut es ihnen de facto aber nur wenig, da diese Kurse nicht auf grundlegende Alphabetisierung ausgerichtet sind, so wie die beiden es brauchen würden, sondern gewisse Grundkenntnisse voraussetzen, die die beiden nun mal nicht haben. Das musst du dir mal vorstellen, die kennen nur arabische Schriftzeichen, können aufgrund fehlender Schulbildung weder lesen noch schreiben und sitzen jetzt in einem Kurs, in dem sie mit einer komplett fremden Sprache inklusive neuer Schriftzeichen konfrontiert sind.

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Zeigen die beiden schon Fortschritte?
Das ist das Gute dran. Kinder sind—vor allem dann, wenn sie von einer Sprache permanent umgeben sind—wie Schwämme. Die saugen alles auf und die ersten Brocken Deutsch können sie schon, auch wenn sich vor allem Amir noch sehr schwer tut.

Gibt es in Ihrer Schule noch mehr unbegleitete Flüchtlinge oder nur die beiden?
Es gibt allein heuer schon einige, die noch dazu gekommen sind, da meines Wissens alle unbegleiteten Flüchtlinge aus Traiskirchen nach Wien gekommen sind. Zurzeit sind es wahrscheinlich um die zehn, die bei uns an der Schule sind—teils begleitet, teils unbegleitet.

Haben sich die beiden schon in die Klassengemeinschaft eingefügt?
In der Klasse machen sich die beiden ganz gut. Wir haben in der Schule Wutzler und so Sachen, wo sie sich auch ohne Worte gut in die Gemeinschaft eingliedern können. Trotzdem ist das ohne Sprache alles sehr hart für sie. Und was die beiden in den letzten Jahren durchgemacht haben, das will ich mir nicht einmal vorstellen.

Wie gehen die anderen Schüler mit ihnen um?
Vorurteile unter den Kindern gibt es eigentlich gar keine. Wir haben gleich in den ersten Schulwochen ein klassenübergreifendes Projekt gemacht, die Kinder über die Situation aufgeklärt und versucht, ihnen die Flüchtlingsthematik altersstufengerecht näher zu bringen und begreiflich zu machen. Wir haben sie zum Beispiel ihre Namen in Arabisch schreiben lassen, damit sie sich vorstellen können, wie es den Flüchtlingskindern geht, wenn sie mit einer ganz anderen Sprache konfrontiert sind. Ich glaube, das hat den Kindern schon geholfen, mit der Situation und ihren neuen Mitschülern umgehen zu können.

Sind die anderen Schüler manchmal eifersüchtig, wenn die beiden intensivere Betreuung bekommen?
Eigentlich überhaupt nicht. Da hätt ich noch überhaupt keine Eifersüchteleien gesehen. Im normalen Unterricht sind die beiden ja nicht wirklich präsent, da sie mehr oder weniger nichts verstehen. Und den Schülern ist das ja auch gar nicht bewusst, wie viel Zeit wir in die Flüchtlinge wirklich investieren. Wir sitzen ja stundenlang daheim und suchen selbstständig Unterlagen zusammen, um den neuen Schülern das Lernen zu erleichtern. Das kommunizieren wir aber auch natürlich gezielt nicht, damit sich die anderen Schüler nicht komisch fühlen.

Wird man als Lehrer speziell auf den Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen und eventuelle Schwierigkeiten vorbereitet oder fühlen Sie sich eher allein gelassen?
Leider wird man von offizieller Seite nicht wirklich vorbereitet. Die ersten Schulwochen waren wir völlig autark unterwegs. Es wurden zum Beispiel Lehrer freigestellt und haben mehr Stunden bekommen, um Deutschkurse zu geben—das ging aber alles nur von Eigeninitiative aus. Die bestehende Infrastruktur ist einfach völlig überlastet und ich kann nur von unserer Schule sprechen, aber in unserem Bezirk sind sämtliche externen Hilfen viel zu spät angelaufen und bestehende Überlastungsprobleme sind teilweise nach wie vor nicht gelöst. Aber es konnte einfach niemand die Lage so richtig einschätzen.

Was wäre als Beteiligter Ihr konkreter Vorschlag, wie man die Bildungssituation von minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen in Österreich verbessern könnte?
Vor allem in Wien ist das nicht so einfach. Es fehlen vor allem im Pflichtschulwesen viele Lehrkräfte und man hat einfach viel zu spät begriffen, wie viele zusätzliche Leute gebraucht werden würden. Auch für mich war das alles sehr überraschend. Was es gebraucht hätte, um die Situation für alle Beteiligten von Anfang an zu erleichtern, wären adäquate Deutsch- und Förderkurse—und das von Tag eins an.
Menschen, die nicht explizit dafür ausgebildet sind, haben die Sache jetzt einfach ohne Hilfe geschaukelt und versucht, dass sie da was auf die Beine stellen. Die jungen Flüchtlinge brauchen einfach eine ordentliche Sprachausbildung. Das ist in den ersten Monaten das Entscheidende. Je schneller du mit Leuten kommunizieren kannst, desto besser kannst du dich mit Leuten austauschen und anfreunden.

Verena auf Twitter: @verenabgnr